Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit. Erwerbsunfähigkeit

 

Orientierungssatz

1. Zu den Beweisfragen, Beweismöglichkeiten und Beweismethoden bei Ermittlung und Konkretisierung des Verhältnisses der Anzahl vorhandener Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen (75:100).

2. Es ist nicht allgemein zulässig, die Ermittlungen über das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsplätzen auf Anfragen an die Arbeitsverwaltung zu beschränken (vgl BSG 1969-12-11 GS 4/69 = BSGE 30, 167; BSG 1969-12-11 GS 2/68 = BSGE 30, 192; BSG 1970-07-23 4 RJ 497/67 = SozR Nr 24 zu § 1247 RVO).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 13.10.1967)

SG Karlsruhe (Entscheidung vom 31.10.1963)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 13. Oktober 1967 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Rente wegen Berufsunfähigkeit zusteht. Der Kläger ist 1906 geboren. Lohnarbeiten verrichtete er als Schuhmacher und Arbeiter. Er leidet u. a. an Emphysembronchitis, Schwäche des Blasenschließmuskels und Veränderungen der Brust- und Lendenwirbelsäule. Seine Leistungsfähigkeit ist nach ärztlicher Auffassung dahin eingeschränkt, daß er täglich nur noch 6 Stunden leichte Arbeiten verrichten könne.

Die Klage gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 29. November 1961 hat das Sozialgericht (SG) Karlsruhe (Urteil vom 31. Oktober 1963) abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg (Urteil vom 13. Oktober 1967) hat der Klage stattgegeben. Es hat dazu ausgeführt, daß Arbeitsplätze, die dem Leistungsvermögen des Klägers angemessen seien, nicht in einem nennenswerten Umfange nachgewiesen werden könnten.

Die Beklagte hat Revision eingelegt; sie beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist begründet.

Für die Beurteilung, ob ein Versicherter berufsunfähig (§ 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) oder erwerbsunfähig (§ 1247 Abs- 2 RVO) ist, ist es - neben einer Leistungsminderung aus gesundheitlichen Gründen - erheblich, daß Arbeitsplätze, die er mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann, vorhanden sind. Auf Tätigkeiten, für die ihm der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist, darf er nicht verwiesen werden. Der Arbeitsmarkt ist ihm praktisch verschlossen, wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen, für ihn in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger ist als 75 zu 100. Hierauf kommt es allerdings dann nicht an, wenn der Versicherte einen entsprechenden Arbeitsplatz - jedoch nicht auf Kosten seiner Gesundheit oder nur vorübergehend - innehat oder die Annahme eines solchen ohne triftigen Grund ablehnt. Diese Grundsätze hat der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) aus der Entstehungsgeschichte und dem Sinn und Zweck der beiden genannten Vorschriften - mit jeweils ausführlichen Begründungen - abgeleitet (BSG 30, 167; 30, 192). Ihre Anwendung zwingt bei der Prüfung, ob Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit vorliegt, zu Ermittlungen darüber, ob - und unter welchen Verhältnissen - der Rentenbewerber tatsächlich arbeitet, ob ihm ein angemessener Arbeitsplatz bekannt geworden oder ob für ihn ein entsprechendes Arbeitsfeld vorhanden ist. Im vorliegenden Fall sind solche Ermittlungen bisher nicht angestellt worden; bis zum Bekanntwerden der Entscheidungen des Großen Senats konnten sie in dieser Weise auch nicht angestellt werden. Sie sind nachzuholen. Dabei sind alle Beweisquellen zu berücksichtigen (vgl. Urteil des Senats vom 23. Juli 1970 - 4 RJ 497/67-). Nach der Auffassung des Großen Senats ist es nämlich nicht allgemein zulässig, die Ermittlungen über das Vorhandensein von Teilzeitarbeitsplätzen auf Anfragen an die Arbeitsverwaltung zu beschränken.

Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen (vgl. auch BSG SozR zu RVO § 1247 Nr. 21).

Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647173

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge