Entscheidungsstichwort (Thema)
Gerichtliche Nachprüfung eines rechtmäßigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts. Unterhaltspflicht aus sonstigem Grund
Orientierungssatz
1. Kommt die Behörde zu dem Ergebnis, daß das Recht bei Erlaß des Verwaltungsakts richtig angewandt worden ist, und stellt sie dies aufgrund sachlicher Nachprüfung des Verwaltungsakts durch Bescheid fest, so muß auch dieser Verwaltungsakt der gerichtlichen Nachprüfung unterliegen, weil andernfalls die Einhaltung des § 44 Abs 1 SGB 10 durch die Verwaltung nicht kontrolliert werden könnte.
2. Ein Unterhaltsanspruch nach ausländischem Recht ist ein sonstiger Grund iS des § 65 S 1 RKG (= § 1265 S 1 RVO).
Normenkette
SGB 10 § 44 Abs 1 Fassung: 1980-08-18; RKG § 65 S 1; RVO § 1265 S 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 26.11.1981; Aktenzeichen L 2 Kn 72/81) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 19.02.1981; Aktenzeichen S 24 Kn 366/80) |
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Geschiedenen-Witwenrente. Sie ist 1939 geboren und war von 1957 bis 1970 in Gleiwitz mit dem dort am 20. Dezember 1972 verstorbenen Heinrich Josef F. verheiratet. Die Ehe wurde aus Verschulden des F. geschieden; beide Seiten wurden zur Unterhaltsleistung für die Kinder verpflichtet, F. in Höhe von 700 Zloty monatlich für jedes Kind und jährlich einer Tonne Kohle. F. bezog nach den Angaben der Klägerin zur Zeit der Ehescheidung monatlich 4.500,-- Zloty, während sie selbst aus eigener Arbeit 1.300,-- Zloty monatlich verdiente.
Seit dem 15. Mai 1972 ist die Klägerin als Spätaussiedlerin in der Bundesrepublik; sie verdiente hier mit einer Tätigkeit bei der Bundesbahn monatlich 1.200,-- DM. Die Beklagte hat für die bei der Klägerin befindlichen Kinder Ursula und Michael ab 1. Mai 1976 bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres Waisenrente gewährt.
Den Antrag der Klägerin auf Geschiedenen-Witwenrente vom 23. Juli 1977 lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 21. Dezember 1978 ab, weil die Klägerin im Zeitpunkt des Todes des F. gegen diesen weder einen Unterhaltsanspruch nach dem Ehegesetz von 1946 noch aus sonstigen Gründen gehabt habe und F. im letzten Jahr vor seinem Tode auch tatsächlich keinen Unterhalt gezahlt habe. Den Widerspruch wies die Beklagte durch Bescheid vom 23. April 1979 zurück. Gegen den ihr am 8. Mai 1979 zugestellten Bescheid erhob die Klägerin am 11. Juli 1979 Klage. Diese erachtete das Sozialgericht (SG) Dortmund für zurückgenommen, nachdem sich die Beklagte in der mündlichen Verhandlung vom 15. November 1979 verpflichtet hatte, einen auf § 65 Satz 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) eingehenden neuen Bescheid zu erteilen. Durch diesen am 23. Juni 1980 erteilten Bescheid lehnte die Beklagte den Anspruch auf Geschiedenen-Witwenrente erneut ab. Den Widerspruch wies sie durch Bescheid vom 29. September 1980 zurück.
Das Sozialgericht hat den Inhalt des in Polen zur Zeit der Ehescheidung geltenden Unterhaltsrechts festgestellt und die Beklagte am 19. Februar 1981 unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 26. November 1981 das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen. Bei der Klägerin fehle es an einem Unterhaltsanspruch bzw einer Unterhaltsleistung im Sinne von § 65 Satz 1 RKG. Sie habe keinen Unterhaltsanspruch nach dem deutschen Ehegesetz, weil ihre Ehe nach polnischem Recht geschieden worden sei. Eine polnische Unterhaltsverpflichtung sei auch kein sonstiger Grund im Sinne von § 65 Satz 1 RKG. Wenn seine erste Alternative - Unterhalt nach dem Ehegesetz - nicht sinnlos sein solle, könne die zweite Alternative nicht bloße Unterhaltspflichten nach ausländischem Recht meinen, sondern nur insoweit konkretisierte Rechtspositionen meinen, etwa ein ausländisches Unterhaltsurteil, einen Vergleich, ein Anerkenntnis oder einen Unterhaltsvertrag. Endlich habe die Klägerin auch während des letzten Jahres vor dem Tode des F. von diesem keinen Unterhalt erlangt.
Mit der zugelassenen Revision macht die Klägerin geltend, wegen ihrer mit dem Ausreiseantrag verbundenen Einkommensminderung auf die Hälfte habe sie in Polen gegen F. einen Unterhaltsanspruch nach dem dortigen Recht gehabt. F. habe ihr auch sowohl für die Kinder als für sie selbst die für die Übersiedlung erforderlichen Kosten von rund 24.000,-- Zloty in Gestalt eines vorausbezahlten Unterhaltsgeldes für sechs Monate zukommen lassen. Im übrigen verweist die Klägerin auf das Urteil des SG.
Sie beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des LSG Nordrhein-Westfalen vom 26. November 1981 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Dortmund vom 19. Februar 1981 zurückzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit unter Aufhebung des Urteils des LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits an die Vorinstanz begründet.
Verfahrensrechtlich ist davon auszugehen, daß der Bescheid der Beklagten vom 21. Dezember 1978 - bestätigt durch Widerspruchsbescheid vom 23. April 1979 - der Klägerin gegenüber bindend geworden ist, weil sie die Klage nicht binnen Monatsfrist nach Zustellung des Widerspruchsbescheides erhoben hat. Der Bescheid ist ihr am 8. Mai 1979 zugestellt worden; ihre Klage vom 10. Juli 1979 ist am 11. Juli 1979 beim SG eingegangen. Ob die Klägerin die Klage gegen diesen Bescheid zurückgenommen hat, wie das SG offenbar angenommen hat, nachdem sich die Beklagte zur Erteilung eines neuen Bescheides verpflichtet hatte, kann dahinstehen. Die Rücknahme der verspätet erhobenen Klage würde nämlich nichts an der bindenden Wirkung des Bescheides vom 21. Dezember 1978 ändern.
Die Bindung an den Bescheid vom 21. Dezember 1978 hinderte die Beklagte nicht, über den gleichen Anspruch den Bescheid vom 23. Juni 1980 zu erteilen. Nach den im Zeitpunkt des Erlasses dieses Bescheides geltenden Rechtsgrundsätzen war die Verwaltung, wie das BSG wiederholt entschieden hat (BSGE 10, 248; 18, 22 = SozR Nr 35 zu § 77 SGG; SozR 1500 § 141 Nr 2; SozR 3900 § 40 Nr 2), befugt, bei Vorliegen eines bindend gewordenen Verwaltungsakts nach neuer sachlicher Prüfung einen neuen Verwaltungsakt in der Sache zu erlassen, sofern der Betroffene dadurch nicht weiter belastet wurde. Entsprechendes gilt auch für die Zeit ab Inkrafttreten des Zehnten Buches des SGB (SGB 10). Nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, daß bei Erlaß des Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt worden ist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Kommt aber die Behörde zu dem Ergebnis, daß entgegen den Vorstellungen des Adressaten des Verwaltungsakts das Recht bei Erlaß des Verwaltungsakts richtig angewandt worden ist, und stellt sie dies aufgrund sachlicher Nachprüfung des Verwaltungsakts durch Bescheid fest, so muß auch dieser Verwaltungsakt der gerichtlichen Nachprüfung unterliegen, weil andernfalls die Einhaltung des § 44 Abs 1 SGB 10 durch die Verwaltung nicht kontrolliert werden könnte. Die Beklagte durfte mithin ihre Verpflichtung erfüllen, der Klägerin unter Beachtung des § 65 Satz 2 RKG einen neuen Bescheid zu erteilen. Sie durfte ihren Bescheid vom 23. Juni 1980 (und Widerspruchsbescheid vom 29. September 1980) sowohl nach den vor Inkrafttreten des Art 1 § 44 SGB 10 geltenden Rechtsgrundsätzen als auch nach dieser Bestimmung erlassen. Die Entscheidung, ob diese erneute Ablehnung des Hinterbliebenenrentenanspruchs rechtmäßig ist oder nicht, vermag der Senat jedoch mangels der hierzu erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht zu treffen.
Nach § 65 Satz 1 RKG setzt der Hinterbliebenenrentenanspruch einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten vor dem 1. Juli 1977 geschieden ist, voraus, daß ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt entweder nach den Vorschriften des Ehegesetzes oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder daß er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat. Das LSG hat nur Feststellungen zur Unterhaltsleistung des Versicherten im letzten Jahr vor seinem Tode getroffen, weil es der Auffassung war, daß sich der Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen den Versicherten zur Zeit seines Todes nicht nach den Vorschriften des Ehegesetzes richte, und weil es einen Unterhaltsanspruch nach polnischem Recht, der sich nicht zu der konkretisierten Rechtsposition eines Urteils, Vergleichs, Anerkenntnisses oder Unterhaltsvertrages verdichtet hatte, nicht zu den "sonstigen Gründen" im Sinne des § 65 Satz 1 RKG rechnete. In beiden Punkten vermag der Senat dem LSG nicht zuzustimmen.
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß sich der Unterhaltsanspruch aus der früheren Ehe nach dem unwandelbaren Scheidungsstatut richtet, welches sich aus Art 17 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) ergibt. Es hat als Heimatrecht des F. nach Art 17 Abs 1 EGBGB das polnische Recht angesehen. Dem könnte nur zugestimmt werden, wenn F. zur Zeit der Erhebung der Klage polnischer Staatsangehöriger gewesen wäre (Art 17 Abs 1 EGBGB) und die Klägerin nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besessen hätte (Art 17 Abs 3 EGBGB). Darauf hat das Bundessozialgericht (BSG) in dem vom LSG zitierten Urteil vom 31. Januar 1979 (SozR 2200 § 1265 Nr 38 S 119) abgestellt. Es bedurfte daher der Klärung, welche Staatsangehörigkeit F. zur Zeit der Erhebung der Scheidungsklage und welche Staatsangehörigkeit die Klägerin im Zeitpunkt der Ehescheidung besaß. Dies muß - ausgehend von §§ 4 und 25 des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes sowie unter Beachtung des Art 116 des Grundgesetzes - unter Würdigung der bei F. und der Klägerin insoweit rechtserheblichen Tatsachen, die der Feststellung bedürfen, geklärt werden.
Noch vor Anwendung des sich aus der Staatsangehörigkeit ergebenden Scheidungsstatuts in der Frage des Unterhaltsanspruchs der Klägerin ist die für den hier geltend gemachten Anspruch auf Hinterbliebenenrente wesentliche Frage zu klären, ob die Anerkennung des polnischen Ehescheidungsurteils nach Art 7 § 1 Abs 1 des Familienrechtsänderungsgesetzes vom 11. August 1981 (BGBl I, 1221) zur Wirksamkeit des polnischen Urteils erforderlich und durchgeführt ist. Dies ist nur dann entbehrlich, wenn sich ergeben sollte, daß F. und die Klägerin zur Zeit der Ehescheidung polnische Staatsangehörige waren. Sollte das nicht zutreffen und es an einer notwendigen Anerkennung fehlen, käme der Anspruch aus § 64 RKG statt des bislang verfolgten Anspruchs aus § 65 RKG in Betracht.
Für den Fall, daß sich als Scheidungsstatut polnisches Recht ergeben sollte, wird das LSG davon ausgehen müssen, daß auch ein Unterhaltsanspruch nach ausländischem Recht ein sonstiger Grund im Sinne des § 65 Satz 1 RKG ist. Die Hervorhebung des Ehegesetzes als Grundlage einer Unterhaltspflicht in § 65 Satz 1 RKG ist allerdings, wie das LSG ausgeführt hat, unnötig, wenn auch die nicht auf diesem Gesetz beruhenden Unterhaltspflichten rechtserheblich sind. Die zu diesem Schluß verleitende Gesetzesfassung ist indes nicht mit dem Ziel geschaffen worden, Unterhaltsansprüche nach ausländischem Recht als Grundlage einer Hinterbliebenenrente auszuschließen. Wie der Große Senat des BSG in seinem Beschluß vom 27. Juni 1963 ausgeführt hat (BSGE 20, 1, 3 = SozR Nr 17 zu § 1256 RVO), führten vor der Neuregelung der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten nur Ansprüche nach den Vorschriften des Ehegesetzes zur Hinterbliebenenrente an die frühere Ehefrau. Der Regierungsentwurf erweiterte die Regelung dadurch, daß er auch die tatsächlichen Unterhaltsleistungen im letzten Jahre vor dem Tode des Versicherten als Voraussetzung für die Hinterbliebenenrente vorsah. Dem Gedanken des Unterhaltsersatzes sollte damit verstärkt Geltung verschafft werden. Diesen Entwurf erweiterte der sozialpolitische Ausschuß des deutschen Bundestages dahin, daß auch dann die Unterhaltsersatzfunktion der Geschiedenen-Witwenrente eingreifen sollte, wenn der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt aus sonstigen Gründen zu leisten hatte. Hierzu hat der Große Senat ausdrücklich betont, daß die drei Voraussetzungen der Geschiedenen-Witwenrente gleichwertig nebeneinander stehen und, daß der Tatbestand des "sonstigen Grundes" keine Begrenzung auf bestimmte Rechtspositionen enthält. Dies hat der 11. Senat des BSG im Urteil vom 31. Januar 1979 (aaO, S 118) ausdrücklich mit dem Hinweis betont, es sei nicht einzusehen, warum beim Wegfall eines auf fremdem Recht beruhenden Unterhaltsanspruchs die geschiedene Frau vom Unterhaltsersatz ausgeschlossen sein sollte, zumal die Rechtspositionen nach ausländischem Recht die gleichen sein könnten wie nach deutschem Recht. Dem ist hinzuzufügen, daß der Gleichstellungsgedanke des Fremdrentengesetzes (FRG) wesentliche Einbußen erleiden würde, wenn die sich aus ausländischem materiellen Recht ergebenden Unterhaltsansprüche im Rahmen des § 65 Satz 1 FRG unberücksichtigt bleiben würden.
Entgegen der Auffassung des LSG kommt es daher ggf auf die Feststellung an, ob F. der Klägerin zur Zeit seines Todes Unterhalt nach polnischem Recht zu leisten hatte. Das LSG hätte dann festzustellen, ob F. nach den Verhältnissen, die sich als letzter wirtschaftlicher Dauerzustand vor seinem Tode ergeben, der Klägerin als seiner früheren Ehefrau Unterhalt zu leisten hatte. Der Monatsverdienst des F. im Zeitpunkt der Scheidung könnte dafür nur dann maßgeblich sein, wenn er sich bis zum Tode fortgesetzt hätte. Entsprechende Feststellungen wären dann auch zu den Voraussetzungen des § 65 Satz 2 RKG notwendig.
Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen