Leitsatz (amtlich)
Eine nach 4. NotV vom 1931-12-08 § 2 Abs 1 Teil 5 Kap 2 Abschn 1 (RGBl 1 S 699, hier S 720) weggefallene Verletztenrente von weniger als 20 % der Vollrente ist nicht nach UVNG Art 4 § 5 Abs 1 wiederzugewähren, wenn die unverändert gebliebenen Unfallfolgen nunmehr mit einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 % beurteilt werden.
Normenkette
UVNG Art. 4 § 5 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30; NotV 4 Teil 5 Kap 2 Abschn. 1 § 2 Abs. 1
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. Dezember 1971 und das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 11. März 1971 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Rechtsstreit wird darum geführt, ob eine nach § 2 Abs. 1, 5. Teil Kapitel II Abschnitt 1 der 4. Notverordnung vom 8. Dezember 1931 (RGBl I S. 699, hier S. 720) weggefallene Verletztenrente von 15 v. H. der Vollrente aufgrund des Art. 4 § 5 Abs. 1 des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl I S. 241, 289) wiederzugewähren ist.
Die Beklagte hatte dem Kläger durch Bescheid vom 25. April 1930 wegen fast nahezu vollständigen Verlustes des rechten Daumens infolge des Arbeitsunfalls vom 28. Februar 1923 vom 20. März 1930 an - dem Tag des Eingangs des Antrags auf Gewährung einer Entschädigung - eine Dauerrente von 15 v. H. der Vollrente bewilligt. Diese wurde mit Ablauf des Dezember 1931 aufgrund der o. a. Notverordnung nicht mehr gewährt.
Im November 1968 beantragte der Kläger die Wiedergewährung der Rente. Da die Beklagte über den Unfall keine Unterlagen mehr besitzt - lediglich eine in den Händen des Klägers befindliche Ausfertigung des Bescheides ist vorhanden -, ließ sie u. a. den Kläger ärztlich untersuchen. Oberarzt Dr. K (Chirurgische Abteilung des Ev. J-Krankenhauses B) führte im Gutachten vom 17. März 1969 aus, daß seit der Erteilung des Bescheides wahrscheinlich weder eine wesentliche Besserung noch eine wesentliche Verschlimmerung eingetreten sei und bei einem Verlust von etwa 1 1/2 Gliedern des rechten Daumens der Unfallfolgezustand mit 15 v. H. beurteilt werden würde. Wegen des äußerst kurzen Basisrestes des Grundgliedes nähere sich der Zustand aber mehr dem vollständigen Daumenverlust. Die vollständige Versteifung des Daumengrund- und Endgelenks werde heute mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 15 v. H. beurteilt. Der Kläger sei jedoch schlechtergestellt; deshalb schätze er die MdE auf 20 v. H. Dieser Beurteilung schloß sich der Facharzt für Chirurgie Dr. H im Gutachten vom 22. April 1969 an. Der fachärztliche Berater der Beklagten nahm am 3. Dezember 1969 dahin Stellung, daß eine wesentliche Verschlimmerung der Unfallfolgen nicht anzunehmen, eine Änderung des Grades der MdE daher nicht gerechtfertigt sei.
Durch Bescheid vom 22. Dezember 1969 lehnte die Beklagte die Wiedergewährung der Rente ab, weil in den Verhältnissen, welche der Rentenbewilligung zugrunde gelegen hätten, eine wesentliche Änderung nicht eingetreten sei und somit die Voraussetzungen des Art. 4 § 5 Abs. 1 UVNG nicht erfüllt seien.
Das Sozialgericht (SG) Detmold hat auf die Klage durch Urteil vom 11. März 1971 die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides verurteilt, dem Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 28. Februar 1923 Rente in Höhe von 20 v. H. vom 1. November 1968 an zu gewähren. Nach Art. 4 § 5 Abs. 1 UVNG sei maßgeblich, daß - was hier vorliege - gemäß § 581 Abs. 1 Nr. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO - idF des Art. 1 UVNG) eine MdE um 20 v. H. gegeben sei. Einer wesentlichen Verschlimmerung der Unfallfolgen bedürfe es nicht.
Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen hat durch Urteil vom 13. Dezember 1971 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Auf die Bindungswirkung des Rentenbewilligungsbescheides vom 25. April 1930 könne sich die Beklagte nicht berufen. Aus der Gesetzesvorgeschichte, wonach die durch die 4. Notverordnung betroffenen Verletzten auf Antrag so behandelt werden müßten als wenn der Unfall heute eingetreten wäre, ergebe sich, daß diesem Personenkreis eine nunmehr vielleicht etwas günstigere ärztliche Einschätzung des Grades der MdE zugute kommen solle. Obwohl keine zwischenzeitliche Verschlimmerung der Unfallfolgen eingetreten sei, sei deshalb nach dem Übergangsrecht des UVNG die aufgrund Notverordnungsrechts weggefallene Rente wiederzugewähren, weil die Voraussetzungen nach dem jetzt maßgeblichen Recht - § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO - erfüllt seien. Die von der Beklagten gehörten Gutachter hätten nämlich die MdE durch Unfallfolgen auf 20 v. H. geschätzt. Diese Auslegung des Art. 4 § 5 Abs. 1 UVNG verstoße nicht gegen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit. Es möge zwar sein, daß die Bezieher von höheren Renten, die nicht aufgrund des Notverordnungsrechts weggefallen seien, insofern benachteiligt würden, als ihnen die Bindungswirkung des Rentenbewilligungsbescheides trotz einer nunmehr günstigeren Einschätzung des Grades der MdE die Zubilligung einer entsprechend höheren Rente verwehre. Diese Möglichkeit habe der Gesetzgeber jedoch offenbar bewußt in Kauf genommen. Der Grundsatz, daß Änderungen des Grades der MdE um nur 5 v. H. nicht wesentlich seien, sei hier nicht rechtserheblich, weil es in der vorliegenden Sache nicht auf das Ausmaß einer Änderung verbindlich festgestellter Verhältnisse, sondern allein darauf ankomme, ob ungeachtet der im Jahre 1930 vorgenommenen Bewertung der MdE eine Neufestsetzung unter Zugrundelegung einer jetzt unstreitig auf 20 v. H. geschätzten MdE gerechtfertigt sei.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet: Die Vorinstanzen hätten sich zu Unrecht unter Berufung auf das UVNG über die bindende Feststellung der MdE im Bescheid vom 25. April 1930 hinweggesetzt. Wegen dieser Bindung sei es gleichgültig, ob nach den derzeit angewendeten Beurteilungsmaßstäben der unverändert gebliebene körperliche Zustand eine MdE um 20 v. H. zur Folge habe. Selbst wenn sich die Verhältnisse insoweit geändert hätten, sei eine Änderung des Grades der MdE um nur 5 v. H. nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht als wesentlich anzusehen, so daß eine Neufeststellung der Rente nicht zulässig sei.
Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beklagte beantragt,
die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Rentenangelegenheit des Klägers fällt nicht unter den Anwendungsbereich des Art. 4 § 5 Abs. 1 UVNG.
Nach dieser Übergangsvorschrift des UVNG ist, wenn u. a. aufgrund der §§ 2, 3 oder 5 im 5. Teil Kapitel II Abschnitt 1 der 4. Notverordnung vom 8. Dezember 1931 eine Rente weggefallen, nicht oder nicht mehr gewährt oder entzogen worden ist, auf Antrag Verletztenrente wiederzugewähren, wenn der Anspruch "nach diesem Gesetz" begründet ist. § 2 Abs. 1 aaO bestimmte, daß eine Unfallrente nicht zu gewähren war, wenn die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge des Arbeitsunfalls um weniger als 20 v. H. gemindert war. Die aufgrund des früheren Rechts nach einem geringeren Grad der MdE festgestellten Renten fielen deshalb, abgesehen von dem - auf den Kläger nicht zutreffenden - Ausnahmefall des § 2 Abs. 2 Satz 1 - 2 (Stützrente für einen früheren Unfall), mit dem Ende des Jahres 1931 weg (§ 11 Abs. 1). Ein Anspruch auf Wiedergewährung war nur begründet, wenn die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge einer wesentlichen Verschlimmerung der Unfallfolgen für länger als 3 Monate um mehr als 25 v. H. gemindert war (§ 2 Abs. 2 Satz 3). Renten von 20 v. H. der Vollrente fielen nach 2-jähriger Bezugsdauer grundsätzlich weg (§ 3 Abs. 1 Satz 1); ihre Wiedergewährung hing ebenfalls von den Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Satz 3 ab. Bei Unfällen der als Unternehmer Versicherten und der ihnen Gleichgestellten war ein Rentenanspruch im allgemeinen nur noch bei einer MdE um wenigstens 25 v. H. begründet; die Satzung konnte bestimmen, daß ein Grad der MdE um 33 1/3 v. H. vorliegen mußte (§ 5). Die durch diese - abgesehen von weiteren, hier nicht dargelegten - Einschränkungen verursachten Härten wurden durch das 5. Gesetz über Änderungen in der Unfallversicherung vom 17. Februar 1939 (RGBl. I S. 267) nur gemildert, aber nicht völlig beseitigt (vgl. Art. 3 §§ 3 - 6 des Gesetzes). Dieses Gesetz wirkte sich insbesondere zugunsten von Verletzten aus, die erst nach dem 31. Dezember 1938 verunglückt sind. Für Arbeitsunfälle, die vor dem Inkrafttreten des 5. Änderungsgesetzes, d. h. dem 1. Januar 1939, eingetreten waren, blieb - von Ausnahmen abgesehen - das Notverordnungsrecht weiter maßgebend. So fiel eine Rente von 20 v. H. aus einem Unfall vor dem 1. Januar 1939 nur dann nicht mehr weg, wenn die 2-jährige Laufzeit beim Inkrafttreten des 5. Änderungsgesetzes noch nicht verstrichen war. Auch bei Unternehmern trat hinsichtlich der früheren Arbeitsunfälle keine wesentliche Rechtsänderung ein (vgl. im einzelnen RVA, GE Nr. 5286, AN 1939, 190, Leitsätze 16 ff; s. ferner BSG SozR Nr. 8 zu § 559 a RVO aF).
Die insoweit vor allem darin bestehenden Ungleichheiten, daß bei Verletzten, deren Erwerbsfähigkeit nur in einem geringeren Grad beeinträchtigt ist, ein Anspruch auf Rente im allgemeinen davon abhängig war, ob der Arbeitsunfall sich vor oder nach dem 1. Januar 1939 ereignet hatte, hat Art. 4 § 5 Abs. 1 UVNG beseitigen wollen (vgl. dazu auch Dörner, BArbBl. 1963, 366, 367; Linthe, BG 1963, Sonderheft S. 40). Dies ergibt sich deutlich aus der Begründung zum Gesetzentwurf des UVNG (BT-Drucks. IV/120 S. 79 zu § 3):
"Nach dem bis zum 8. Dezember 1931 geltenden Recht wurde Rente auch für eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 v. H. gewährt. Die in Absatz 1 genannten Vorschriften der Notverordnung vom 8. Dezember 1931 ließen diese Renten sofort, die Renten für eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v. H. nach zweijährigem Bezug erlöschen. Neue Renten wurden nur gewährt, wenn die Erwerbsfähigkeit des Verletzten länger als drei Monate um mehr als 25 v. H. gemindert war. Das gleiche galt bei Verschlimmerung des Gesundheitszustandes. Für versicherte Unternehmer in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung konnte die Landesregierung bestimmen, daß auch höhere Renten bis zu 33 1/3 v. H. fortfallen. Die Kürzungen sind durch das Fünfte Gesetz über Änderungen in der gesetzlichen Unfallversicherung vom 17. Februar 1939 für die spätere Zeit zum größten Teil wieder beseitigt worden. Wer in der Zwischenzeit einen Arbeitsunfall erlitten oder seine Rente eingebüßt hatte, blieb aber weiterhin benachteiligt. Um die dadurch entstandene Ungleichheit zu beseitigen, eröffnet der Entwurf diesen Verletzten und ihren Hinterbliebenen die Möglichkeit, für die Zukunft die Rente wieder zu verlangen. Dabei sollen sie so behandelt werden, als wenn der Unfall heute eingetreten wäre".
Der durch Notverordnungsrecht (§ 2 Abs. 1) eingeführte Rechtsgrundsatz, daß Verletztenrente im allgemeinen nur zu gewähren ist, wenn die Erwerbsfähigkeit des Verletzten um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, ist hingegen sowohl im 5. Änderungsgesetz (s. § 559 a Abs. 3 RVO idF bis zum Inkrafttreten des UVNG) als auch im UVNG (s. § 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO) beibehalten worden. Er sollte auch nicht durch Art. 4 § 5 Abs. 1 UVNG, wie dessen Entstehungsgeschichte zeigt, eingeschränkt werden. Der Kläger, dessen Rente von 15 v. H. der Vollrente aufgrund des Notverordnungsrechts nicht mehr gewährt worden ist, hat deshalb nach dieser Vorschrift keinen Anspruch auf Verletztenrente (gleicher Ansicht Dembowski, SozSich 1963, 305, 307). Daran ändert der Umstand nichts, daß die 1969 gehörten Sachverständigen - trotz unveränderter Unfallfolgen - nun eine MdE um 20 v. H. annehmen. Eine bloße abweichende (medizinische) Beurteilung der MdE, die dem Verletzten keinen Anspruch auf eine Neufeststellung der Rente nach § 622 Abs. 1 RVO gibt, kann nach dem aus der Gesetzesvorgeschichte sich ergebenden Sinn und Zweck des Art. 4 § 5 Abs. 1 UVNG kein Grund zur Wiedergewährung einer weggefallenen Rente sein. Denn in einem solchen Fall liegt keine durch die Notverordnung geschaffene Ungleichheit vor, die durch das UVNG beseitigt werden sollte. Der Kläger wird durch die Entscheidung des Senats nicht schlechtergestellt als ein Verletzter, der durch Folgen eines nach dem 31. Dezember 1938 erlittenen Arbeitsunfalls zur Zeit der Bescheiderteilung als nur um 15 v. H. in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt angesehen worden ist; auch dieser kann nach dem UVNG keine Rente begehren, wenn die damals mit diesem Grad beurteilten gesundheitlichen Einschränkungen nunmehr im allgemeinen mit 20 v. H. berentet werden. Wegen der Bindungswirkung des Verwaltungsakts (§ 77 SGG) hat ein solcher Verletzter - ebenso wie der Kläger - Anspruch auf Wiedergewährung der Verletztenrente nur im Falle einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse (§ 622 Abs. 1 RVO) - das LSG hat indessen unangefochten festgestellt, daß beim Kläger die Unfallfolgen sich nicht verschlimmert haben. Ob die Voraussetzungen für eine Neufeststellung nach § 627 RVO vorliegen (s. dazu das heute in der Sache 8/2 RU 220/72 vom erkennenden Senat gefällte Urteil), kann dahinstehen. Insoweit hat die Beklagte keinen Verwaltungsakt erlassen, auch nicht während des Rechtsstreits (s. BSG 10, 218, 220 ff), so daß darüber nicht zu entscheiden war.
Da der Bescheid der Beklagten somit zu Recht ergangen ist, war die Klage unter Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen