Leitsatz (amtlich)
1. Sind bei einem seit geraumer Zeit betriebenen Bauunternehmen die materiellen Voraussetzungen für eine Eintragung in die Handwerksrolle erfüllt, so ist es allein wegen des Umstandes, daß diese Eintragung erst nach Ausführung der Bauarbeiten, aber noch im selben Beitragsjahr erfolgt ist, nicht gerechtfertigt, von dem Bauunternehmer die erhöhten Beiträge für nicht gewerbsmäßige Bauarbeiten (RVO § 728 Abs 3) zu fordern.
2. Zur Frage, wann die Fortführung des Betriebes nach HwO § 16 Abs 3 S 1 untersagt werden kann.
Normenkette
RVO § 728 Abs. 3 Fassung: 1963-04-30; HwO § 16 Abs. 3 S. 1
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 15. Dezember 1971 und des Sozialgerichts Kiel vom 10. Februar 1971 aufgehoben. Die Bescheide der Beklagten vom 10. Oktober 1969 und 14. April 1970 werden insoweit aufgehoben, als darin ein höherer Beitrag als 3.203,96 DM festgesetzt worden ist.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten sämtlicher Rechtszüge zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin besteht als Firma seit dem 1. Januar 1966 und gehört seitdem der Verwaltungs-Berufsgenossenschaft als Mitglied an. Sie ist seit diesem Zeitpunkt auch bei der Gewerbemeldestelle der Stadt K mit der Gewerbeart "Finanzierungs- und Grundstücksgeschäfte" angemeldet. Ihre Eintragung in das Handelsregister des Amtsgerichts Kiel erfolgte am 13. Januar 1967 mit "Vermittlung von Finanzierungen für Grundstücke sowie Vermittlung von Grundstücksgeschäften und Durchführung von Hausverwaltungen" als Gegenstand des Unternehmens. Seit 1966 beschäftigte sie etwa 20 bis 25 Bauarbeiter, die Umbau- und Modernisierungsarbeiten an Häusern durchführten. Für diese Bauarbeiten gewährte die Beklagte Unfallschutz; bei der Beitragsbemessung beurteilte sie diese Arbeiten als nicht gewerbsmäßige Bauarbeiten. Am 8. Oktober 1969 wurde die Klägerin auf ihren Antrag von der Handwerkskammer L gemäß § 7 Abs. 4 Satz 1 der Handwerksordnung (HandwO) für das Maurerhandwerk in die Handwerksrolle eingetragen. Betriebsleiter war insoweit der Maurermeister Hans-Georg N. Nach dem mit diesem am 13. September 1967 geschlossenen Anstellungsvertrag war N vom 1. Oktober 1967 an als Bauleiter eingestellt; ihm wurde die Leitung sämtlicher handwerklicher Arbeiten an den der Klägerin zum Ausbau und zur Modernisierung übergebenen Häusern sowie der Einsatz der Arbeiter und des Materials, der bei ihr beschäftigten Handwerker sowie aller beauftragten Meister-Firmen übertragen.
Mit Beitragsbescheid vom 10. Oktober 1969 forderte die Beklagte die Klägerin auf, für die von dieser in der Zeit vom 29. März bis 29. August 1969 ausgeführten Bauarbeiten den Beitrag von 12.083, 53 DM zu zahlen. Hierbei beurteilte sie die Bauarbeiten als nicht gewerbsmäßig und berechnete dementsprechend den Beitrag nach § 63 Abs. 1 ihrer vom 1. Januar 1966 bis zum 31. Dezember 1969 in Kraft gewesenen Satzung mit dem Vierfachen des nach dem Gefahrtarif berechneten Beitrages des letzten Geschäftsjahres.
Die Klägerin zahlte der Beklagten nur den Betrag von 3.203,96 DM und erhob gegen den Bescheid vom 10. Oktober 1969 Widerspruch mit der Begründung, daß die von ihr vom 29. März bis 29. August 1969 ausgeführten Bauarbeiten gewerbsmäßig ausgeführt worden seien, nachdem sie in die Handwerksrolle eingetragen worden sei.
Widerspruch, Klage und Berufung blieben ohne Erfolg (Bescheid vom 14. April 1970, Urteil des Sozialgerichts - SG - Kiel vom 10. Februar 1971, Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts - LSG - vom 15. Dezember 1971). Das Berufungsurteil ist im wesentlichen auf folgende Überlegungen gestützt:
Die von der Klägerin in der Zeit vom 29. März bis 29. August 1969 ausgeführten Bauarbeiten seien nicht gewerbsmäßig i. S. von § 728 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) iVm § 63 Abs. 1 der s. Zt. geltenden Satzung der Beklagten gewesen. Dem Betrieb der Klägerin habe die für die Annahme der Gewerbsmäßigkeit erforderliche Bestandssicherung gefehlt, weil die Klägerin damals noch nicht in der Handwerksrolle eingetragen gewesen sei. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 HandwO sei die Klägerin nicht befugt gewesen, Bauarbeiten durchzuführen; nach §§ 16 Abs. 3 Satz 1, 117 Abs. 2 HandwO hätte ihr die zuständige Behörde jederzeit die Fortsetzung des Betriebes untersagen und ihr eine Geldbuße auferlegen können. Dem stehe der Umstand nicht entgegen, daß die materiellen Voraussetzungen für die Eintragung, wie die Klägerin vortrage, schon vorher gegeben gewesen seien und deshalb die Möglichkeit einer Eintragung in die Handwerksrolle von Amts wegen bestanden habe. Denn eine solche Eintragung sei tatsächlich nicht erfolgt.
Das LSG hat die Revision zugelassen. Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet:
Da die materiellen Voraussetzungen für eine Eintragung in die Handwerksrolle schon seit 1. Oktober 1967 vorgelegen hätten, wäre für eine zwangsweise Beendigung des Baubetriebes kein Raum gewesen. Das vom LSG zur Stützung seiner Auffassung herangezogene Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 18.12.1969 (2 RU 314/67) betreffe einen ganz anders gelagerten Fall. Das LSG sei mithin zu Unrecht davon ausgegangen, daß es an einer Bestandssicherung gefehlt habe.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG vom 10. Februar 1971 die Bescheide der Beklagten vom 10. Oktober 1969 und 14. April 1970 insoweit aufzuheben, als darin ein höherer Beitrag als DM 3.203,96 festgesetzt worden ist.
Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Klägerin hatte Erfolg.
Die Begründung, mit der das LSG die in Betracht kommenden Bauarbeiten für nicht gewerbsmäßig erachtet hat, ist nicht frei von Rechtsirrtum. Es ist zwar richtig, daß Bauarbeiten dann nicht als gewerbsmäßig i. S. der §§ 728 Abs. 3, 729 Abs. 2 RVO anzusehen sind, wenn der Bestand des Baubetriebes nicht gesichert ist. Denn von dem Erfordernis des Merkmals der Bestandssicherung ist die Rechtsprechung des früheren Reichsversicherungsamts (RVA) von jeher ausgegangen (vgl. EuM 21, 205, (206); 26, 33 (35); für das heutige Recht kann nichts anderes gelten (vgl. BSG 30, 230 (235 f)). An der erforderlichen Sicherung des Bestandes kann es allerdings dann fehlen, wenn die Fortführung des Baubetriebes jederzeit durch behördliche Maßnahmen verhindert werden kann. Deshalb hat der 2. Senat des BSG in BSG 30, 230, 236 das Vorliegen nicht gewerbsmäßiger Bauarbeiten in einem Falle angenommen, in dem der Bauunternehmer die Arbeitsprobe nicht bestanden und damit nicht die Voraussetzung erfüllt hatte, unter der er eine Ausnahmebewilligung zur Eintragung in die Handwerksrolle hätte erhalten können. Außerdem war dieser Bauunternehmer, der sich ohne gesetzliche Erlaubnis weiterhin bauhandwerklich betätig hatte, in eine Ordnungsstrafe wegen gesetzwidriger Ausübung des Bauhandwerks genommen worden. Dieser Fall unterscheidet sich aber ganz erheblich von dem hier vorliegenden Sachverhalt. Dazu hat das LSG festgestellt, daß die Klägerin schon seit 1966 mit einem Bauarbeiterstamm von etwa 20 bis 25 Mann Umbau- und Modernisierungsarbeiten an Häusern durchführte. Ab 1. Oktober 1967, also schon längere Zeit vor den hier in Betracht kommenden Bauarbeiten, war Maurermeister N in diesem Bereich als Bau- und Einsatzleiter tätig. Am 29. März 1969, als die hier streitigen Bauarbeiten begannen, bestand sonach einerseits schon seit geraumer Zeit ein regelrechter Baubetrieb und anderseits war kein Grund ersichtlich, weshalb der Klägerin unter diesen Umständen die Eintragung in die Handwerksrolle hätte versagt werden dürfen. Demgemäß ist die Eintragung in die Handwerksrolle - nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG - auch am 8. Oktober 1969 auf den Antrag der Klägerin erfolgt, ohne daß auch nur die geringsten Anstände bekanntgeworden wären. Sonach kann nicht festgestellt werden, daß der Bestand des Baubetriebs im März 1969 nicht in der Weise gesichert gewesen wäre, wie es von der Rechtsprechung gefordert wird. Denn es hat sich weder um einen Baubetrieb gehandelt, der etwa nur auf die Ausführung eines Baues gerichtet war, noch um ein Unternehmen, bei dem es über einen bloßen Versuch zur Begründung der Selbständigkeit nicht hinauskam, weil es an baugewerblicher Ausbildung und eigenem Betriebskapital fehlte (vgl. EuM 26, 33, 35 und Beschluß des RVA vom 12. Januar 1899, AN 1899 S. 470, 471 und BSG 30, 230, 235). Vielmehr bestand nicht nur die Absicht, einen dauernden, selbständigen Betrieb zur gewerbsmäßigen Ausführung von Bauarbeiten zu begründen, sondern der Baubetrieb hatte im März 1969 auch tatsächlich schon über ein Jahr als gewerbsmäßiger Baubetrieb bestanden (vgl. EuM 21, 205, 206). Daß der Betrieb in den Jahren nach 1969 - etwa durch Zahlungsunfähigkeit (vgl. EuM 21, 206) oder aus anderen Gründen- eingestellt worden wäre, ist überdies nicht behauptet oder ersichtlich. Der Senat ist daher unter Würdigung der seitherigen Rechtsprechung und des Sinns und Zwecks der §§ 728 Abs. 3, 729 Abs. 2 RVO - vgl. dazu BSG 30, 230, 235, 236 - zu dem Ergebnis gelangt, daß der Bestand des Baubetriebs in der Zeit vom 29. März bis 29. August 1969 gesichert gewesen ist und daß es allein wegen des Umstandes, daß die Eintragung in die Handwerksrolle erst am 8. Oktober 1969, aber noch im selben Beitragsjahr erfolgte, nicht gerechtfertigt ist, von der Klägerin den erhöhten Beitrag für nicht gewerbsmäßige Bauarbeiten (§ 728 Abs. 3 RVO) zu fordern.
Im übrigen hat das LSG aus dem zeitweiligen Fehlen der Eintragung in die Handwerksrolle - ein solches Erfordernis ist in § 728 Abs. 3 RVO nicht genannt - ohnedies zu weitgehende Schlußfolgerungen gezogen. Zwar ist nach § 1 HandwO der selbständige Betrieb eines Handwerks als stehendes Gewerbe nur der in die Handwerksrolle eingetragenen natürlichen und juristischen Personen sowie Personengesellschaften gestattet; danach war die Klägerin während der in Betracht kommenden Zeit zur Ausübung des Baubetriebes nicht befugt, weil es damals noch an der Eintragung in die Handwerksrolle fehlte. Daraus folgt jedoch noch nicht, daß der Klägerin die Fortführung des Betriebes hätte untersagt werden können. Eine solche Möglichkeit ergab sich insbesondere auch nicht aus § 16 Abs. 3 Satz 1 HandwO. Das LSG unterstellt, daß die materiellen Voraussetzungen einer Eintragung in die Handwerksrolle erfüllt waren; geht man hiervon aus, so hätte der rechtswidrige Zustand durch eine Eintragung von Amts wegen beseitigt werden können (§ 10 Abs. 1 HandwO). Dabei ist es entgegen der Ansicht des LSG ohne Belang, daß eine solche Eintragung zunächst nicht vorgenommen worden ist; die bloße Möglichkeit, so zu verfahren, schloß ein Verbot nach § 16 Abs. 3 HandwO aus (vgl. Eyermann-Fröhler, Komm. zur HandwO, 2. Aufl, Rand-Nr. 73 zu § 1). Aus dem Kommentar von Hartmann/Philipp zur HandwO, 1954, S. 114, auf den das LSG Bezug nimmt, ergibt sich zur Überzeugung des Senats nichts Gegenteiliges. Abgesehen davon, daß er diese Ansicht - ohne nähere Begründung - nur als "fraglich" bezeichnet, berücksichtigt er dabei nicht, daß es die sich als übergreifende Leitregeln allen staatlichen Handelns zwingend aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots (vgl. BVerfGE 23, 127 (133); 6, 389 (439)) verbieten würden, in die Grundrechte der Bürger weiter einzugreifen, als es zur Erreichung des von der Verfassung anerkannten Zwecks geboten ist. Kann ein gesetzwidriger Zustand durch mehrere gleichermaßen geeignete Mittel beseitigt werden, so ist nur das Mittel zulässig, durch das der Bürger am wenigsten beschwert wird. Hiergegen würde die zuständige Behörde verstoßen, wenn sie, statt eine Eintragung in die Handwerksrolle zu veranlassen, nach § 16 Abs. 3 Satz 1 HandwO vorgegangen wäre; sie hätte damit in das Grundrecht der Klägerin aus Art. 12 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) in einer Weise eingegriffen, die nach der Sachlage unter keinem Gesichtspunkt zur Herstellung eines gesetzmäßigen Zustandes erforderlich und damit gerechtfertigt gewesen wäre; ein solcher Eingriff hätte in keinem vernünftigen Verhältnis zu dem gegebenen Anlaß und dem mit ihm verfolgten Ziel gestanden und wäre damit übermäßig belastend gewesen (vgl. BVerfGE 15, 226 (234); 30, 336 (351)). Es kann daher nicht unterstellt werden, daß die zuständige Behörde die vorstehenden Überlegungen bei der hier gegebenen Sachlage außer acht gelassen hätte, wie es ja auch an jedem Anhalt dafür fehlt, daß ein Vorgehen nach § 16 Abs. 3 Satz 1 HandwO von ihr jemals auch nur in Betracht gezogen worden ist. Somit konnte auch der Annahme des LSG, die Klägerin sei der Gefahr einer zwangsweisen Beendigung ihres Baubetriebs ausgesetzt gewesen, nicht gefolgt und das Merkmal der Bestandssicherung - im Gegensatz zu dem vom 2. Senat durch Urteil vom 18. Dezember 1969 (BSG 30, 230) entschiedenen Fall - hier nicht angezweifelt werden.
Da sonach der Rechtsauffassung des LSG - wie auch des SG - nicht gefolgt werden konnte und in rechnerischer Hinsicht kein Streit besteht, war unter Aufhebung der ergangenen Urteile entsprechend dem Antrag der Revisionsklägerin - wie geschehen - zu erkennen. Die Frage, ob die Beklagte oder die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft - bzw. für welche Zeiträume sie - zur Versicherung bzw. Mitversicherung nach § 647 Abs. 1 RVO zuständig gewesen sind, ist nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens (§ 123 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen