Leitsatz (redaktionell)
1. Eine Regelleistung ist iS von AVG § 82 Abs 5 (= RVO § 1303 Abs 5) auch dann gewährt worden, wenn sie dem Versicherten nicht in dem zulässigen Gesamtumfang, sondern nur zu einem Teil erbracht worden ist (Anschluß an und Fortführung von BSG 1978-03-15 1/5 RJ 136/76 = BSGE 46, 67, 70, 71).
2. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch besteht nicht, wenn der Versicherungsträger keine Pflichten gegenüber dem Versicherten, sondern allenfalls Pflichten gegenüber der Versichertengemeinschaft zur Verhütung ungerechtfertigter Leistungen verletzt hat.
Orientierungssatz
Zum Begriff "gewährt" - Verfassungsmäßigkeit des RVO § 1303 Abs 5:
1. Unter dem Begriff "gewährt" iS von RVO § 1303 Abs 5 (= AVG § 82 Abs 5) ist nicht schon die Bewilligung oder Feststellung, sondern die tatsächliche Erbringung der Leistung zu verstehen (Anschluß an BSG 1978-03-15 1/5 RJ 136/76 = BSGE 46, 67).
2. RVO § 1303 Abs 5 (= AVG § 82 Abs 5) verstößt nicht gegen GG Art 14 (vgl BSG 1977-12-15 11 RA 74/77 = BSGE 45, 251).
Normenkette
GG Art. 14 Fassung: 1949-05-23; AVG § 82 Abs. 1 Fassung: 1972-10-16, Abs. 5 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1303 Abs. 1 Fassung: 1972-10-16, Abs. 5 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Erstattung von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung.
Für den 1938 geborenen Kläger indischer Staatsangehörigkeit wurden von Juli 1959 bis April 1977 Pflichtbeiträge zur deutschen Rentenversicherung entrichtet. Im März 1976 beantragte er bei der Beklagten medizinische Leistungen zur Rehabilitation wegen nervöser Erschöpfung und Herzinsuffizienz. Der behandelnde Internist bescheinigte ihm nervöse Herzstörungen und labilen Kreislauf mit zunehmendem nervösen Erschöpfungszustand; der im Auftrage der Beklagten untersuchende Arzt stellte eine stenocardia vasomotorica fest. Das hierauf von der Beklagten für die Dauer von 4 Wochen bewilligte Heilkurverfahren trat der Kläger am 15. April 1976 an; wegen einer am 28. April 1976 akut auftretenden paranoid-halluzinatorischen Psychose wurde es am Ende des Monats abgebrochen. Im April 1977 kehrte der Kläger nach Indien zurück. Seinem Antrag, ihm die gesamten Beitragsanteile zur Rentenversicherung gemäß § 82 Abs 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zu erstatten, gab die Beklagte unter Hinweis auf die gewährte Regelleistung nur für die Zeit ab April 1976 statt (Bescheid vom 28. Oktober 1977).
Die Klage und die - vom Sozialgericht (SG) zugelassene - Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 12. September 1980 den weitergehenden Erstattungsanspruch verneint, weil gemäß § 82 Abs 5 AVG nach der Gewährung einer Regelleistung aus der Versicherung - hier iS von § 12 Nr 1 AVG - nur die später entrichteten Beiträge zu erstatten seien. Dafür, daß die Leistung "gewährt" worden sei, komme es auf den Abbruch der Kur nicht an; maßgebend sei die Belastung der Versichertengemeinschaft mit Kosten. Ob anders zu entscheiden wäre, wenn die Beklagte vor einem Heilverfahren eine Kurunfähigkeit erkennen könne, möge dahinstehen; ein solcher Fall liege nicht vor. Auch ihre Auskunfts- und Beratungspflicht iS von §§ 14, 15 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - (SGB I) habe die Beklagte nicht verletzt, denn ohne konkreten Anlaß sei sie nicht verpflichtet, auf die Folgen eines Heilverfahrens für eine spätere Beitragserstattung hinzuweisen. Unter Berücksichtigung seines langen Aufenthaltes in Deutschland habe der Kläger gegenüber einem Inländer insoweit keine besonderen Rechte.
Mit der zugelassenen Revision beantragt der Kläger (sinngemäß),
die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Beklagte
unter Abänderung des angefochtenen Bescheides zu
verurteilen, ihm die noch nicht ausgezahlten Beitragsanteile
zu erstatten,
hilfsweise,
das Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit
zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das
Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Zur Begründung trägt er vor, durch das ihm mit dem Heilverfahrensangebot übermittelte Merkblatt sei er von der Beklagten über die Folgen einer Heilkur für eine spätere Beitragserstattung falsch unterrichtet worden; hierauf beruhe die Inanspruchnahme der Leistung. Auch hätten trotz der Angabe von nervöser Erschöpfung im Antrag weder der begutachtende Arzt noch der Kurarzt nach den Krankheitsursachen geforscht; anderenfalls wären die früheren Behandlungen wegen Schizophrenie festgestellt worden. Des weiteren meint er, eine Regelleistung sei iS des Gesetzes erst "gewährt", wenn sie voll erbracht und ordnungsgemäß durchgeführt werde. Bei ihm stehe die Leistung zudem in keinem Verhältnis zu den vorenthaltenen Beiträgen; diesen Mangel habe das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in dem Beschluß vom 20. März 1979 erkannt.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat keinen Erfolg; die Erstattung weiterer Beitragsanteile als von der Beklagten zugebilligt kann der Kläger nicht beanspruchen.
Nach § 82 Abs 1 Satz 1 AVG in der hier anzuwendenden Fassung des Rentenreformgesetzes (RRG) (vgl dazu SozR 2200 § 1303 Nr 5) ist dem Versicherten auf Antrag die Hälfte der entrichteten Beiträge zu erstatten, wenn die Versicherungspflicht in allen Zweigen der gesetzlichen Rentenversicherung entfällt, ohne daß das Recht zur freiwilligen Versicherung besteht. Dieses Recht haben nach § 10 Abs 1 AVG in der Fassung desselben Gesetzes nur die Personen, die in dessen Geltungsbereich wohnen oder sich gewöhnlich aufhalten sowie die Deutschen im Ausland; dem Kläger indischer Staatsangehörigkeit steht nach seiner Rückkehr nach Indien ein Weiterversicherungsrecht sonach nicht mehr zu. Gleichwohl kann er die Erstattung der vor April 1976 entrichteten Beitragsteile nicht verlangen. Seinem Begehren steht § 82 Abs 5 AVG entgegen, denn ihm ist iS dieser Vorschrift eine Regelleistung aus der Versicherung (s dazu §§ 12 Nr 1, 14 AVG) gewährt worden, so daß nur die später entrichteten Beiträge zu erstatten sind.
Zu dem Begriff "gewährt" hat der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) bereits entschieden, daß darunter nicht schon die Bewilligung oder Feststellung, sondern die tatsächliche Erbringung der Leistung zu verstehen sei (BSGE 46, 67 = SozR 2200 § 1303 Nr 11 mwN). Dem schließt der erkennende Senat sich an. Der 1. Senat hat jedoch weder entschieden noch kommt es darauf an, daß die Leistung in dem nach dem Gesetz zulässigen Umfang insgesamt erbracht sein muß; daß "die volle bewilligte Leistung" voll erbracht worden sei, verlangt § 82 Abs 5 AVG nicht.
Das wird dadurch bestätigt, daß zu den "Regelleistungen" iS der §§ 12, 82 Abs 5 AVG zB wiederkehrende Leistungen wie die Rentenleistungen gehören; insoweit war es aber nie zweifelhaft, daß schon eine einmalige Rentenzahlung die Erstattung der davor entrichteten Beiträge ausschließt, obgleich "die volle bewilligte Leistung" damit längst nicht erbracht ist. Dieses Verständnis entspricht zudem dem Sinn der Erstattungsregelung. Wie das BSG bereits mehrfach ausgeführt hat (SozR Nr 7 zu § 1303 RVO; SozR 2200 § 1303 Nrn 11 und 16), ist die Beitragserstattung ein Ausgleich ("eine Art Prämienrückgewähr") dafür, daß das von der Versichertengemeinschaft übernommene Versicherungsrisiko nicht eingetreten und eine Belastung der Versichertengemeinschaft nicht entstanden ist (so der erkennende Senat in SozR Nr 7 zu § 1303 RVO). Von beidem kann jedoch auch bei einer nur teilweise gewährten Leistung keine Rede mehr sein; hier hat die Versichertengemeinschaft schon für ein eingetretenes Risiko einstehen und Aufwendungen erbringen müssen.
Mit der in § 82 Abs 5 AVG getroffenen Regelung hat der Gesetzgeber nicht die Grenzen überschritten, die ihm verfassungsrechtlich gezogen sind. Wie der Senat in BSGE 45, 251, 254 zur Rückforderung von Beiträgen (§ 146 Abs 3 AVG aF) bereits dargelegt hat, ist es weder sachwidrig noch unverhältnismäßig, nach einem Heilverfahren alle Beiträge von der Rückgewähr auszuschließen, die diese Leistung mitgetragen haben. Die zu dieser Vorschrift geäußerten Gedanken haben auch für die Beitragserstattung Gültigkeit. Hier wie dort mag es zwar sein, daß dann dem Versicherungsträger Beitragswerte verbleiben, die den Aufwendungswert der Regelleistung übersteigen; das variable Wertverhältnis hängt jedoch stets von den Umständen des Einzelfalls ab. Darum erscheint eine Generalisierung angemessen, zumal eine solche Lösung dem Versicherungsprinzip entspricht, das für Leistungen aus der Rentenversicherung nicht ein striktes Gleichgewicht mit der vorherigen Beitragsleistung voraussetzt (BSGE aaO). Soweit der Kläger sich in diesem Zusammenhang auf den Beschluß des BVerfG vom 20. März 1979 (BVerfGE 51, 1 = SozR 2200 § 1315 Nr 5) beruft, geht er fehl; durch die zur Ruhensregelung des § 94 Abs 1 Nr 1 AVG ergangene Entscheidung wird die hier zu treffende Entscheidung nicht berührt (vgl dazu SozR 2200 § 1303 Nr 16).
Die vom Kläger gewollte Rechtsfolge läßt sich ferner nicht auf einen sozialrechtlichen "Herstellungsanspruch" (vgl BSGE 49, 76; 50, 88, 91) stützen. Dies würde (ua) voraussetzen, daß die Beklagte dem Kläger gegenüber Pflichten aus dem zwischen ihnen bestehenden Sozialversicherungsverhältnis verletzt hätte. Das trifft jedoch nicht zu, so daß es auf die weiteren Voraussetzungen des Herstellungsanspruchs (Kausalität für den Schaden) nicht ankommt.
Das LSG hat zunächst keine Feststellungen dahingehend getroffen, daß die Beklagte bzw die für sie tätig gewordenen Personen vor dem Kurbeginn eine Kurunfähigkeit des Klägers hätten erkennen können und müssen. Was die Revision in dieser Hinsicht bemerkt, stellt sich nicht als Verfahrensrüge, sondern als neues tatsächliches und damit für die Entscheidung des Senats unbeachtliches Vorbringen dar. Davon abgesehen kann es auch nicht als eine Verpflichtung der Beklagten gegenüber dem eine Heilkur beantragenden Antragsteller angesehen werden, entgegen dem Antrag die Kurunfähigkeit festzustellen. In ähnlichem Sinne hat der Senat in BSGE 45, 251, 253 schon zu den versicherungsmäßigen Voraussetzungen für die Leistung entschieden, daß Feststellungen dieser Art ausschließlich im Interesse der Versichertengemeinschaft geboten sind, um sie nicht mit ungerechtfertigten Leistungen zu belasten. Das gilt ebenso für die Prüfung der etwaigen Kurunfähigkeit. Ein Herstellungsanspruch kann jedoch nicht bestehen, wenn allenfalls Pflichten gegenüber der Versichertengemeinschaft verletzt wären.
Schließlich ist für eine falsche Beratung (Belehrung) oder falsche Auskunft (§§ 14, 15 SGB I) kein Anhalt ersichtlich. Abgesehen davon, daß die in der Revisionsbegründung erstmals behauptete Irreführung durch ein von der Beklagten übermitteltes Merkblatt vom Senat als tatsächliches Vorbringen nicht verwertet werden darf, besteht für die Beklagte keine rechtliche Verpflichtung, vor einem Heilverfahren den Antragsteller allgemein auf die Folgen für eine jetzt oder später möglicherweise gewollte Beitragserstattung hinzuweisen; dabei kann für Ausländer nichts anderes als für Inländer gelten. Darüber, wie zu entscheiden wäre, wenn der Kläger sich mit einem konkreten Auskunftsersuchen an die Beklagte gewandt hätte, ist hier nicht zu befinden; in diese Richtung gehende tatsächliche Feststellungen hat das LSG nicht getroffen.
Nach alledem war die Revision zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen
Haufe-Index 60397 |
RegNr, 9336 |
Das Beitragsrecht Meuer, B 60 A 9a 17/4 (LT1-2) |
MittLVA Oberfr 1982, 290 (SP1) |
Praxis 1982, 419-421 (LT1-2) |
SozR 2200 § 1303, Nr 20 (LT1-2) |
SozSich 1982, 61 (L1) |
SozSich 1982, 89 (L2) |