Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachentrichtungsrecht nach § 10a WGSVG bei Auswanderung im Vorschulalter
Orientierungssatz
Das Nachentrichtungsrecht nach § 10a Abs 2 WGSVG wird nicht schon durch die bindende Gewährung einer Entschädigung wegen Ausbildungsschadens begründet. Es setzt außerdem voraus, daß ein verfolgungsbedingter Ausbildungsschaden vorliegt. Nach der Rechtsprechung des BGH liegt ein Ausbildungsschaden jedoch nicht vor, wenn der Verfolgte im Kindesalter vor Beginn der Schulpflicht ausgewandert ist.
Normenkette
WGSVG § 10a Abs 2; AnVNG Art 2 § 49a Abs 2; BEG §§ 116, 118; ArVNG Art 2 § 51a Abs 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger berechtigt ist, gemäß § 10a des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) Beiträge zur Rentenversicherung der Angestellten nachzuentrichten.
Der 1932 geborene Kläger wanderte 1934 mit seinen Eltern aus Verfolgungsgründen von Deutschland nach Palästina aus. Durch Vergleich vom 25. November 1958 gewährte ihm das Entschädigungsamt Berlin eine Entschädigung wegen Schadens in der Ausbildung in Höhe von 5.000,-- DM. Im September 1965 machte der Kläger eine weitere Ausbildungsentschädigung geltend. Dies lehnte das Entschädigungsamt Berlin durch Bescheid vom 27. Mai 1966 mit der Begründung ab, der Kläger habe, da er im Alter von einem Jahr, also vor der Einschulung, ausgewandert sei, keinen Anspruch auf Entschädigung für Schaden in der Ausbildung gemäß §§ 115 ff des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG).
Den Antrag des Klägers vom Dezember 1981 auf Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10a WGSVG und Art 2 § 49a Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, die im Vergleichswege zuerkannte Entschädigung komme als Anspruchsvoraussetzung für eine Nachentrichtung nach § 10a WGSVG nicht in Betracht, weil der Kläger vor Beginn der Schulausbildung ausgewandert und somit ein Ausbildungsschaden nicht eingetreten sei (Bescheid vom 25. Februar 1983; Widerspruchsbescheid vom 10. Januar 1984).
Das Sozialgericht (SG) Berlin gab der Klage statt und verurteilte die Beklagte, den Kläger zur Nachentrichtung nach § 10a WGSVG vorbehaltlich einer Beitragsentrichtung für mindestens 60 Kalendermonate nach Art 2 § 49a AnVNG zuzulassen (Urteil vom 5. August 1985). Das SG vertrat die Auffassung, daß dem Kläger mit dem Vergleich vom 25. November 1958 eine Ausbildungsentschädigung bestandskräftig zuerkannt worden sei. § 10a Abs 2 WGSVG könne nicht so ausgelegt werden, daß nicht die bestandskräftig gewordene Entschädigungsentscheidung, sondern die Anspruchsberechtigung nach den §§ 115 ff BEG vorauszusetzen sei.
Das Landessozialgericht (LSG) Berlin hat auf die Berufung der Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Juni 1986). Es hat im Gegensatz zum SG dem Vergleich vom 25. November 1958 keine bindende Wirkung auf das Nachentrichtungsverfahren beigemessen. Der Kläger habe selbst mit seinem neuen Antrag vom 21. September 1965 diesen Vergleich angefochten. Bei ihrer Bescheiderteilung im Jahre 1966 habe die Entschädigungsbehörde folglich erneut und unabhängig von ihrer früheren Entscheidung zu prüfen gehabt, ob die gesetzlichen Voraussetzungen eines Ausbildungsschadens gegeben seien. Die Tatbestandswirkung des Bescheides vom 27. Mai 1966 verpflichte die Beklagte zur Übernahme der Feststellung, daß der Kläger nicht wegen Schadens in der Ausbildung iS der §§ 115 ff BEG zu entschädigen sei. Lägen somit die Voraussetzungen für die Nachentrichtung nach § 10a Abs 2 WGSVG nicht vor, könne auch das Recht zur Nachentrichtung nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG mangels Neueröffnung der abgelaufenen Frist nicht bejaht werden.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision trägt der Kläger vor, im Rahmen des § 10a WGSVG komme es nicht auf eine Tatbestandswirkung, sondern auf die Rechtswirkung einer ergangenen Entscheidung nach dem BEG an. Eine solche Rechtswirkung entfalte auch der Vergleich vom 25. November 1958. Die Entschädigungsbehörden seien an diesen Vergleich gebunden gewesen und auch er, der Kläger, habe nicht das Recht gehabt, den Vergleich durch Anfechtung aufzulösen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das LSG hat zu Recht einen Anspruch des Klägers auf Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10a Abs 2 WGSVG und nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG verneint.
Nach § 10a Abs 2 WGSVG können Verfolgte mit einer Versicherungszeit von mindestens 60 Kalendermonaten, denen wegen eines Schadens in der Ausbildung iS des BEG rechtskräftig oder unanfechtbar eine Entschädigung nach § 116 oder § 118 BEG zuerkannt worden ist, Beiträge in dem in Abs 1 näher bezeichneten Umfang nachentrichten. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sieht der Kläger als erfüllt an, weil ihm durch den Vergleich vom 25. November 1958 eine Ausbildungsentschädigung zuerkannt wurde und dies für die Beklagte verbindlich sei. Dieser Auffassung ist das LSG zutreffend nicht gefolgt.
Ob der genannte Vergleich als formelle Rechtsgrundlage für die gewährte Entschädigung bestehen geblieben ist oder ob er, wie das LSG meint, durch eine in dem Neuantrag des Klägers vom 21. September 1965 zu erblickende Anfechtung seine Wirkung verloren hat, kann dahinstehen; denn das Nachentrichtungsrecht nach § 10a Abs 2 WGSVG wird nicht schon durch die bindende Gewährung einer Entschädigung wegen Ausbildungsschadens begründet. Es setzt außerdem voraus, daß ein verfolgungsbedingter Ausbildungsschaden vorliegt. Ein Ausbildungsschaden ist aber in der Person des Klägers nicht eingetreten. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) liegt ein Ausbildungsschaden nicht vor, wenn der Verfolgte - wie auch der Kläger - im Kindesalter vor Beginn der Schulpflicht ausgewandert ist (vgl BGH, RzW 60, 75 Nr 24; 61, 454 Nr 20). Dem schließt sich der erkennende Senat an.
Daß das Nachentrichtungsrecht nach § 10a Abs 2 WGSVG außer der Zubilligung einer Entschädigung auch das Vorliegen eines Ausbildungsschadens erfordert, läßt sich allerdings dem Wortlaut des Gesetzes allein nicht entnehmen. Er kann sowohl dahin gedeutet werden, daß die Tatsache der bindenden Bewilligung einer Entschädigung wegen Ausbildungsschadens durch das Entschädigungsamt (bei Vorliegen der Vorversicherungszeit) ohne weiteres das Nachentrichtungsrecht begründet; die Entscheidung des Entschädigungsamts hätte dann für § 10a Abs 2 WGSVG Tatbestandswirkung und wäre von dem Rentenversicherungsträger als auch für ihn bindend hinzunehmen. Der Wortlaut von § 10a Abs 2 WGSVG läßt aber auch die Deutung zu, daß die Entschädigung "wegen eines Schadens in der Ausbildung" gewährt sein, dieser also vorliegen muß. Der Rentenversicherungsträger hätte dann zu prüfen, ob wirklich ein Ausbildungsschaden vorliegt, ohne insoweit an die Entscheidung der Entschädigungsbehörde gebunden zu sein.
Bei dieser Mehrdeutigkeit des Gesetzeswortlauts hat die Begründung, die im Gesetzgebungsverfahren für die Einführung von § 10a WGSVG gegeben worden ist, besonderes Gewicht. Sie spricht für die letztgenannte Auslegung. Es heißt dort nämlich, daß ein Nachentrichtungsrecht denjenigen Verfolgten zugebilligt werden soll, "die durch Ausschluß von der erstrebten Ausbildung oder durch deren Unterbrechung Schaden in der Berufsausbildung oder in ihrer vorberuflichen Ausbildung erlitten haben und denen dafür eine Entschädigung zuerkannt worden ist" (BT-Drucks 7/3235, S 6 rechte Spalte). Das Nachentrichtungsrecht nach § 10a Abs 2 WGSVG sollte hiernach von zwei Voraussetzungen abhängig sein, dem Ausbildungsschaden und einer Entschädigungsgewährung.
Bei dieser Auslegung werden Ungleichbehandlungen vermieden, die bereits bei Erlaß des Gesetzes erkennbar waren, und die, blieben sie unbeachtet, uU sogar verfassungsrechtliche Bedenken auslösen könnten. Würde man nämlich für die Anwendung des § 10a Abs 2 WGSVG die Tatsache der Entschädigungsgewährung genügen lassen, so wären diejenigen, die aufgrund des BEG-Schlußgesetzes früher abgeschlossene Vergleiche angefochten haben und denen dann auf Grund einer neuen Prüfung der Entschädigungsanspruch aberkannt worden ist (vgl BGH, RzW 1964, 410 f), schlechter gestellt als diejenigen, die damals davon abgesehen oder es versäumt haben, weitergehende Ansprüche geltend zu machen. Benachteiligt wären auch diejenigen, für die Entschädigungsämter zuständig waren, welche bei Auswanderung im Kleinkindalter - anders als das Entschädigungsamt Berlin - von Anfang an keine Ausbildungsentschädigung gewährt haben.
Schließlich erscheint es auch nicht sachgerecht, daß eine dem Recht widersprechende Begünstigung eines Verfolgten, die durch die unrichtige Beurteilung der Rechtslage durch ein Entschädigungsamt entstanden ist, sich noch im Bereich des Nachentrichtungsrechts fortsetzt, während derjenige, dessen Entschädigungsantrag negativ beschieden wurde, von vornherein auch vom Nachentrichtungsrecht ausgeschlossen ist.
Diese Ungleichheiten könnten allenfalls damit gerechtfertigt werden, daß die Verwaltung - wäre das Nachentrichtungsrecht nur an die bindende Gewährung einer Ausbildungsentschädigung geknüpft - keine weiteren Prüfungen anzustellen hätte, während sie bei der hier zugrunde gelegten Auslegung stets eine eigene Prüfung eines Ausbildungsschadens vornehmen muß. Indes ist nirgends erkennbar, daß der Gesetzgeber im Rahmen von § 10a Abs 2 WGSVG dem Gesichtspunkt der Praktikabilität der Rechtsanwendung den Vorrang vor dem Grundsatz der Gleichbehandlung im materiellen Recht geben wollte oder gegeben hat. Allerdings hat der erkennende Senat in einer früheren Entscheidung angedeutet, daß die Bindung des Nachentrichtungsrechts an die Gewährung einer Entschädigung aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität erfolgt sein könnte (BSG SozR 5070 § 10a Nr 6 S 16). Auch wenn dies der Fall war, folgt daraus jedoch nicht, daß der Gesetzgeber die Rentenversicherungsträger an die Entscheidungen der Entschädigungsbehörden binden wollte. Eine Erleichterung für die Verwaltung liegt bereits darin, daß in allen Fällen, in denen eine Entschädigung gewährt wurde, bereits eine Ermittlung und Prüfung durch die Entschädigungsbehörden erfolgt ist, an der sich der Rentenversicherungsträger orientieren und auf die er weitgehend zurückgreifen kann. Für eine - weitergehende - Bindung an die Entscheidung der Entschädigungsbehörden gibt es keinen Anhalt, zumal nicht einmal völlig sicher ist, daß der Gedanke der Verwaltungsvereinfachung für die getroffene Regelung überhaupt maßgeblich war.
Auch erscheint dem erkennenden Senat das trotz der bereits vorliegenden Prüfungen und Ermittlungen im Entschädigungsverfahren noch verbleibende Bedürfnis nach Verwaltungsvereinfachung in dem hier zu entscheidenden Bereich nicht so gewichtig, daß es dem Bedürfnis nach Gleichbehandlung aller Verfolgten vorgehen müßte. Es ist nicht erkennbar, daß die erforderliche Prüfung von Verwaltungsakten der Entschädigungsbehörden die Rentenversicherungsträger vor nicht oder nur schwer zu bewältigende Aufgaben stellen wird.
Gewisse Ungleichbehandlungen lassen sich allerdings bei Anwendung des § 10a Abs 2 WGSVG auch dann nicht ganz vermeiden, wenn die Rentenversicherungsträger nicht an die Entscheidungen der Entschädigungsbehörden gebunden sind. Sie können insbesondere auftreten, wenn ein Verfolgter es versäumt hat, Entschädigungsansprüche wegen eines Ausbildungsschadens geltend zu machen. Hierzu hat der erkennende Senat aber bereits in früheren Entscheidungen Stellung genommen (vgl BSG SozR 5070 § 10a Nr 6 und Nr 12). Aus den dort angeführten Gründen läßt sich indes keine Rechtfertigung für eine ungleiche Behandlung Verfolgter ableiten, wie sie sich als Folge einer Bindung der Rentenversicherungsträger an die Entscheidungen der Entschädigungsbehörden ergeben würde.
Da dem Kläger sonach ein Nachentrichtungsanspruch nach § 10a Abs 2 WGSVG nicht zusteht, fehlt es auch an der Voraussetzung für eine Neueröffnung der am 31. Dezember 1975 abgelaufenen und vom Kläger versäumten Antragsfrist nach Maßgabe des Urteils des erkennenden Senats vom 12. Oktober 1979 (SozR 5070 § 10a Nr 2), so daß auch die Nachentrichtung nach Art 2 § 49a Abs 2 AnVNG zu Recht abgelehnt worden ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen