Entscheidungsstichwort (Thema)

Zulässigkeit der Berufung. Umtausch eines Schwerbehindertenausweises in einen mit orangefarbenem Flächenaufdruck

 

Orientierungssatz

Die Berufung ist nicht gemäß § 3 Abs 6 S 4 SchwbG ausgeschlossen, wenn mit dem Klageanspruch nicht eine erhebliche Gehbehinderung als gesundheitliches Merkmal für freie Fahrt im öffentlichen Nahverkehr geltend gemacht werde, sondern es vielmehr darum ging, ohne eine solche Feststellung einen Ausweis zu erhalten, der zur freien Fahrt im öffentlichen Nahverkehr berechtigt.

 

Normenkette

SchwbG § 3 Abs 4; SchwbG § 3 Abs 6 S 4; UnBefG 1979 Art 3 Abs 2; SchwbG § 57 Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 21.06.1983; Aktenzeichen L 6 V 174/82)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 25.06.1982; Aktenzeichen S 33 V 233/81)

 

Tatbestand

Die Klägerin ist Inhaberin eines Schwerbehindertenausweises, der von dem Oberstadtdirektor der Stadt M, Fürsorgestelle für Kriegsopfer, am 28. Dezember 1973 mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 80 vH und Gültigkeit bis 1986 ausgestellt worden ist. Mit ihrem Antrag vom 3. August 1979 begehrte die Klägerin, nach Art 3 des Gesetzes über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr (UnBefG) vom 9. Juli 1979 (BGBl I, 989) ihren bisherigen Ausweis in einen neuen mit orangefarbenem Feld ohne erneute Prüfung des Gesundheitszustandes umzutauschen. Nach Einholung von ärztlichen Äußerungen hat das Versorgungsamt mit Bescheid vom 13. März 1980 Behinderungen der Klägerin mit einer MdE um 50 vH festgestellt und eine erhebliche Gehbehinderung verneint. Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin Widerspruch eingelegt, über den noch nicht entschieden worden ist.

Am 18. September 1981 hat die Klägerin Klage erhoben, mit der sie die Ausstellung eines Ausweises mit orangefarbenem Flächenaufdruck im Sinne des Art 3 Abs 2 UnBefG begehrt hat. Das Sozialgericht (SG) hat der Klage entsprochen. Die vom Landesversorgungsamt eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (LSG) am 21. Juni 1983 als unzulässig verworfen. Es hat dazu ausgeführt: Das Begehren der Klägerin ziele zwar auf Ersatz ihres Ausweises durch einen neuen mit orangefarbenem Flächenaufdruck; Kern des Rechtsstreits sei jedoch die Feststellung einer Vergünstigung nach § 3 Abs 4 Schwerbehindertengesetz (SchwbG). Deshalb gehe es hier in dem fehlgelaufenen und damit besonders gelagerten Fall um eine Feststellung nach § 3 Abs 4 SchwbG. Für diese Streitigkeiten sei eine Berufung nach § 3 Abs 6 SchwbG nicht zulässig.

Auf die Beschwerde des Beklagten hat der Senat die Revision zugelassen.

Der Beklagte wendet sich dagegen, daß das LSG statt eines Sachurteils ein Prozeßurteil erlassen habe; damit habe es gegen § 3 Abs 6 Satz 1 bis 4 SchwbG und die §§ 143 und 158 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verstoßen. Die Berufung sei nicht ausgeschlossen, weil die Klägerin gerade nicht eine erhebliche Gehbehinderung als gesundheitliches Merkmal für freie Fahrt im öffentlichen Nahverkehr geltend gemacht habe, sondern es ihr vielmehr allein darum gegangen sei, ohne eine solche Feststellung einen Ausweis zu erhalten, der zur freien Fahrt im öffentlichen Nahverkehr berechtige.

Der Beklagte beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 21. Juni 1983 und des Sozialgerichts Düsseldorf vom 25. Juni 1982 aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise, die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Meinung, daß der von ihr begehrte Ausweis die Feststellung enthalte, daß sie "Freie Fahrt im öffentlichen Nahverkehr" zugebilligt bekomme. Gegen eine solche Feststellung sei die Berufung nach § 3 Abs 4 mit § 3 Abs 6 SchwbG nicht zulässig.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Beklagten ist im Sinne des Hilfsantrages begründet. Das LSG durfte die Berufung nicht als unzulässig verwerfen.

Gegen die Urteile der Sozialgerichte findet die Berufung an das LSG statt (§ 143 SGG). Dies gilt nicht, soweit sich aus anderen Vorschriften etwas anderes ergibt. Die Meinung des LSG, hier sei die Berufung nach § 3 Abs 6 Satz 4 SchwbG nicht zulässig, trifft nicht zu. Zwar ist es richtig, daß der Kern des Begehrens der Klägerin darauf gerichtet ist, einen Ausweis zu erhalten, gegen dessen Vorzeigen sie im Nahverkehr unentgeltlich zu befördern ist (vgl § 57 Abs 1 SchwbG). Zur Erlangung dieses Ausweises hat sie jedoch nach dem Inhalt des Sozialgerichts-Urteils keinen Antrag nach § 3 SchwbG gestellt, sondern sich darauf berufen, daß sie nach dem UnBefG diesen neuen mit einem orangefarbenen Flächenaufdruck gekennzeichneten Ausweis als Ersatz für ihren bisherigen Ausweis zu erhalten habe (Art 3 Abs 2 des Gesetzes). Der prozessuale Anspruch der Klägerin geht also dahin, ihr außerhalb des Verfahrens und der Feststellungen gemäß § 3 SchwbG einen neuen Ausweis deshalb auszustellen, weil sie bereits seit 1973 einen Schwerbehindertenausweis mit der Feststellung einer MdE um 80 vH und der Gültigkeit bis 1986 besitzt. Dieser geltend gemachte Anspruch ist ein anderer als der nach § 3 SchwbG, wenngleich er das Ziel verfolgt, einen Schwerbehindertenausweis neuen Rechts zu erhalten.

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG betraf also keine Feststellung nach § 3 Abs 4 SchwbG und war deshalb nach § 3 Abs 6 SchwbG nicht ausgeschlossen. Auch ein Ausschlußgrund nach § 148 SGG ist nicht gegeben. Das LSG hat deshalb über die Berufung zu entscheiden.

Das LSG wird zu überprüfen haben, ob die Auffassung des SG über die Klageart richtig ist; insbesondere ob der Klageanspruch der Klägerin auf Ersetzung ihres Ausweises aus Art 3 Abs 2 UnBefG vom 9. Juli 1979 begründet ist und erfüllt werden könnte, ohne daß ein Verwaltungsakt zu ergehen hätte. Weiter wird das LSG zu erwägen haben, ob dem Beklagten Gelegenheit zu geben ist, über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 13. März 1980 zu entscheiden, und ob beide Bescheide dann nach §§ 153, 96 SGG in das Verfahren einbezogen sind. Für den Rechtszustand seit dem 1. April 1984 verweist der Senat auf seine Urteile vom 24. April 1985, insbesondere auf das veröffentlichte Urteil in der Sache 9a RVs 11/84 (BSGE 58, 72 = SozR 3870 § 58 Nr 1).

Das LSG wird auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656562

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge