Leitsatz (amtlich)
Ist im Berufungsverfahren streitig, ob eine als Dauerrente gewährte, unter Zugrundelegung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit bemessene Teilrente nach RVO § 587 auf die Vollrente zu erhöhen ist, ist das Rechtsmittel nach Maßgabe des SGG § 145 Nr 4 (Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse) ausgeschlossen.
Leitsatz (redaktionell)
Bei der Vollrente nach RVO § 587 handelt es sich nicht um eine auf demselben Rechtsgrund beruhende einheitliche Leistung. Sie setzt sich vielmehr, obwohl der Verletzte äußerlich nur eine Leistung, nämlich die Vollrente erhält, aus zwei Bestandteilen zusammen, welchen unterschiedliche Schadenstatbestände zugrunde liegen.
Voraussetzung ist einmal, daß ein Anspruch auf Verletztenrente besteht, die Erwerbsfähigkeit des Verletzten durch Unfallfolgen somit in rentenberechtigtem Grad - wenn auch nicht völlig - gemindert ist. Diese Rente wird, falls und solange die besonderen Erfordernisse des RVO § 587 erfüllt sind, auf die Vollrente erhöht.
Dieser Teil der Leistung hat also - vergleichbar der Kinderzulage (RVO § 583) - infolge seiner Abhängigkeit von dem Anspruch des Verletzten auf eine Teilrente dasselbe Schicksal wie die nach RVO § 581 bewilligte Rente. Da er jedoch teilweise auf anderen Tatsachen und rechtlichen Voraussetzungen wie die nach RVO § 581 gewährte Rente beruht, ist er insoweit ein rechtlich gesondert zu beurteilender Bestandteil der nach RVO § 587 als Vollrente zu gewährenden Leistung.
Normenkette
SGG § 145 Nr. 4 Fassung: 1958-06-25; RVO § 587 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 583 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 581 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 25. Januar 1968 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Bremen vom 15. März 1967 als unzulässig verworfen wird.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der im Jahre 1906 geborene Kläger erlitt am 19. Juli 1962 durch einen Arbeitsunfall eine schwere Schädelverletzung. Von der Beigeladenen erhält er deshalb Rente wegen Erwerbsunfähigkeit aus der Rentenversicherung der Arbeiter. Die Beklagte bewilligte dem Kläger zunächst die Vollrente und vom 1. Juli 1964 an Dauerrente unter Zugrundelegung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v.H. Diese Rente erhöhte sie von diesem Tage an, da der Kläger nach einer Auskunft des Arbeitsamts B vom 12. Juni 1964 sein Arbeitsverhältnis noch nicht gelöst und die Absicht hatte, die Arbeit wieder aufzunehmen, sobald seine gesundheitlichen Verhältnisse dies zuließen, auf die Vollrente, weil der Kläger infolge des Arbeitsunfalls ohne Arbeitseinkommen sei und somit die Voraussetzungen des § 587 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gegeben seien.
Durch Bescheid vom 22. April 1965 stellte sie die zusätzliche Leistung nach § 587 RVO ein, weil der Kläger wieder eine leichte Beschäftigung leisten könne, es jedoch bei ihm am Arbeitswillen fehle. Diesen Bescheid nahm die Beklagte auf die Anregung des Sozialgerichts (SG) Bremen in der mündlichen Verhandlung vom 15. November 1965 zurück; nach der Auffassung des SG sollte zunächst in einem Hirnverletztenheim eine arbeitstherapeutische Beeinflussung des hirnverletzten Klägers und unmittelbar danach dessen Arbeitseinsatz erfolgen.
Der Kläger wurde am 28. Januar 1966 auf Veranlassung der Beklagten in die Hirnverletzten-Kuranstalt "A" in M zwecks stationärer Behandlung aufgenommen. Durch Mitteilung vom 3. Februar 1966 brachte die Beklagte die Zusatzleistung nach § 587 RVO in Wegfall, weil der Kläger während der stationären Behandlung der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stehe. Den am 18. Mai 1966 gestellten Antrag des Klägers, ihm für die Zeit nach seiner Entlassung aus der Kuranstalt (24. Februar 1966) wieder die Vollrente zu gewähren, lehnte sie durch Bescheid vom 27. Juni 1966 ab, weil der Kläger wieder leichte Arbeiten verrichten könne und er weder ihre - der Beklagten - Bemühungen um Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß unterstützt noch von sich aus etwas unternommen habe, sein derzeitiges Los zu ändern; für die arbeitsablehnende Haltung des Klägers seien die körperlichen Unfallschäden nicht ursächlich.
Das SG Bremen hat durch Urteil vom 15. März 1967 die Klage mit der Begründung abgewiesen, es widerspreche dem Sinn des Gesetzes, daß der Kläger neben der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit noch die Leistung nach § 587 RVO erhalte. Das SG hat die Berufung nicht zugelassen.
Das Landessozialgericht (LSG) Bremen hat durch Urteil vom 25. Januar 1968 die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es ist der Auffassung, die Tatsache, daß der Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit beziehe, stehe nach dem Zweck des Gesetzes einer Erhöhung der Unfallrente nach § 587 RVO entgegen. Das Berufungsgericht hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat durch seine Prozeßbevollmächtigten dieses Rechtsmittel eingelegt und es u.a. wie folgt begründet: Die Entscheidung des LSG könne, wie sich aus einer Betrachtung des zeitlichen Zusammenhangs ergebe, im Ergebnis nicht richtig sein; die Beklagte habe dem Kläger, nachdem sie ihm 1 1/2 Jahre lang die Vollrente gewährt habe, deren Weiterzahlung nach einer einmonatigen Kur verweigert, obwohl sich in der Zwischenzeit in den tatsächlichen Umständen nichts geändert habe. Träfe die Auffassung des Berufungsgerichts zu, hätte dem Kläger von Anfang an die Vollrente nicht zugestanden.
Die Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beigeladene ist der Ansicht, daß dem Kläger die Vollrente zustehe.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung, des Urteils des SG sowie des Bescheides der Beklagten diese zu verurteilen, die Unfallrente vom 25. Februar 1966 an auf die Vollrente zu erhöhen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladene beantragt,
die angefochtene Entscheidung, das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten aufzuheben und diese zu verurteilen, die Unfallrente des Klägers vom 25. Februar 1966 an auf die Vollrente zu erhöhen.
II
Die - durch Zulassung - statthafte (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) Revision ist im Ergebnis nicht begründet.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG 1, 126, 128) ist bei einer zugelassenen Revision von Amts wegen zu prüfen, ob die Berufung zulässig ist. Das SG hat dieses Rechtsmittel nicht gemäß § 150 Nr. 1 SGG zugelassen. Es ist vorliegendenfalls nach § 145 Nr. 4 SGG ausgeschlossen, weil es sich um die Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse handelt und die Ausnahmegründe dieser Vorschrift nicht gegeben sind.
Daß eine Neufeststellung der Dauerrente vorliegt, ergibt sich aus dem Charakter der durch den Gesetzgeber des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) in § 587 RVO normierten Leistung. Bei der Vollrente, die nach dieser Vorschrift einem Verletzten, der infolge eines Arbeitsunfalls ohne Arbeitseinkommen ist, zu gewähren ist, handelt es sich nicht um eine auf ein und demselben Rechtsgrund beruhende einheitliche Leistung. Sie setzt sich vielmehr, obwohl der Verletzte äußerlich nur eine Leistung, nämlich die Vollrente, erhält, aus zwei Bestandteilen zusammen, welchen unterschiedliche Schadenstatbestände zugrunde liegen. Voraussetzung ist einmal, daß Anspruch auf Verletztenrente besteht, die Erwerbsfähigkeit des Verletzten durch Unfallfolgen somit in rentenberechtigendem Grad - wenn auch nicht völlig - gemindert ist (§ 581 RVO). Diese Rente wird, falls und solange die besonderen Erfordernisse des § 587 RVO - ohne Arbeitseinkommen infolge Arbeitsunfalls - erfüllt sind, auf die Vollrente erhöht. Dieser Teil der Leistung hat also - vergleichbar der Kinderzulage (§ 583 RVO) - infolge seiner Abhängigkeit von dem Anspruch des Verletzten auf eine Teilrente dasselbe Schicksal wie die nach § 581 RVO bewilligte Rente. Da er jedoch teilweise auf anderen Tatsachen und rechtlichen Voraussetzungen wie die nach § 581 RVO gewährte Rente beruht, ist er insoweit ein rechtlich gesondert zu beurteilender Bestandteil der nach § 587 RVO als Vollrente zu gewährenden Leistung. Dies schließt indessen nicht aus, daß - ähnlich der Kinderzulage (GE Nr. 4137, AN 1931, IV 323; EuM 19, 214; SozR Nr. 1 zu § 60 BVG; Schulte-Holthausen, Kommentar zur Unfallversicherung, 4. Aufl., S. 131 und 204; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 2 zu § 583 RVO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 1.2.69, Band II, S. 576 d) - Änderungen in den diesem Rentenbestandteil zugrundeliegenden tatsächlichen Verhältnissen eine Neufeststellung der Rente im Sinne des § 622 Abs. 1 RVO zur Folge haben. In der vorliegenden Streitsache geht es darum, ob die bereits seit Jahren unter Zugrundelegung einer MdE um 70 v.H. bindend festgestellte Dauerrente wieder auf die Vollrente zu erhöhen ist, nachdem diese nach Einleitung eines Heilverfahrens nicht mehr gewährt worden war. Es handelt sich somit um die Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse, so daß die Berufung nach § 145 Nr. 4 SGG ausgeschlossen ist.
Die Berufung ist nicht deshalb zulässig, weil der Kläger die Erhöhung seiner Rente nach abgeschlossener berufsgenossenschaftlicher Heilbehandlung begehrt. Die bis zum Beginn des Heilverfahrens nach § 587 RVO gewährte Vollrente ist nicht schlechthin aus diesem Grunde, sondern von der Beklagten nicht mehr gezahlt worden, weil der Kläger nicht mehr infolge des Arbeitsunfalles arbeitslos sei. Im übrigen fällt seit dem Inkrafttreten des UVNG selbst eine allein aufgrund des § 581 RVO bewilligte Rente bei Gewährung einer Heilanstaltspflege nicht mehr, wie dies nach dem früheren Recht der Fall war (§ 559 e RVO aF), von selbst weg, sie wird in einem solchen Fall vielmehr unverändert weitergezahlt (Lauterbach, aaO, Anm. 1 zu § 585 RVO). Somit findet nach Beendigung eines solchen Heilverfahrens nicht mehr, wie nach dem bisherigen Recht, eine Neufeststellung der Rente statt; dies wurde einer erstmaligen Feststellung der Dauerrente gleich erachtet, für die nach Maßgabe der ersten Alternative des § 145 Nr. 4 SGG die Berufung ausgeschlossen gewesen ist (SozR Nr. 4 zu § 145 SGG; Urteil des erkennenden Senats vom 25. Juni 1964 - 2 RU 226/60). Der Umstand, daß der Kläger die Wiedergewährung der Vollrente nach Durchführung eines Heilverfahrens begehrt, begründet somit die Zulässigkeit der Berufung nicht.
Die Revision ist sonach, da bereits die Berufung unzulässig gewesen ist und wesentliche Mängel des Verfahrens im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG im zweiten Rechtszug nicht gerügt worden sind, nicht begründet. Sie war deshalb mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß die Berufung gegen das Urteil des Erstgerichts als unzulässig zu verwerfen war. Der zugunsten jedes Rechtsmittelklägers geltende Grundsatz des Verbots der Schlechterstellung wird durch diese Entscheidung nicht berührt (BSG 2, 225, 228).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen