Leitsatz (amtlich)
Wer die versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit erst nach der Vollendung des 65. Lebensjahres aufgenommen hat, nimmt an der Vergünstigung der Wartezeiterfüllung nach AnVNG Art 2 § 50 Abs 2 nicht teil. Die hier genannte "Zeit von der Aufnahme der versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres" kann nicht über den letztgenannten Zeitpunkt hinaus verlängert werden.
Normenkette
AnVNG Art. 2 § 50 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 25 Abs. 4 Fassung: 1957-02-23; AnVNG Art. 2 § 50 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 25 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 52 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1248 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, Abs. 4 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. Juli 1962 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Vergünstigung der Wartezeiterfüllung in Art. 2 § 50 Abs. 2 Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) auch einem Versicherten zugute kommen kann, der die versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit erst nach der Vollendung des 65. Lebensjahres aufgenommen hat.
Der im Dezember 1889 geborene Kläger war seit 1920 selbständiger Rechtsanwalt im Gebiet der heutigen sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Seit Januar 1953 war er dort versicherungspflichtig. Im September 1954 floh er in die Bundesrepublik. Hier bezog er zunächst Arbeitslosenunterstützung. Im August 1955 nahm er eine versicherungspflichtige Beschäftigung auf. Seit dem 1. Dezember 1958 bezieht er von der Beklagten eine Rente wegen Berufsunfähigkeit. Unabhängig davon beantragte er im Dezember 1958 das Altersruhegeld aus der Rentenversicherung der Angestellten; in Ermangelung hierfür ausreichender Versicherungszeiten (§ 25 Abs. 4 Angestelltenversicherungsgesetz - AVG -) berief er sich auf Art. 2 § 50 Abs. 2 AnVNG, wonach bei ihm die Wartezeit als erfüllt gelte; als Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles bestimme er den 1. April 1957. Demzufolge beantragte er das Altersruhegeld von diesem Tage an. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 27. Juli 1959 den Antrag ab. Die Klage und Berufung des Klägers blieben ohne Erfolg.
Das Landessozialgericht (LSG) ist der Meinung, daß der Kläger zwar zu dem durch Art. 2 § 50 AnVNG begünstigten Personenkreis gehöre; Abs. 2 dieser Bestimmung sei zu seinen Gunsten aber nicht anwendbar, weil er in der Bundesrepublik eine versicherungspflichtige Beschäftigung erst nach der Vollendung des 65. Lebensjahres aufgenommen habe; es fehle somit an einem Zeitraum, der voll mit Versicherungs- und Ausfallzeiten hätte belegt sein können. Im übrigen sei die Vollendung des 65. Lebensjahres ein Ereignis, das objektiv feststehe und nicht vom Versicherten oder vom Versicherungsträger willkürlich bestimmt werden könne. Die Meinung des Klägers, auch schon seine seit 1953 versicherungspflichtige Tätigkeit in der SBZ sei als versicherungspflichtige Tätigkeit im Sinne des Art. 2 § 50 Abs. 2 AnVNG anzusehen, sei wegen des engen Zusammenhangs von Abs. 1 und Abs. 2 dieser Bestimmung nicht haltbar. Das LSG ließ die Revision zu (Urteil vom 10. Juli 1962).
Der Kläger legte Revision ein mit dem Antrag,
die Urteile des LSG und des Sozialgerichts (SG) aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung von Altersrente vom 1. August 1957 an zu verurteilen.
Er rügte die Verletzung des Art. 2 § 50 Abs. 2 AnVNG. Bei der Vollendung des 65. Lebensjahres handele es sich nicht allein um einen sozialversicherungsrechtlich objektiv feststehenden Zeitpunkt; vielmehr sei der Eintritt des Versicherungsfalles beim Altersruhegeld auch vom Willen des Versicherten abhängig. Wenn er eine versicherungspflichtige Beschäftigung in der Bundesrepublik erst einige Zeit nach seiner Flucht aufgenommen habe, so beruhe dies auf dem Umstand, daß er eine entsprechende Beschäftigung trotz aller Bemühungen zu einem früheren Zeitpunkt nicht habe finden können; Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit dürften einem Versicherten aber nicht angelastet werden.
Die Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2, 153 Abs. 1, 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Der Kläger kann die Vergünstigung des Art. 2 § 50 Abs. 2 AnVNG nicht beanspruchen.
Der Kläger gehört zwar zu dem durch Art. 2 § 50 AnVNG begünstigten Personenkreis. Es steht nicht entgegen, daß er in der SBZ zuletzt als Selbständiger pflichtversichert war (vgl. BSG 15, 203). Er erfüllt aber - wie bereits das LSG zutreffend ausgeführt hat - nicht die Voraussetzungen für die in Art. 2 § 50 Abs. 2 AnVNG geregelte Wartezeitfiktion, weil er die versicherungspflichtige Beschäftigung erst in einem Lebensalter aufgenommen hat, in dem er von der Teilnahme an der Vergünstigung nach dem Gesetz bereits ausgeschlossen war.
Art. 2 § 50 Abs. 2 AnVNG steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem vorausgehenden Abs. 1 dieser Bestimmung. Neben den dort geregelten Vergünstigungen sieht Abs. 2 die weitere der Wartezeiterfüllung für das Altersruhegeld vor, die von drei zusätzlichen Voraussetzungen abhängig ist:
a) der Berechtigte muß bei Aufnahme der versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit bereits 50 Jahre alt gewesen sein;
b) die Zeit vom Beginn dieser Beschäftigung oder Tätigkeit bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres muß voll mit Versicherungs- und Ausfallzeiten belegt sein;
c) an der Wartezeit des § 25 Abs. 4 AVG muß noch mindestens ein Monat fehlen.
Die Aufnahme der versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit durch den Kläger erfolgte zwar nach Vollendung des 50. Lebensjahres. Dabei ist, wie das LSG mit Recht ausgeführt hat, nicht schon die Tätigkeit des Klägers in der SBZ, bei deren Ausübung er seit 1953 versicherungspflichtig war, als solche im Sinne des Art. 2 § 50 Abs. 2 AnVNG anzusehen. Abs. 2 dieser Vorschrift setzt einen Versicherten im Sinne des Abs. 1 voraus. Das bedeutet, daß dieser nicht nur eine Person im Sinne der §§ 1 bis 4 des Bundesvertriebenengesetzes oder des § 1 des Bundesevakuiertengesetzes ist, sondern daß er auch die übrigen Voraussetzungen des in Abs. 1 genannten Personenkreises erfüllt, also vor der Vertreibung, Flucht oder Evakuierung als Selbständiger erwerbstätig war und binnen zwei (jetzt drei) Jahren nach diesen Ereignissen eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen hat oder aufnimmt. Hiernach kommt auch für die Anwendung von § 50 Abs. 2 nur eine Beschäftigung oder Tätigkeit in Betracht, die erst nach der Flucht usw. im Geltungsbereich des Gesetzes aufgenommen worden ist. Das ist die Beschäftigung des Klägers von August 1955 an.
Das Gesetz verlangt für die Wartezeitfiktion keine bestimmte Dauer der versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit. Es genügt, wenn die in Betracht kommende Zeit z. B. nur einen Monat umfaßt. In jedem Fall aber muß die maßgebliche Beschäftigung oder Tätigkeit vor der Vollendung des 65. Lebensjahres aufgenommen worden sein, weil nur dann die Zeit "bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres" voll mit Versicherungs- und Ausfallzeiten belegt sein kann. Diese Voraussetzung ist beim Kläger nicht erfüllt; er hatte das 65. Lebensjahr im August 1955 (Aufnahme der versicherungspflichtigen Beschäftigung) bereits überschritten.
Der Meinung, bei dem in Art. 2 § 50 Abs. 2 AnVNG verwendeten Begriff "Vollendung des 65. Lebensjahres" handele es sich nicht um ein feststehendes, sondern um ein von der Bestimmung durch den Versicherten abhängiges und deshalb auf einen späteren Zeitpunkt verlegbares Ereignis, kann nicht gefolgt werden. Zwar stimmt der hier genannte Zeitpunkt mit demjenigen überein, der für die Gewährung des Altersruhegeldes nach § 25 Abs. 1 AVG maßgebend ist; auch trifft es (seit 1. Juli 1965) zu, daß der Versicherte auf die Auswirkungen dieses Versicherungsfalles nach seinem Willen Einfluß nehmen und bestimmen kann, daß ein späterer Zeitpunkt für die Erfüllung der Voraussetzungen maßgebend sein soll (vgl. Rentenversicherungsänderungsgesetz - RVÄndG - vom 9. Juni 1965, BGBl I 476, Art. 1 § 2 Nr. 10 b). Bei dem in Art. 2 § 50 Abs. 2 AnVNG gebrauchten Begriff "Vollendung des 65. Lebensjahres" handelt es sich aber - ebenso wie bei der in demselben Satz kurz zuvor erwähnten "Vollendung des 50. Lebensjahres"-um einen festen Zeitbegriff, der nicht anders aufgefaßt werden kann als ein im Leben des Versicherten von vornherein objektiv feststehender Zeitpunkt; er kann deshalb weder vom Versicherten noch vom Versicherungsträger willkürlich hinausgeschoben werden. Der Rechtsauffassung des Klägers könnte allenfalls dann beigetreten werden, wenn in Art. 2 § 50 Abs. 2 AnVNG nicht von "Vollendung des 65. Lebensjahres" sondern - wie z. B. in § 10 Abs. 1 Satz 2 AVG - vom "Erreichen der Altersgrenze für die Gewährung des Altersruhegeldes" die Rede wäre. Eine solche Fassung ist aber in Art. 2 § 50 Abs. 2 AnVNG nicht gewählt worden. Daher ist der Begriff "Vollendung des 65. Lebensjahres" ebenso wie der gleichlautende Begriff in Abs. 1 (in seiner ursprünglichen wie auch in der durch das RVÄndG geänderten Fassung - vgl. Art. 2 § 2 Nr. 10 RVÄndG) als ein im Leben des Versicherten objektiv feststehender Zeitpunkt anzusehen, auf den der Versicherte auch nach neuem Recht keinen Einfluß nehmen kann. Es wäre auch kein sinnvoller Grund einzusehen, die Wohltat der Wartezeitfiktion einem Versicherten zuteil werden zu lassen, der bei der Aufnahme der versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit das 65. Lebensjahr bereits vollendet hat und der das Ende des maßgeblichen Zeitraums alsdann jederzeit willkürlich bestimmen könnte.
Zu beachten ist auch, daß es sich bei Art. 2 § 50 AnVNG nicht eigentlich um eine versicherungstechnische Vorschrift handelt. Sie erklärt sich vielmehr aus der Zweckbestimmung, die durch Vertreibung, Flucht oder Evakuierung betroffenen Personen aus ähnlichen Erwägungen, die für den Lastenausgleich bestimmend waren, auf besondere Weise zu entschädigen und ihnen den vollen Versicherungsschutz zu verschaffen. Wegen dieses andersartigen Ausgleichs für den genannten Personenkreis widerspricht es auch nicht etwa dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes (Art. 3), wenn die durch das RVÄndG geschaffene Einwirkungsmöglichkeit des Versicherten auf die Voraussetzungen für das Altersruhegeld nach § 25 AVG sowie auf versicherungsrechtlich ähnliche Tatbestände wie die Umwandlung von Renten nach § 31 Abs. 2 AVG und die Erhöhung umgestellter Altrenten nach Art. 2 § 37 Abs. 3 AnVNG (vgl. Art. 1 § 2 Nr. 15 und Art. 2 § 2 Nr. 8 a RVÄndG) beschränkt ist und sich nicht auch auf das Sonderrecht nach Art. 2 § 50 Abs. 2 AnVNG erstreckt.
Die Mitteilung des Klägers an die Beklagte, daß er als Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles den 1. April 1957 bestimme, kann daher nicht bewirken, daß für ihn eine andere als die gesetzlich bestimmte Zeit (als mit Versicherungs- und Ausfallzeiten belegte Zeit) in Betracht gezogen wird. Weil der Kläger die versicherungspflichtige Beschäftigung erst nach Vollendung seines 65. Lebensjahres aufgenommen hat, fehlt es bei ihm an einer derartigen Zeit. Deshalb scheitert die Anwendung des Art. 2 § 50 Abs. 2 AnVNG. Unter diesen Umständen kann dahinstehen, ob sein Anspruch auch deshalb unbegründet wäre, weil er das 65. Lebensjahr schon vor dem 1. Januar 1957 (Inkrafttreten des AnVNG) vollendet hat (vgl. Art. 2 § 6 AnVNG sowie Jantz-Zweng, "Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten", Anm. III letzter Absatz zu Art. 2 § 52 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz).
Es ist zwar verständlich, wenn der Kläger hervorhebt, die verspätete Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung sei allein darauf zurückzuführen, daß er sie nicht früher habe finden können. Art. 2 § 50 Abs. 2 AnVNG läßt aber keine Möglichkeit zur Anpassung an solche besonderen Verhältnisse erkennen. Deshalb kann auch die Zeit der Arbeitslosigkeit des Klägers, die sich an seine Flucht in die Bundesrepublik zunächst anschloß, nicht berücksichtigt werden. Ausfallzeiten im Sinne des § 36 AVG genügen nur dann den Erfordernissen des Art. 2 § 50 Abs. 2 AnVNG, wenn sie sich an eine binnen zwei (jetzt drei) Jahren nach der Vertreibung, Flucht usw. aufgenommene versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit anschließen.
Die Revision des Klägers ist somit unbegründet und muß nach § 170 Abs. 1 SGG zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen