Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufungsausschluß. Dauerrente. Neufeststellung
Orientierungssatz
1. Änderungen in den Verhältnissen, die für die Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente gemäß § 587 RVO maßgebend gewesen sind, haben eine Neufeststellung der Rente iS des § 622 Abs 1 RVO zur Folge.
2. Geht es um die Frage, ob sich durch die Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente aus der Rentenversicherung die bei der gemäß § 587 RVO vorgenommenen Erhöhung der Dauerrente von 60 vH auf die Vollrente zugrunde gelegten Verhältnisse geändert haben, so betrifft die Berufung die Neufeststellung der Dauerrente iS des § 145 Nr 4 SGG und ist daher unzulässig.
Normenkette
SGG § 145 Nr. 4; RVO §§ 587, 622 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 31.05.1968) |
SG Koblenz (Entscheidung vom 04.04.1967) |
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 31. Mai 1968 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der 1908 geborene Kläger erlitt durch einen Arbeitsunfall am 27. März 1961 eine Schädelhirnverletzung, die zu Ausfallserscheinungen geführt hat. Gegen den Bescheid der Beklagten vom 7. Dezember 1962, durch den für die Zeit vom 25. August 1962 an eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 40 v. H. festgestellt worden war, erhob der Kläger Klage auf Gewährung einer Rente nach einem höheren Grad der MdE. Er wandte sich ferner mit einer selbständigen Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 6. Februar 1964, durch den sein Antrag, die Teilrente nach § 587 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) auf die Vollrente zu erhöhen, abgelehnt worden war. Beide Streitsachen wurden am 25. November 1965 vor dem Sozialgericht (SG) Koblenz durch Vergleich mit folgendem Wortlaut abgeschlossen:
"Die Beklagte gewährt dem Kläger aus Anlaß seines Arbeitsunfalls vom 27. März 1961, der eine MdE von 60 % bedingt, ab dem 1. September 1962 die Vollrente, solange der Kläger infolge des Arbeitsunfalls ohne Einkommen ist."
Mit Schreiben vom 17. Dezember 1965 gab die Beklagte dem Kläger die Höhe der vom 1. September 1962 an zugebilligten "Dauerrente von 60 v. H." sowie den jeweiligen Betrag der "Aufstockung" auf die Vollrente bekannt.
Im Zeitpunkt des Vergleichsabschlusses bezog der Kläger von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) Rente wegen Berufsunfähigkeit, erstrebte jedoch vor dem SG Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Durch einen im Januar 1966 erteilten Bescheid gewährte die BfA dem Kläger rückwirkend vom 1. Oktober 1963 an dauernde Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Hiervon erfuhr die Beklagte im Februar 1966. Durch Bescheid vom 26. Mai 1966 lehnte sie die Aufstockung der Teilrente auf die Vollrente vom 1. Oktober 1963 an ab, da dem Kläger mit Wirkung von diesem Zeitpunkt an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zuerkannt worden sei und deshalb die Voraussetzungen für die Anwendung des § 587 RVO nicht mehr vorlägen.
Mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage hat der Kläger die Ansicht vertreten, der Bezug einer Erwerbsunfähigkeitsrente aus der Rentenversicherung stehe dem Anspruch auf Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente nach § 587 Abs. 1 RVO nicht entgegen.
Die Beklagte hat ihre im angefochtenen Bescheid vertretene Auffassung aufrechterhalten und darauf hingewiesen, der Bescheid trage der nach Abschluß des Vergleichs eingetretenen wesentlichen Änderung der Verhältnisse Rechnung, die in der rückwirkenden Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente zu erblicken sei.
Das SG Koblenz hat durch Urteil vom 4. April 1967 die Beklagte verurteilt, dem Kläger vom 1. September 1962 an die Vollrente nach § 587 RVO zu gewähren. In den Gründen ist ausgeführt: Die Beklagte könne die Gewährung der Vollrente vom 1. Oktober 1963 an nicht mit der Begründung verweigern, der Kläger beziehe seitdem die Erwerbsunfähigkeitsrente. Die Gewährung könnte nur abgelehnt werden, wenn für die Erwerbsunfähigkeit des Klägers andere Umstände als die Unfallfolgen wesentlich mitursächlich wären. Der Unfall sei aber die alleinige Ursache der Erwerbsunfähigkeit und damit der Einkommenslosigkeit des Klägers. Ohne den Unfall würde er noch dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Die Beklagte könne von ihrer Zahlungsverpflichtung aus dem Vergleich nur frei werden, wenn der Kläger wieder Arbeitseinkommen beziehe.
Mit der Berufung hat die Beklagte ihre Rechtsauffassung durch weitere Ausführungen vertieft und die Abweisung der Klage beantragt. Sie hat die Ansicht vertreten, der Berufungsausschlußgrund des § 145 Nr. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) komme nicht in Betracht, weil es sich nicht um die Neufeststellung der Dauerrente handele, wenn der Aufstockungsbetrag nach § 587 RVO in Wegfall komme; die Dauerrente betrage auch im Falle der Erhöhung auf die Vollrente hier lediglich 60 v. H., während es sich bei den weiteren 40 v. H. um den Aufstockungsbetrag des § 587 RVO handele.
Durch Urteil vom 31. Mai 1968 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung als unzulässig verworfen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Die Beklagte habe sich zur Herabsetzung der vom 1. September 1962 an laufenden Vollrente auf die Teilrente von 60 v. H. für berechtigt gehalten und damit eine Neufeststellung der Rente getroffen, weil die BfA dem Kläger durch Bescheid vom 24. Januar 1966 anstelle der Berufsunfähigkeitsrente vom 1. Oktober 1963 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bewilligt habe. Bei dem angefochtenen Bescheid handele es sich somit um die Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse gemäß § 622 RVO und damit um einen Streitgegenstand, der unter § 145 Nr. 4 SGG falle. Anwendungsfälle des § 150 SGG lägen nicht vor.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es u. a. wie folgt begründet: Die Auffassung des LSG, der streitbefangene Bescheid betreffe die Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse im Sinne von § 145 Nr. 4 SGG, stehe zwar in Einklang mit der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. August 1969 (SozR Nr. 18 zu § 145 SGG). Der dort vertretene Rechtsstandpunkt sei jedoch bedenklich, weil er dazu führe, daß die Entscheidung der bei der Anwendung des § 587 RVO auftretenden bedeutsamen Rechtsfragen grundsätzlich den erstinstanzlichen Gerichten überlassen bleibe. Es widerspreche dem besonderen Charakter der in § 587 RVO normierten Leistung, die der Behebung eines nur vorübergehenden, unter Umständen sehr kurz dauernden Zustandes der unfallbedingten Einkommenslosigkeit dienen solle, die Differenz zwischen der nach dem MdE-Grad bemessenen Teilrente und der Vollrente (den sog. Aufstockungsbetrag) als Dauerrente anzusehen; denn als Teil der Dauerrente könnte der Aufstockungsbetrag nicht - wie es dem Sinn des § 587 Abs. 1 RVO entspreche - mit dem Fortfall der Voraussetzungen dieser Vorschrift, sondern gemäß § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO nur in Abständen von mindestens einem Jahr in Wegfall kommen. Falls die Berufung jedoch in Fällen der vorliegenden Art nach § 145 Nr. 4 SGG ausgeschlossen sein sollte, sei zu erwägen, ob die Zulässigkeit des Rechtsmittels aus § 150 Nr. 3 SGG hergeleitet werden könne: Dem ursächlichen Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einem Arbeitsunfall sei der Kausalzusammenhangszweifel hinsichtlich der Verhältnisse zwischen der Einkommenslosigkeit und dem Arbeitsunfall gleichzuerachten. Schließlich sei die Berufung nach § 150 Nr. 2 SGG jedenfalls zulässig, weil das SG nur unter Verstoß gegen die Pflicht zur völligen Ausschöpfung des Akteninhalts zur Verurteilung auch für den Zeitraum vom 1. September 1962 bis zum 30. September 1963, für den der Kläger unstreitig die Vollrente erhalten habe, gekommen sei. Da das Urteil des SG nach jeder Richtung hin angegriffen worden sei, habe die Beklagte letztlich im Grunde auch diesen Verfahrensmangel gerügt.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene LSG-Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Der Kläger, der das angefochtene Urteil für zutreffend hält, beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision ist nicht begründet.
Das LSG hat die Berufung zu Recht als unzulässig verworfen. Es ist davon ausgegangen, daß es sich bei dem angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 26. Mai 1966, durch den die nach § 587 Abs. 1 RVO gewährte Vollrente auf die Teilrente nach einer MdE um 60 v. H. herabgesetzt worden ist, um die Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse handelt und die Berufung daher nach § 145 Nr. 4 SGG ausgeschlossen ist. Diese Auffassung trifft zu. Änderungen in den Verhältnissen, die für die Erhöhung der Teilrente auf die Vollrente gemäß § 587 RVO maßgebend gewesen sind, haben eine Neufeststellung der Rente im Sinne des § 622 Abs. 1 RVO zur Folge. Das ergibt sich, wie der erkennende Senat bereits ausgesprochen hat (vgl. SozR Nr. 18 zu § 145 SGG), aus dem Wesen der in § 587 RVO normierten Leistung. Bei der Vollrente, auf welche der Unfallversicherungsträger nach dieser Vorschrift die Teilrente zu erhöhen hat, weil der Verletzte infolge des Arbeitsunfalls ohne Arbeitseinkommen ist, handelt es sich nicht um eine auf ein und demselben Rechtsgrund beruhende einheitliche Leistung. Sie setzt sich vielmehr aus zwei Bestandteilen zusammen, denen unterschiedliche Schadenstatbestände zugrunde liegen. Es muß ein Anspruch auf Verletztenrente wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit des Verletzten in einem zum Bezug einer Teilrente berechtigenden Grad bestehen (§ 581 RVO). Wird diese Rente bei Vorliegen der besonderen Erfordernisse des § 587 RVO auf die Vollrente erhöht, ist dieser Teil der Leistung - vergleichbar der Kinderzulage (§ 583 RVO) - zwar von dem Anspruch des Verletzten auf eine Teilrente abhängig; da er jedoch teilweise auf anderen Tatsachen und rechtlichen Voraussetzungen als die nach § 581 RVO gewährte Rente beruht, stellt er einen rechtlich gesondert zu beurteilenden Bestandteil der nach § 587 RVO als Vollrente zu gewährenden Leistung dar. Wie bei der Kinderzulage führen Änderungen in den Verhältnissen, die für die Feststellung dieses Rentenbestandteils maßgebend gewesen sind, nach § 622 Abs. 1 RVO zur Neufeststellung der Rente. Da es im vorliegenden Fall um die Frage geht, ob sich durch die Gewährung der Erwerbsunfähigkeitsrente aus der Rentenversicherung die bei der gemäß § 587 RVO vorgenommenen Erhöhung der Dauerrente von 60 v. H. auf die Vollrente zugrunde gelegten Verhältnisse geändert haben, betrifft die Berufung die Neufeststellung der Dauerrente im Sinne des § 145 Nr. 4 SGG und ist daher unzulässig.
Gegen dieses Ergebnis läßt sich nicht einwenden, es werde dem besonderen Charakter der in § 587 RVO vorgesehenen Leistung nicht gerecht, die einen nur für vorübergehende Zeit bestehenden konkreten Vermögensschaden - das Fehlen von Arbeitseinkommen infolge eines Arbeitsunfalls - ausgleichen soll (vgl. Urteil des erkennenden Senats in BSG 30, 64 = SozR Nr. 5 zu § 587 RVO). Entgegen der Ansicht der Beklagten folgt aus der Anwendung des § 145 Nr. 4 SGG in Fällen der vorliegenden Art nicht, daß dem Verletzten die nach § 587 RVO vorgenommene Erhöhung einer Dauerrente auf die Vollrente auch bei frühzeitigem Wegfall der besonderen Voraussetzungen dieser Vorschrift jeweils mindestens ein Jahr lang zugute kommt. Die Regelung des § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO, nach welcher eine Dauerrente nur in Abständen von mindestens einem Jahr geändert werden darf, gilt für den nach der MdE (581 RVO) bemessenen, nicht jedoch für den Bestandteil der Leistung, der unter den Voraussetzungen des § 587 RVO gewährt wird. Die Anwendung der Schutzfristvorschrift des § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO auf die Leistung nach § 587 RVO würde mit dem Zweckgehalt dieser Vorschriften nicht in Einklang stehen. Ähnlich wie bei der Kinderzulage (§ 583 RVO), die ebenfalls ein Bestandteil der Rente ist, richtet sich die Gewährung der besonderen Leistung nach § 587 RVO nur auf eine absehbare Zeit, nicht auf Dauer (BSG 30, 64). Diesem Wesensgehalt der Leistung würde eine über den Wegfall ihrer Anspruchsvoraussetzungen unter Umständen lange hinausreichende Bezugsdauer nicht gerecht. Auch die Zweckbestimmung des § 622 Abs. 2 Satz 2 RVO, einer durch Änderung der Dauerrente in zu kurzen Zeiträumen bedingten Beunruhigung des Rentenempfängers vor allem wegen der damit verbundenen Gefahr für dessen Gesundung vorzubeugen (vgl. BSG 23, 218, 220 = SozR Nr. 1 zu § 622 RVO; SozR Nr. 7 zu § 622 RVO), läßt sich mit einer Anwendung der Schutzfrist auf die Leistung nach § 587 RVO nicht vereinbaren.
Bedenken gegen den Berufungsausschluß nach § 145 Nr. 4 SGG in Fällen der vorliegenden Art ergeben sich auch nicht daraus, daß die erstinstanzlichen Entscheidungen grundsätzlich einer Nachprüfung durch die Rechtsmittelinstanzen entzogen sind, obwohl bei der Auslegung des § 587 RVO bedeutsame Rechtsfragen auftreten können (vgl. SozR Nr. 9 zu § 145 SGG). Dieser Möglichkeit ist für alle Berufungsausschlußgründe dadurch Rechnung getragen, daß die Sozialgerichte zur Zulassung der Berufung verpflichtet sind, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 150 Nr. 1 Halbsatz 2 SGG).
Anwendungsfälle des § 150 SGG liegen, wie das LSG zutreffend angenommen hat, nicht vor. Das SG hat die Berufung nicht zugelassen (§ 150 Nr. 1 SGG). Einen wesentlichen Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG hätte die Beklagte, um die Berufung zulässig zu machen, im zweiten Rechtszug erheben müssen. Das ist aber entgegen der von der Beklagten vertretenen Ansicht nicht schon dadurch geschehen, daß sie mit der Berufung das Urteil des SG "nach jeder Richtung hin" angegriffen hat. Auch aus § 150 Nr. 3 SGG läßt sich die Zulässigkeit der Berufung nicht herleiten. Zu der von der Revision angeregten Prüfung, ob diese Vorschrift nicht nur bei einem - hier nicht bestehenden - Streit über den ursächlichen Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einem Arbeitsunfall, sondern auch bei Zweifelsfragen über die ursächliche Beziehung zwischen der Einkommenslosigkeit und einem Arbeitsunfall anwendbar ist, bietet sich kein Anlaß. Denn im vorliegenden Fall ist keine Kausalbeziehung, sondern die Frage streitig, ob in den bei der Leistungsgewährung zugrunde gelegten Verhältnissen eine wesentliche Änderung eingetreten ist.
Die Revision war deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen