Entscheidungsstichwort (Thema)
Anforderungen an die Revisionsbegründung
Leitsatz (amtlich)
Eine Revision ist allein durch Bezugnahme auf vor der Zustellung des angefochtenen Urteils abgefaßte und eingereichte Schriftsätze nicht formgerecht begründet worden (Anschluß an und Fortführung von BSG 17.1.1958 11/9 RV 1126/55 = BSGE 6, 269 und BSG 30.6.1964 3 RK 38/60 = SozR Nr 53 zu § 164 SGG).
Orientierungssatz
Die Revisionsbegründung muß erkennen lassen, daß der sie einreichende Prozeßbevollmächtigte das angefochtene Urteil im Hinblick auf das Rechtsmittel überprüft hat, um so dem gesetzgeberischen Zweck des § 164 Abs 2 S 3 SGG, aussichtslose Revisionen nach Möglichkeit von vornherein zu verhindern, zu genügen. Deswegen muß die Revisionsbegründung die Gründe aufzeigen, die nach Auffassung des Prozeßbevollmächtigten das Urteil in den noch streitigen Punkten unrichtig erscheinen lassen; dazu bedarf es zumindest einer kurzen Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung (vgl BSG 16.12.1981 11 RA 86/80 = SozR 1500 § 164 Nr 20).
Normenkette
SGG § 164 Abs 2 S 3
Verfahrensgang
SG Berlin (Entscheidung vom 27.11.1985; Aktenzeichen S 8 An 2950/85) |
Tatbestand
Streitig ist der Beginn eines Altersruhegeldes.
Die im November 1899 in München geborene Klägerin erwarb nach ihrer verfolgungsbedingten Auswanderung die australische Staatsangehörigkeit. Ihren Antrag vom 9. November 1971 auf Gewährung eines Altersruhegeldes wegen Vollendung des 65. Lebensjahres lehnte die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) mangels Erfüllung der erforderlichen Wartezeit von (damals) 180 Kalendermonaten mit Bescheid vom 28. Februar 1972 ab. Dieser Bescheid wurde bindend.
Im Juni 1981 beantragte die Klägerin die Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 28. Februar 1972 und die Gewährung von Altersruhegeld. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 13. Oktober 1981 ab, weil die Wartezeit für ein Altersruhegeld weiterhin nicht erfüllt sei. Widerspruch und Klage blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 18. Mai 1982; Urteil des Sozialgerichts -SG- Berlin vom 8. Dezember 1982). Während des anschließenden Berufungsverfahrens schlossen die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) Berlin am 28. August 1984 einen Vergleich, worin die Beklagte eine weitere Ersatzzeit anerkannte und sich verpflichtete, der Klägerin einen neuen Bescheid zu erteilen.
Mit Bescheid vom 12. November 1984 bewilligte die Beklagte nunmehr der Klägerin wegen eines am 18. November 1964 eingetretenen Versicherungsfalles Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Als Zahlungsbeginn bestimmte sie den 1. Januar 1977 mit der Begründung, "der Anspruch auf Leistungen bis einschließlich Dezember 1976 ist verjährt (I § 45 Abs 1 SGB)". Den ua mit dem Ziel eines früheren Rentenbeginns eingelegten Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 19. Juli 1985).
Das SG Berlin (Urteil vom 27. November 1985) hat die Klage abgewiesen und die Berufung und die Revision zugelassen. Zur Begründung seiner Sachentscheidung hat es im wesentlichen ausgeführt:
Die Klägerin habe im Juni 1981 die Rücknahme des früheren Ablehnungsbescheides beantragt. Ihr seien daher für vier Jahre rückwirkend ab 1. Januar 1981 und somit vom 1. Januar 1977 an Rentenleistungen zu erbringen. Einem Anspruch für Zeiten vor dem 1. Januar 1977 stehe § 44 Abs 4 des Sozialgesetzbuchs, Zehntes Buch, Verwaltungsverfahren (SGB 10) vom 18. August 1980 (BGBl I S 1469) entgegen. Die Vorschrift verstoße nicht gegen Art 14 des Grundgesetzes (GG). Dazu enthält das angefochtene Urteil eingehende Ausführungen.
Zur Begründung ihrer unter Beifügung der Zustimmungserklärung der Beklagten eingelegten Sprungrevision trägt die Klägerin vor, es gehe um die Frage, ob § 44 Abs 4 SGB 10 verfassungsgemäß sei oder aber gegen die Eigentumsgarantie des Art 14 GG verstoße. Zu dieser Frage sei beim Bundessozialgericht (BSG) das Verfahren 1 RA 31/85 anhängig. Sie (Klägerin) mache sich die Ausführungen ihrer Prozeßbevollmächtigten in dem dortigen Verfahren zu eigen und beziehe sich zur Begründung ihrer Revision auf die im Verfahren 1 RA 31/85 eingereichten, abschriftlich beigefügten Schriftsätze vom 2. August und 13. November 1985.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 27. November 1985 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 12. November 1984 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19. Juli 1985 zu verurteilen, ihr die Rentenleistungen bereits ab 1. Juli 1965 auszuzahlen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. § 44 Abs 4 SGB 10 sei auf den vorliegenden Fall anzuwenden. Die Vorschrift sei verfassungsgemäß.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Sprungrevision der Klägerin ist unzulässig. Sie ist nicht formgerecht begründet worden.
Die Begründung der Revision muß einen bestimmten Antrag enthalten sowie die verletze Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen bezeichnen, die den Mangel ergeben (§ 164 Abs 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Diesem Erfordernis ist auch bei sachlich-rechtlichen Revisionsangriffen allein mit der Bezeichnung der verletzten Rechtsnorm und dem Zusatz, es werde die Verletzung materiellen Rechts gerügt, nicht genügt. Die Revision muß sorgfältig und nach Umfang und Zweck zweifelsfrei begründet werden. Die Revisionsbegründung muß erkennen lassen, daß der sie einreichende Prozeßbevollmächtigte das angefochtene Urteil im Hinblick auf das Rechtsmittel überprüft hat, um so dem gesetzgeberischen Zweck des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG, aussichtslose Revisionen nach Möglichkeit von vornherein zu verhindern, zu genügen. Deswegen muß die Revisionsbegründung die Gründe aufzeigen, die nach Auffassung des Prozeßbevollmächtigten das Urteil in den noch streitigen Punkten unrichtig erscheinen lassen; dazu bedarf es einer zumindest kurzen Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung (vgl jeweils mit eingehenden Nachweisen BSG SozR 1500 § 164 Nr 5 S 5f; Nr 12 S 17; Nr 20 S 33f; ebenso für das verwaltungsgerichtliche Revisionsverfahren ua BVerwG Buchholz 310 § 139 VwGO Nr 61; für das finanzgerichtliche Revisionsverfahren BFH/NV 1986, 164, 165; 169, 170; 171 mwN).
Die Klägerin hat sich in ihrem Revisionsvorbringen mit den Gründen des angefochtenen Urteils des SG Berlin vom 27. November 1985 nicht auseinandergesetzt. Das gilt zunächst für ihre im vorliegenden Verfahren eingereichten Schriftsätze vom 29. Januar, 19. Februar und 15. März 1986. Hierin ist lediglich die zu entscheidende Rechtsfrage dargestellt und sodann zunächst (Schriftsätze vom 29. Januar und 19. Februar 1986) pauschal und später (Schriftsatz vom 15. März 1986) durch Beifügung entsprechender Abschriften auf das Vorbringen zur Begründung der Revision in dem Verfahren 1 RA 31/85 verwiesen worden. Hingegen ist weder auf die Gründe des angefochtenen Urteils eingegangen noch dargelegt worden, welche rechtlichen Einwendungen und Bedenken gegen diese Entscheidungsgründe erhoben werden.
Dies ist zum anderen auch nicht durch die Vorlage von Abschriften der in dem Verfahren 1 RA 31/85 eingereichten Schriftsätze vom 2. August und 13. November 1985 geschehen. Dabei kann auf sich beruhen, welche Bedeutung dem Umstand zukommt, daß der Schriftsatz vom 13. November 1985 erst nach Ablauf der im Verfahren 1 RA 31/85 bis zum 5. September 1985 verlängerten Revisionsbegründungsfrist eingegangen und deswegen in jenem Verfahren unberücksichtigt zu lassen ist. Auch bedarf es keiner umfassenden Erörterung der Frage, ob Verweisungen auf frühere Schriftsätze generell unzulässig sind, selbst wenn sie von demselben Verfasser stammen und an das Revisionsgericht gerichtet worden sind (so BSG SozR Nr 27 zu § 164 SGG; vgl im übrigen zur Unzulässigkeit der Bezugnahme auf außerhalb des Revisionsverfahrens abgegebene Schriftsätze BSG SGb 1985, 292, 293 mwN, insoweit in BSGE 57, 91 und SozR 2200 § 539 Nr 100 nicht abgedruckt; zur Zulässigkeit der Bezugnahme auf die Begründung einer vorausgegangenen Nichtzulassungsbeschwerde neuerdings Urteil des BSG vom 22. April 1986 - 10 RKg 22/85 - mwN). Jedenfalls stellt die Bezugnahme auf die in dem Rechtsstreit 1 RA 31/85 eingereichten Schriftsätze vom 2. August und 13. November 1985 aus einem anderen Grunde eine formgerechte Begründung der vorliegenden Sprungrevision nicht dar:
Die zu einer formgerechten Revisionsbegründung erforderliche Auseinandersetzung mit den Gründen der angefochtenen Entscheidung und Darlegung der dagegen zu erhebenden rechtlichen Bedenken setzt notwendigerweise eine genaue Kenntnis der Urteilsgründe voraus. Diese wiederum kann erst nach Zustellung der schriftlichen und mit Gründen versehenen Entscheidung der Vorinstanz erworben werden. Vor dem Zeitpunkt dieser Zustellung ist eine sachgerechte Wertung und Würdigung der anzufechtenden Entscheidung nicht möglich. Das ist letztlich auch der Grund dafür, daß selbst im Falle der Verkündung (§ 132 SGG) eines aufgrund mündlicher Verhandlung erlassenen Urteils (§ 124 Abs 1 SGG) das Ende der Revisionsbegründungsfrist sich nach dem Zeitpunkt der Zustellung des angefochtenen Urteils bestimmt (§ 164 Abs 2 Satz 1 SGG). Das bedeutet, daß die Revision durch eine Bezugnahme auf in demselben oder einem anderen Rechtsstreit eingereichte Schriftsätze jedenfalls dann nicht formgerecht begründet worden ist, wenn diese Schriftsätze bereits vor dem Zeitpunkt der Zustellung des angefochtenen Urteils abgefaßt und herausgegeben worden sind. Sie können dann zwangsläufig allein aus zeitlichen Gründen eine Auseinandersetzung mit dem angefochtenen Urteil noch gar nicht enthalten. Deswegen stellt zB eine Bezugnahme auf die Berufungsbegründung nach ständiger Rechtsprechung des BSG (BSGE 6, 269, 270f; BSG SozR Nr 53 zu § 164 SGG) selbst dann keine formgerechte Revisionsbegründung dar, wenn der Revisions- oder Revisionsbegründungsschrift eine Abschrift der Berufungs(begründungs)schrift beigefügt worden ist, weil diese dem Verfahren und dem angefochtenen Urteil des LSG vorausgegangen ist und sich mangels Kenntnis mit dessen Gründen noch gar nicht auseinandergesetzt haben kann. Dasselbe muß für jeden anderen schriftsätzlichen Vortrag gelten, der vor der Zustellung des angefochtenen Urteils liegt. Auch er genügt den Anforderungen an eine formgerechte Revisionsbegründung nicht (vgl BVerwG Buchholz 310 § 139 VwGO Nr 56).
Die Klägerin hat damit auch durch die Bezugnahme auf die im Rechtsstreit 1 RA 31/85 eingereichten und im vorliegenden Verfahren abschriftlich beigefügten Schriftsätze ihrer Prozeßbevollmächtigten vom 2. August und 13. November 1985 ihre Sprungrevision gegen das Urteil des SG Berlin vom 27. November 1985 nicht formgerecht begründet. Dieses Urteil ist der Prozeßbevollmächtigten am 18. Dezember 1985 zugestellt worden. Die vorerwähnten beiden Schriftsätze sind bereits vor diesem Zeitpunkt abgefaßt und dem erkennenden Senat übersandt worden.
Die Revision ist mangels ordnungsgemäßer Begründung als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen