Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallrente. Wegfall. Wiedergewährung
Orientierungssatz
Die Wiedergewährung einer auf Grund der NotV 4 weggefallenen Unfallrente ist nur begründet, solange die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge einer wesentlichen Verschlimmerung der Unfallfolgen für länger als drei Monate um mehr als 1/4 gemindert ist. Eine Wiedergewährung der Rente aus anderen rechtlichen Gesichtspunkten ist nicht möglich (vgl BSG 1960-04-27 2 RU 143/56 = SozR Nr 9 zu § 559a RVO aF).
Normenkette
NotV 4 § 2 Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 03.04.1963) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 28.06.1961) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 3. April 1963 wird aufgehoben, soweit es Rente für die Zeit vor dem 1. Juli 1963 zuerkannt hat.
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 28. Juni 1961 wird insoweit zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Schlosser P J S (S.) verletzte sich am 2. März 1916 durch einen Arbeitsunfall das rechte Auge. Er bezog deshalb von der Beklagten Unfallrente, zuletzt nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 v.H. Auf Grund der 4. Notverordnung vom 8. Dezember 1931 (Teil V Kap. II Abschn. 1 § 3) fiel die Rente mit Ablauf des Jahres 1931 weg.
Durch Bescheid vom 14. April 1948 gewährte ihm die Reichsbahn-Unfallversicherungsbehörde, Bezirk H, Dauerrente nach einer MdE um 25 v.H. wegen einer Verletzung am linken Fuß, die sich S. am 1. November 1945 zugezogen hatte.
Mit Schreiben vom 25. März 1959 beantragte S. die Wiedergewährung der weggefallenen Rente mit der Begründung, daß die Unfallfolgen sich verschlimmert hätten. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 3. Oktober 1960 mangels einer wesentlichen Verschlimmerung im Sinne von § 3 Abs. 2, § 2 Abs. 2 Satz 3 des V. Teils Kap. II Abschn. 1 der 4. Notverordnung ab.
Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat durch Urteil vom 28. Juni 1961 die Klage abgewiesen.
Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat durch Urteil vom 3. April 1963 diese Entscheidung sowie den Bescheid der Beklagten vom 3. Oktober 1960 aufgehoben und diese verurteilt, S. wegen der Folgen des Unfalls aus dem Jahre 1916 Rente nach einer MdE um 20 v.H. vom 27. März 1959 an wieder zu gewähren.
Das Berufungsgericht hat sein Urteil im wesentlichen wie folgt begründet: Wie sich aus den ärztlichen Gutachten ergebe, sei in den Folgen des Unfalls, den S. am 2. März 1916 erlitten habe, keine Verschlechterung eingetreten. Der Anspruch auf Wiedergewährung der Rente sei trotzdem begründet, weil S. wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 1. November 1945 Rente in ausreichender Höhe beziehe. Die Rente, die S. auf Grund des früheren Unfalls erhalten habe, sei nach § 3 Abs. 1 Satz 1 aaO weggefallen, denn eine der Voraussetzungen des nachfolgenden Satzes 2 aaO, insbesondere das Bestehen eines Anspruchs auf eine Leistung aus einem "anderen" Unfall, habe seinerzeit nicht vorgelegen. Anders als in § 2 aaO, der die Gewährung einer kleinen Rente von einem Leistungsanspruch aus einem "früheren" Unfall abhängig mache, könne ein "anderer" Unfall nach § 3 Abs. 1 Satz 2 aaO auch ein späterer Unfall sein, wie sich aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu § 559 a Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (idF vor Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes - UVNG - RVO aF) ergebe (BSG 12, 58). Es sei aber nicht einzusehen, daß in den Fällen des § 30 aaO ein später eintretender "anderer" Unfall eine unterschiedliche Rechtswirkung äußern solle, je nachdem, ob bei Eintritt dieses Unfalls die Rente von 1/5 der Vollrente bereits weggefallen oder ihre Laufzeit noch nicht beendet gewesen sei. § 3 Abs. 2 aaO lasse zwar, wenn eine solche Rente bereits weggefallen sei, deren Wiedergewährung nur unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Satz 3 aaO zu. Bei wörtlicher Anwendung dieser Bestimmung, die auf die kleinen Renten zugeschnitten sei, wäre die Wiedergewährung von Rente nur zulässig, wenn infolge Verschlimmerung der Unfallfolgen die MdE nunmehr mit 30 v.H. zu bewerten sei. Da § 2 Abs. 2 Satz 3 aaO indessen gemäß § 3 Abs. 2 aaO "entsprechend" gelte, lasse dies eine sinnvolle, zufällige Ergebnisse vermeidende Auslegung in dem Sinn zu, daß eine weggefallene Rente von 1/5 der Vollrente bereits wieder zu gewähren sei, wenn der Verletzte später einen neuen Arbeitsunfall erlitten habe und seine Erwerbsfähigkeit durch die Folgen beider Unfälle um wenigstens 30 v.H. gemindert sei. Dies sei bei S. der Fall. Deshalb sei ihm vom Tage der Anmeldung seines Anspruchs an die Rente aus dem Unfall vom 2. März 1916 wieder zu gewähren.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat Revision eingelegt und zur Begründung im wesentlichen den in ihrem ablehnenden Bescheid vom 3. Oktober 1960 eingenommenen Rechtsstandpunkt wiederholt.
S. hat durch seine Prozeßbevollmächtigten erklären lassen, daß er das angefochtene Urteil für zutreffend halte.
Mit Bescheid vom 23. Dezember 1963 gewährte die Beklagte S. wegen der Folgen seines Arbeitsunfalls vom 2. März 1916 nach Art. 4 § 5 UVNG wieder die Dauerrente von 20 v.H. der Vollrente.
Während des Revisionsverfahrens - am 3. September 1965 - ist S. verstorben. Laut Erbschein des Amtsgerichts Hamburg vom 14. September 1965 ist er von seinem Sohn Paul Friedrich Scholz als Alleinerben beerbt worden. Dieser ist als Rechtsnachfolger in den Rechtsstreit eingetreten.
Die Revisionsklägerin beantragt,
das Urteil des LSG Hamburg vom 3. April 1963 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG Hamburg vom 28. Juni 1961 zurückzuweisen, soweit sie für die Zeit vor dem 1. Juli 1963 zur Rentengewährung verurteilt worden ist,
hilfsweise,
das Urteil des LSG mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Der Revisionsbeklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Da Sonderrechtsnachfolger nach § 630 RVO (idF des Art. 1 UVNG nicht vorhanden sind, ist der Sohn des Klägers, der diesen allein beerbt hat, mit Recht als dessen Rechtsnachfolger in den Rechtsstreit eingetreten (SozR Nr. 1, 2 zu § 68 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 15. Juni 1966, Bd. II S. 604 c; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 4a zu § 630 RVO).
Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden; die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 SGG liegen vor.
Die Revision ist begründet.
Streitig ist nur noch die Wiedergewährung der Rente für die Zeit bis zum 30. Juni 1963; die Beklagte hat dem verstorbenen Kläger gemäß Art. 4 § 5 UVNG die Rente vom 1. Juli 1963 an wieder gewährt.
Die wegen der Folgen des Unfalls vom 2. März 1916 bewilligte Rente war gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 des Teils V Kap. II Abschn. 1 der 4. Notverordnung mit Ablauf des Jahres 1931 weggefallen, weil ihr eine MdE um nur 20 v.H. zugrunde gelegen hatte und die Ausnahmegründe des § 3 Abs. 1 Satz 2 aaO, die einen Weiterbezug der Rente gerechtfertigt hätten, nicht vorgelegen hatten. Wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat, ist die Frage, unter welchen Voraussetzungen diese Rente wieder gewährt werden kann, nach Notverordnungsrecht zu beurteilen, weil die Rente bereits vor dem Inkrafttreten des 5. Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 17. Februar 1939 (RGBl I S. 267) weggefallen war (SozR Nr. 9 zu § 559 a RVO aF). § 3 Abs. 2 aaO bestimmt in diesem Fall, daß § 2 Abs. 2 Satz 3 aaO entsprechend gilt. Nach dieser Bestimmung ist der Anspruch auf Wiedergewährung der weggefallenen Rente aber nur begründet, solange die Erwerbsfähigkeit des Verletzten infolge einer wesentlichen Verschlimmerung der Unfallfolgen für länger als drei Monate um mehr als 1/4 gemindert ist. Diese Voraussetzung ist, wie das Berufungsgericht zutreffend dargetan hat, vorliegendenfalls nicht gegeben. Da der Wortlaut von § 3 Abs. 2, § 2 Abs. 2 Satz 3 aaO eindeutig ist, ist eine Wiedergewährung der Rente aus anderen rechtlichen Gesichtspunkten nicht möglich. Diese Auffassung ist in der Rechtsprechung ständig vertreten worden (RVA AN 1939, 190, 191, 194 Leitsatz Nr. 17; BSG SozR Nr. 9 zu § 559 a RVO aF). Ansprüche auf Wiedergewährung von Rente sollten auf diese Weise von vornherein möglichst eingeschränkt werden (Roewer, BG 1932, Spalte 11).
Die Fassung des § 3 Abs. 2 aaO, daß § 2 Abs. 2 Satz 3 aaO "entsprechend" gilt, läßt eine erweiternde Auslegung dieser Bestimmung in dem vom LSG gewollten Sinn nicht zu. § 2 aaO befaßt sich, wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, mit der Gewährung und Wiedergewährung der Renten Unfallverletzter, deren Erwerbsfähigkeit infolge des Unfalls um weniger als 1/5 gemindert ist. § 2 Abs. 2 Satz 3 aaO muß indessen - soweit § 2 aaO anzuwenden ist - i.V.m. dem vorangehenden Satz 2 dieses Absatzes "gelesen und so verstanden werden, daß er lediglich mit diesem seine Geltung hat" (RVA EuM 33, 158, 160; BSG SozR Nr. 10 zu § 559 a RVO aF). Deshalb hat der Gesetzgeber in § 3 Abs. 2 aaO bestimmt, daß für die Wiedergewährung von Renten, denen eine MdE um 20 v.H. zugrunde gelegen hatte und die weggefallen waren, § 2 Abs. 2 Satz 3 aaO "entsprechend" anzuwenden ist. Eine weitergehende Bedeutung kommt diesem Wort angesichts der eindeutigen Fassung des § 2 Abs. 2 Satz 3 aaO nicht zu.
Auf die Revision der Beklagten war deshalb das Urteil des LSG aufzuheben, soweit es Rente für die Zeit vor dem 1. Juli 1963 zuerkannt hat. Insoweit ist die von S. gegen das Urteil des SG, das einen Rentenanspruch verneint hat, eingelegte Berufung nicht begründet.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.
Fundstellen