Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit. Erwerbsunfähigkeit

 

Orientierungssatz

1. Zu den Beweisfragen, Beweismöglichkeiten und Beweismethoden bei Ermittlung und Konkretisierung des Verhältnisses der Anzahl vorhandener Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen (75:100).

2. Es ist nicht allgemein zulässig, die Ermittlungen über das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsplätzen auf Anfragen an die Arbeitsverwaltung zu beschränken (vgl BSG 1969-12-11 GS 4/69 = BSGE 30, 167; BSG 1969-12-11 GS 2/68 = BSGE 30, 192; BSG 1970-07-23 4 RJ 497/67 = SozR Nr 24 zu § 1247 RVO).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 25.06.1965)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Juni 1965 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Es geht um den Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit.

Der Kläger ist 1920 geboren. Er war als Koch und als Arbeiter beschäftigt. Infolge einer Kriegsverletzung ist die Muskulatur seines rechten Beines verschmächtigt. Er muß am rechten Unterschenkel einen Hülsenapparat tragen. Wegen dieser Leiden wurde er nur noch für fähig erachtet, täglich bis zu 6 Stunden - bei günstigen Arbeitswegverhältnissen höchstens bis zu 7 Stunden - leichtere Arbeiten in wechselnder Körperhaltung, vorwiegend im Sitzen, unterbrochen durch Stehen und Gehen zu verrichten.

Die Beklagte lehnte die Rentengewährung ab. Das Sozialgericht (SG) verurteilte sie zur Rentengewährung. Ihre Berufung ist ohne Erfolg geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat ausgeführt, daß Arbeitsplätze, die für den Kläger in Betracht kämen, nur in so geringer Zahl vorhanden seien, daß sie praktisch nicht ins Gewicht fielen. Dabei hat sich das Berufungsgericht auf Auskünfte der Arbeitsverwaltung und auf statistische Ergebnisse des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg verlassen.

Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie beantragt, die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Revision ist begründet.

Für die Beurteilung, ob ein Versicherter berufsunfähig (§ 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) oder erwerbsunfähig (§ 1247 Abs. 2 RVO) ist, ist es - neben einer Leistungsminderung aus gesundheitlichen Gründen - erheblich, daß Arbeitsplätze, die er mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann, vorhanden sind. Auf Tätigkeiten, für die ihm der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist, darf er nicht verwiesen werden. Der Arbeitsmarkt ist ihm praktisch verschlossen, wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen, für ihn in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger ist als 75 zu 100. Hierauf kommt es allerdings dann nicht an, wenn der Versicherte einen entsprechenden Arbeitsplatz - jedoch nicht auf Kosten seiner Gesundheit oder nur vorübergehend - innehat oder die Annahme eines solchen ohne triftigen Grund ablehnt. Diese Grundsätze hat der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) aus der Entstehungsgeschichte und dem Sinn und Zweck der beiden genannten Vorschriften - mit jeweils ausführlichen Begründungen - abgeleitet (BSG 30, 167; 30, 192). Ihre Anwendung zwingt bei der Prüfung, ob Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit vorliegt, zu Ermittlungen darüber, ob - und unter welchen Verhältnissen - der Rentenbewerber tatsächlich arbeitet, ob ihm ein angemessener Arbeitsplatz bekannt geworden oder ob für ihn ein entsprechendes Arbeitsfeld vorhanden ist. Im vorliegenden Fall sind solche Ermittlungen bisher nicht angestellt worden. Die von dem Berufungsgericht verwerteten Ermittlungsergebnisse basieren nicht auf solchen Kriterien, die nach der Entscheidung des Großen Senats maßgebend sind. Die danach gebotene Sachaufklärung ist nachzuholen. Dabei sind alle Beweisquellen zu berücksichtigen (vgl. Urteil des Senats vom 23. Juli 1970 - 4 RJ 497/67 -). Nach der Auffassung des Großen Senats ist es nämlich nicht allgemein zulässig, die Ermittlungen über das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsplätzen auf Anfragen an die Arbeitsverwaltung zu beschränken.

Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen (vgl. auch BSG SozR zu RVO § 1247 Nr. 21).

Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647201

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