Leitsatz (redaktionell)

Eine beim Vorliegen eines Berufungsausschließungsgrundes iS der SGG §§ 144 - 149 vom SG nach SGG § 150 Nr 1 zugelassene Berufung ist unwirksam und das Rechtsmittel deshalb - trotz Zulassung - nicht zulässig, wenn die Zulassung offensichtlich gegen das Gesetz verstößt, dh wenn keine der im SGG § 150 Nr 1 genannten Voraussetzungen gegeben ist, unter denen vom SG die Berufung zuzulassen ist.

Eine offensichtlich gesetzwidrige Zulassung liegt nicht vor, wenn das SG der Rechtssache im Hinblick auf seine Entscheidung über das besondere berufliche Betroffensein eine grundsätzliche, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung beigemessen und deshalb seine Verpflichtung zur Zulassung angenommen hat, weil im Zeitpunkt seiner Entscheidung zur Frage des besonderen beruflichen Betroffenseins eine höchstrichterliche Rechtsprechung und insbesondere auch im Schrifttum die Auffassungen darüber, wann ein Beschädigter durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem vor der Schädigung ausgeübten, begonnenen oder nachweislich angestrebten Beruf besonders betroffen ist, zum Teil weit auseinandergingen.

 

Normenkette

SGG § 144 Fassung: 1953-09-03, § 145 Fassung: 1958-06-25, § 146 Fassung: 1958-06-25, § 147 Fassung: 1958-06-25, § 148 Fassung: 1958-06-25, § 149 Fassung: 1958-06-25, § 150 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 6. Juli 1960 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Landesversicherungsanstalt (LVA) Westfalen - Außenstelle G - erkannte mit Bescheid vom 29. April 1947 auf den Antrag des Klägers vom 30. Juli 1945 die bei diesem bestehenden Gesundheitsstörungen "Verlust des rechten Oberschenkels, Hautnarbe am linken Oberschenkel" als Folgen einer Wehrdienstbeschädigung (Versehrtenstufe III, Minderung der Erwerbsfähigkeit - MdE - 70 v. H.) an und teilte ihm mit Benachrichtigung vom 8. Oktober 1947 mit, daß das mit Bescheid vom 29. April 1947 "rechtskräftig als Folge einer Wehrdienstbeschädigung anerkannte Leiden" eine MdE von 70 v. H. bedinge und er deshalb vom 1. August 1947 an eine Rente in Höhe von monatlich DM 70,- erhalte.

Am 16. Mai 1951 beantragte der Kläger unter Vorlegung eines ärztlichen Zeugnisses des Dr. med. B in K die Erhöhung seiner Rente wegen Verschlimmerung der anerkannten Schädigungsfolgen; er brachte außerdem vor, daß er durch die Schädigungsfolgen wirtschaftlich (beruflich) besonders betroffen sei. Das inzwischen zuständig gewordene Versorgungsamt (VersorgA) G erteilte ihm daraufhin den Umanerkennungsbescheid nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) vom 26. September 1952, mit dem es die Leiden "Verlust des rechten Beines, Narbe am linken Oberschenkel" auch im Sinne des § 1 BVG als Schädigungsfolgen anerkannte; dabei lehnte es jedoch sowohl die geltend gemachte Verschlimmerung als such eine Erhöhung der Rente wegen beruflichen Betroffenseins ab und bewertete die MdE des Klägers weiterhin mit 70 v. H. Der Einspruch hatte keinen Erfolg und wurde mit Bescheid vom 10. Dezember 1953 zurückgewiesen.

Mit seiner zum Sozialgericht (SG) Münster erhobenen Klage hat der Kläger vorgetragen, wegen seiner Schädigungsfolgen könne er als Landwirt nicht alle anfallenden Arbeiten ausführen, deshalb habe er eine zusätzliche Arbeitskraft einstellen müssen und dadurch erhebliche finanzielle Nachteile erlitten. Der Beklagte hat demgegenüber geltend gemacht, bei der Größe des dem Kläger als Eigentümer gehörenden landwirtschaftlichen Betriebes beschränke sich dessen Tätigkeit im wesentlichen gerade auf die Leistungen, zu denen er in der Lage sei. Die Erhöhung der MdE über 70 v. H. hinaus sei deshalb nicht gerechtfertigt. Mit Urteil vom 21. Mai 1957 hat das SG unter Abänderung des Umanerkennungsbescheides vom 26. September 1952 und unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 10. Dezember 1953 den Beklagten verurteilt, dem Kläger vom 1. Juni 1952 an eine Rente nach einer MdE um 80 v. H. zu gewähren. Nach dem Urteil seien die Verwundungsfolgen des Klägers rein anatomisch mit einer MdE um 70 v. H. ausreichend bewertet. Er könne jedoch wegen seiner Schädigungsfolgen nicht, wie an sich erforderlich, die Hauptarbeitskraft in seinem Betriebe sein; denn er könne weder Lauf- noch Bückarbeiten verrichten, er könne auch nicht mit Pferden arbeiten, nicht melken und keine schweren Lasten tragen, so daß er praktisch nur die Oberleitung in seinem Betriebe ausübe. Deshalb sei die Einstellung einer zusätzlichen vollen Arbeitskraft erforderlich gewesen, die eine erhebliche finanzielle Belastung darstelle und auch zu einem Rückgang des Betriebseinkommens geführt habe. Nach diesen- auf die Auskünfte des Finanzamtes Gladbeck und auf eine gutachtliche Stellungnahme der Landwirtschaftskammer Westfalen-Lippe gestützten - tatsächlichen Feststellungen sei ein besonders berufliches Betroffensein des Klägers im Sinne des § 30 BVG anzuerkennen, auch wenn kein sozialer Abstieg vorliege. Die Heraufsetzung des Grades der MdE um 10 v. H. sei deshalb gerechtfertigt. Das SG hat die Berufung zugelassen, "da es sich um eine grundsätzliche Entscheidung unter besonderer Berücksichtigung eines beruflichen Schadens handele".

Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen in Essen hat mit Urteil vom 6. Juli 1960 die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG als unzulässig verworfen: Die Berufung sei nach § 148 Nr. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nicht zulässig, weil sie den Grad der MdE betreffe, ohne daß die Schwerbeschädigteneigenschaft davon abhängig sei. Die Voraussetzungen des § 150 SGG, nach dem die Berufung ungeachtet der §§ 144 bis 149 SGG zulässig sei, seien ebenfalls nicht gegeben, denn das SG habe weder über eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung entschieden (§ 150 Nr. 1 SGG), noch sei vom Beklagten ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt worden (§ 150 Nr. 2 SGG), noch sei der ursächliche Zusammenhang einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des BVG streitig gewesen (§ 150 Nr. 3 SGG). Die Zulassung der Berufung durch das SG nach § 150 Nr. 1 SGG sei deshalb offensichtlich gesetzwidrig erfolgt. Das bedeute gleichzeitig, daß diese Zulassung unwirksam sei, denn eine gesetzwidrige Berufungszulassung sei nicht anders zu behandeln wie die gesetzwidrige Zulassung einer Revision. Zu letzterer habe das Bundessozialgericht (BSG) entschieden (BSG 10, 230, 233; 10, 240 ff), daß sie unwirksam sei und das Revisionsgericht nicht binde; denn das Berufungsgericht könne die Revision nicht nach freiem Ermessen, sondern nur in den Fällen zulassen, die im § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG genannt seien, d. h., die Möglichkeiten, die Revision zuzulassen, seien auf die Fälle der Zulassungspflicht beschränkt. Im vorliegenden Falle, so hat das LSG weiter ausgeführt, könne schon deshalb von einer Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung keine Rede sein, weil es sich bei den Fragen, ob ein oberschenkelamputierter Eigentümer eines landwirtschaftlichen Betriebes nicht mehr wie sonst üblich die Hauptarbeitskraft sei, ob er zusätzliche Arbeitskräfte einstellen müsse, finanzielle Nachteile habe und sich als Landwirt nicht wie ein völlig Gesunder durchsetzen könne, so daß auch ohne sozialen Abstieg ein besonderes berufliches Betroffensein vorliege, jeweils um Tatfragen eines Einzelfalles handele. Aus der Zulassungsbegründung und dem Inhalt des sozialgerichtlichen Urteils ergebe sich, daß die Berufung nur zur rechtlichen und tatsächlichen Prüfung eines Einzelfalles zugelassen worden sei, dessen Nachprüfung dem Berufungsgericht nach § 148 Nr. 3 SGG verwehrt sei. Das LSG hat der Rechtsfrage, ob die offenbar gesetzwidrige Zulassung einer Berufung unwirksam ist, grundsätzliche Bedeutung beigemessen und deshalb die Revision zugelassen.

Gegen dieses ihm am 9. August 1960 zugestellte Urteil des LSG hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 22. August 1960, beim BSG eingegangen am 25. August 1960, Revision eingelegt und diese - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist bis zum 9. November 1960 - mit Schriftsatz vom 27. Oktober 1960, eingegangen am 31. Oktober 1960, begründet. Er trägt vor, das Berufungsgericht habe trotz ausdrücklicher Zulassung der Berufung durch das SG diese als unzulässig verworfen und zu Unrecht keine Sachentscheidung getroffen. Damit habe es § 150 Nr. 1 SGG unrichtig angewandt. Im übrigen treffe nicht zu, daß es sich bei der Entscheidung des SG nicht um eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung gehandelt habe, denn die Frage, ob auch ohne sozialen Abstieg eine finanzielle Belastung oder eine Verdiensteinbuße ausreichend ist, um ein besonders berufliches Betroffensein anzuerkennen, sei damals - im Zeitpunkt der Entscheidung durch das SG - sehr umstritten gewesen. Außerdem sei auch noch die Frage von grundsätzlicher Bedeutung gewesen, ob bei einer MdE um 70 v. H. überhaupt noch eine Erhöhung wegen beruflichen Betroffenseins erfolgen könne. Darüber hinaus habe das Berufungsgericht aber auch noch die Vorschrift des § 106 SGG verletzt. Denn für einen Berufungskläger tauche dann, wenn eine zugelassene Berufung für unzulässig gehalten werde, die Frage auf, ob die Statthaftigkeit des Rechtsmittels gegebenenfalls nach § 150 Nr. 2 SGG mit der Rüge eines wesentlichen Verfahrensmangels begründet werden könne. Deshalb sei es erforderlich gewesen, daß das LSG bzw. sein Vorsitzender ihn, den Beklagten, schon vor der mündlichen Verhandlung, spätestens aber in dieser, auf die "beabsichtigte, hier besonders überraschende Rechtsanwendung" hingewiesen hätte, um die Möglichkeit zu geben - gegebenenfalls nach erneuter Einsichtnahme in die Akten -, noch Verfahrensverstöße zu rügen. Ein solcher Hinweis sei im vorliegenden Falle deshalb besonders erforderlich gewesen, weil eine Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils ergebe, daß das Verfahren des SG tatsächlich an wesentlichen Verfahrensmängeln gelitten habe.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 6. Juli 1960 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das Prozeßurteil des Berufungsgerichts für zutreffend, weil es sich bei der Entscheidung des SG nicht um eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung gehandelt habe und die Entscheidung über die Zulassung der Berufung deshalb unwirksam gewesen sei. Die Rüge der Verletzung des § 106 SGG könne ebenfalls nicht durchgreifen, denn dem Beklagten sei es, wenn er das Vorliegen von Mängeln im Verfahren des ersten Rechtszuges als gegeben angesehen habe, unbenommen gewesen, diese Mängel zu rügen. Das sei von ihm um so mehr zu verlangen gewesen, als er im Berufungsverfahren durch eine rechtskundige Behörde vertreten gewesen sei, von der vorausgesetzt werden müsse, daß sie die verfahrensrechtliche Lage selbst hinreichend zu beurteilen und ihr prozessuales Verhalten entsprechend einzurichten in der lage sei. Für das LSG bzw. seinem Vorsitzenden habe deshalb keine Verpflichtung bestanden, den Beklagten auf die Möglichkeit oder gar auf die Notwendigkeit der Rüge etwaiger Verfahrensmängel hinzuweisen. Letztlich scheitere die Verfahrensrüge daran, daß nichts dafür dargetan sei, daß der Vorsitzende des Berufungsgerichts von seinem Rechtsstandpunkt und dem ihm bekannten Sachverhalt aus, insbesondere aus der Berufungsbegründung des Beklagten, darauf hätte schließen müssen, daß der Beklagte einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 150 Nr. 2 SGG habe rügen wollen und daß ein solcher auch tatsächlich vorgelegen habe.

Auf die Schriftsätze des Beklagten vom 22. August, 27. Oktober und 6. Dezember 1960 sowie auf den des Klägers vom 17. November 1960 wird verwiesen.

Die durch Zulassung statthafte Revision des Beklagten (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und deshalb zulässig.

Die Revision ist auch begründet.

Das Urteil des SG, das die von der Verwaltungsbehörde mit 70 v. H. festgestellte MdE des Klägers wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins im Sinne des § 30 BVG um 10 v. H. auf 80 v. H. heraufgesetzt hat, betraf den Grad der MdE im Sinne des hier in der Fassung vor dem Inkrafttreten des Zweiten Änderungsgesetzes zum SGG vom 25. Juni 1958 anwendbaren § 148 SGG aF (BSG im SozR SGG § 143 Bl. Da 2 Nr. 2 u. 3), ohne daß davon auch die Schwerbeschädigteneigenschaft des Klägers oder die Gewährung der Grundrente an ihn abhängig gewesen wäre. Daran ändert nichts, daß im Verfahren des ersten Rechtszuges zwischen den Beteiligten streitig war, ob die vom Beklagten festgestellte MdE des Klägers wegen des von diesem geltend gemachten besonderen beruflichen Betroffenseins höher zu bewerten ist. Denn die Frage, ob die MdE infolge beruflichen Betroffenseins im Einzelfalle höher zu bewerten ist, wird im Zusammenhang damit geprüft, welcher Grad der MdE dem Beschädigten wegen der bei ihm anerkannten Schädigungsfolgen zuzubilligen ist; die MdE ist - dann - höher zu bewerten, wenn die Berücksichtigung der Körperschäden nach allgemeinen Grundsätzen nicht ausreicht, um die Nachteile auszugleichen, die dem Beschädigten gerade in seinem Beruf erwachsen sind, d. h. die MdE eines Versorgungsberechtigten ist sowohl nach seiner Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben als auch nach seinem beruflichen Betroffensein zu bewerten. Das bedeutet, daß es sich bei einem Streit wie dem der Beteiligten vor dem SG um eine reine Gradstreitigkeit gehandelt hat. Danach kann auch das Urteil des SG in einem solchen Falle nur den Grad der MdE im Sinne des § 148 Nr. 3 SGG aF betroffen haben, so daß die Berufung nach dieser Vorschrift ausgeschlossen war. Denn für die Frage der Zulässigkeit der Berufung kann es nicht darauf ankommen, auf welche Rechtsgründe der Kläger sein Begehren auf Erhöhung der MdE gestützt hat. Ebensowenig kann gegen den Ausschluß der Berufung eingewandt werden, daß hinsichtlich der Berücksichtigung des Berufs bei der Bemessung der MdE teilweise schwierige Rechtsfragen bzw. schwierige sachlich-rechtliche Vorfragen zu entscheiden seien (vgl. BSG 12, 134, 136, 137). Nach § 148 SGG aF war somit die Berufung im vorliegenden Falle grundsätzlich ausgeschlossen.

Die Berufung kann jedoch trotz Vorliegens eines Berufungsausschließungsgrundes im Sinne der §§ 144 bis 149 SGG, also auch des § 148 Nr. 3 SGG aF, zulässig sein, nämlich dann, wenn das SG sie im Urteil zugelassen hat (§ 150 Nr. 1 SGG), wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird - und vorliegt (BSG 1, 150) - (§ 150 Nr. 2 SGG), oder wenn der ursächliche Zusammenhang einer Gesundheitsstörung (oder des Todes) mit einer Schädigung im Sinne des BVG streitig ist. Im vorliegenden Rechtsstreit hat der Beklagte die Zulässigkeit der von ihm eingelegten Berufung auf die Vorschrift des § 150 Nr. 1 SGG gestützt, weil das SG das Rechtsmittel ausdrücklich zugelassen hat.

Das Berufungsgericht ist der Auffassung, daß die Berufung trotz Zulassung durch das SG nach § 150 Nr. 1 SGG nicht zulässig gewesen sei, weil die Zulassung offensichtlich gesetzwidrig erfolgt und deshalb unwirksam sei. Es stützt sich dabei auf die Vorschrift des § 150 Nr. 1 zweiter Halbsatz SGG, nach der vom SG die Berufung - trotz Vorliegens eines Berufungsausschließungsgrundes - dann zuzulassen ist, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder wenn das SG in der Auslegung einer Rechtsvorschrift von einem Urteil des im Rechtszug übergeordneten LSG abweicht; von einer grundsätzlichen Bedeutung der vom SG entschiedenen Rechtssache - die zweite alternative Divergenz scheidet aus - könne keine Rede sein, weil es sich bei den zu entscheidenden und entschiedenen Fragen lediglich um Tatfragen eines Einzelfalles gehandelt habe. Dem stehe nicht entgegen, daß das SG die Zulassung damit begründet habe, daß es sich "um eine grundsätzliche Entscheidung unter besonderer Berücksichtigung eines beruflichen Schadens handele".

Soweit sich das LSG dabei für berechtigt gehalten hat, die Entscheidung des SG über die Zulassung der Berufung nicht nur hinsichtlich ihres Vorhandenseins, sondern auch hinsichtlich ihrer Rechtmäßigkeit und damit ihrer Wirksamkeit nachzuprüfen, bestehen keine rechtlichen Bedenken. Zwar ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG das Berufungsgericht - ebenso wie das Revisionsgericht in den Fällen der Revision - grundsätzlich an die Zulassung oder Nichtzulassung des Rechtsmittels der Berufung - bzw. der Revision - durch das Gericht gebunden, dessen Entscheidung durch das Rechtsmittel angefochten werden soll (BSG 6, 70 ff; BSG im SozR § 150 Bl. Da 7 Nr. 17, Bl. Da 8 Nr. 19); insbesondere ist die Entscheidung des Vordergerichts für das Rechtsmittelgericht nach der ständigen Rechtsprechung des BSG immer dann bindend, wenn die Zulassung zu Unrecht unterblieben ist (dies begründet auch nicht etwa einen wesentlichen Mangel des Verfahrens im Sinne der §§ 150 Nr. 2, 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Aus der Bindung des Rechtsmittelgerichts an eine zu Unrecht unterbliebene Zulassung des Rechtsmittels ist auch gelegentlich gefolgert worden (Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur SGb, 2. Aufl. 11. Nachtrag, § 150 Anm. 2 S. III/60), die Zulassung der Berufung könne nicht anders behandelt werden wie die Nichtzulassung, so daß die Rechtsgültigkeit der Zulassung vom Rechtsmittelgericht nicht nachgeprüft werden dürfe; es seien keine zwingenden Gründe dafür vorhanden, daß der Gesetzgeber einerseits dem SG die Entscheidung über die Nichtzulassung der Berufung mit bindender Wirkung für das LSG habe überlassen wollen, während andererseits das LSG berechtigt sein solle, die Entscheidung über die Zulassung der Berufung nachzuprüfen. Das trifft jedoch nicht zu. Denn auch wenn die Zulassung der Berufung als eine das weitere Verfahren gestaltende Nebenentscheidung angesehen wird, die eine besondere Prozeßvoraussetzung des Berufungsverfahrens ist (BSG im SozR SGG § 150 Bl. Da 8 Nr. 19), so ist damit allein nicht dargetan, daß die Zulassung der Berufung ebenso behandelt werden müßte wie die Nichtzulassung. Beide Entscheidungen weichen nämlich in ihren Wirkungen grundlegend voneinander ab. Ist die Berufung nicht zugelassen worden, so ist dem Beteiligten, der durch das Urteil beschwert ist, der weitere Rechtszug genommen. Er ist also benachteiligt, wenn die Berufung zu Unrecht nicht zugelassen worden ist. Diese Folge einer unrichtigen Entscheidung über die Nichtzulassung hat der Gesetzgeber jedoch gewollt, wie sich aus dem Abweichen der Vorschrift des § 150 Nr. 1 SGG von § 98 des Entwurfs einer Sozialgerichtsordnung (BT-Drucksache, 1. Wahlperiode, Nr. 4357) ergibt (BSG im SozR SGG § 150 Bl. Da 7 Nr. 17, Bl. Da 8 Nr. 19). Ist andererseits die Berufung zugelassen worden, so ist der weitere Rechtsweg ermöglicht und dadurch der Beteiligte beschwert, der in der Sache vor dem SG obgesiegt hat. In einem solchen Fall kann, wie der erkennende Senat bereits entschieden hat (vgl. Urteil vom 18. Juli 1962 - 8 RV 1289/60 -), das weitere Verfahren aber rechtswidrig sein, nämlich dann, wenn die Zulassung offensichtlich gegen das Gesetz verstößt. Denn das Vorhandensein der Zulassung allein - als besondere Prozeßvoraussetzung für das Berufungsverfahren - kann dieses nicht zu einem rechtmäßigen machen, wenn die Zulassung offensichtlich unbegründet ist, d. h. wenn sie - entgegen dem Gesetz - unter Außerachtlassung der Vorschrift des § 150 Nr. 1 zweiter Halbsatz SGG erfolgt ist, die nur in den dort angeführten Fällen eine Ausnahme von den Berufungsausschließungsgründen der §§ 144 bis 149 SGG zuläßt.

Aus diesen Gründen konnte und mußte das Berufungsgericht die Prüfung der Rechtsgültigkeit der Berufung auch darauf erstrecken, ob das SG das Rechtsmittel etwa gesetzwidrig - und damit unwirksam - zugelassen hat.

Die weitere Frage, wann eine offensichtlich gegen das Gesetz verstoßende und deshalb das Berufungsgericht nicht bindende Berufungszulassung durch das Gericht des ersten Rechtszuges vorliegt, war nach den Grundsätzen zu entscheiden, die das BSG bereits über die Unwirksamkeit der Zulassung einer Revision entwickelt hat (vgl. BSG 1, 104 ff; 10, 240, ff; 10, 269 ff). Dabei ist unerheblich, daß die Vorschriften des § 150 Nr. 1 SGG (über die Zulassung der Berufung) und des § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG (über die Zulassung der Revision) nicht wörtlich miteinander übereinstimmen. Denn diese Verschiedenheiten sind lediglich äußerliche Fassungsunterschiede, inhaltlich wird damit der gleiche Wille zum Ausdruck gebracht, daß das vorgesehene Rechtsmittel nur bei der Zulassung durch das Vordergericht gegeben ist (vgl. BSG im SozR SGG § 150 Bl. Da 7 Nr. 17). Deshalb ist - ebenso wie bei der Revision - eine offensichtlich gesetzwidrige Zulassung der Berufung dann anzunehmen, wenn sich aus der gegebenen Zulassungsbegründung und dem Gesamtinhalt des sozialgerichtlichen Urteils eindeutig ergibt, daß keine der in § 150 Nr. 1 SGG genannten Voraussetzungen gegeben ist, unter denen die Berufung zuzulassen ist. Dabei ist die Aufzählung der Zulassungsgründe im § 150 Nr. 1 SGG - ebenso wie in §§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG - erschöpfend, der Wortlaut läßt eine andere Auslegung nicht zu. Danach sind die Möglichkeiten, die Berufung zuzulassen, allein auf die Fälle der Zulassungspflicht beschränkt. Das SG kann mithin die Berufung nicht nach freiem Ermessen, sondern nur in den besonderen Fällen zulassen, in denen nach § 150 Nr. 1 zweiter Halbsatz SGG seine Verpflichtung zur Zulassung gesetzlich vorgeschrieben ist. Das aber bedeutet gleichzeitig - auch hier übereinstimmend mit der Rechtsprechung des BSG zur Frage der gesetzwidrigen Zulassung einer Revision (BSG 1, 104 ff; 10, 240 ff; 10, 269 ff) -, daß nicht schon jede unbegründete oder anscheinend unbegründete Berufungszulassung rechtsunwirksam ist, sie muß, wie bereits ausgeführt, offensichtlich unbegründet und gesetzwidrig sein. Das ist ua dann der Fall, wenn die Berufung, obwohl bereits nach § 143 SGG zulässig, offensichtlich nur zur Ermöglichung der Sprungrevision zugelassen wird (BSG 8, 84, ff), wenn sie das SG nach der Zulassungsbegründung und dem Gesamtinhalt seines Urteils nur zur Nachprüfung tatsächlicher Fragen zuläßt (BSG 10, 240), oder wenn die Zulassung trotz Verneinung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache oder der Divergenz allein nach freiem Ermessen (aus § 150 Nr. 1 erster Halbsatz SGG) erfolgt.

Von einer solchen offensichtlichen Gesetzwidrigkeit der Berufungszulassung durch das SG kann im vorliegenden Falle, dies hat das Berufungsgericht verkannt, jedoch keine Rede sein. Denn weder die gegebene Zulassungsbegründung noch der Gesamtinhalt des erstinstanzlichen Urteils ergeben mit der hierbei notwendigen Eindeutigkeit, daß für das SG keine der in § 150 Nr. 1 zweiter Halbsatz SGG genannten Voraussetzungen zur Zulassung der Berufung gegeben war, und daß deshalb die Zulassung offensichtlich gesetzwidrig erfolgt ist. Aus dem Urteil des ersten Rechtszuges ist ersichtlich, daß das SG im Hinblick auf die von ihm festgestellten tatsächlichen Verhältnisse des Klägers - Einschränkung der Betätigungsmöglichkeiten durch die Schädigungsfolgen, notwendige Einstellung einer zusätzlichen Arbeitskraft mit den daraus entstehenden höheren Betriebskosten, Rückgang des Betriebseinkommens - ein besonderes berufliches Betroffensein im Sinne des § 30 BVG angenommen hat, ohne daß gleichzeitig auch ein sozialer Abstieg vorliege; zur Zulassungsbegründung hat das SG ausgeführt, daß es sich "um eine grundsätzliche Entscheidung unter besonderer Berücksichtigung eines beruflichen Schadens" handele. Damit hat es aber, dies kann nicht zweifelhaft sein, seine Auffassung zum Ausdruck gebracht, daß es der Rechtssache im Hinblick auf seine Entscheidung zur Vorschrift über das besondere berufliche Betroffensein eine grundsätzliche, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung beigemessen und deshalb seine Verpflichtung zur Zulassung nach § 150 Nr. 1 SGG angenommen hat. Daraus kann aber nicht entnommen werden, daß die Zulassung durch das SG lediglich nach freiem Ermessen, nur zur Überprüfung tatsächlicher Fragen oder, wie das Berufungsgericht meint, nur zur "rechtlichen und tatsächlichen Prüfung eines Einzelfalles", d. h. ohne Bedeutung über diesen Einzelfall hinaus, erfolgt ist. Denn im Zeitpunkt des Erlasses des Sozialgerichtsurteils am 21. Mai 1957, also noch während der Geltungsdauer der 5. Novelle zum BVG vom 6. Juni 1956 und vor dem Inkrafttreten des Ersten Neuordnungsgesetzes vom 27. Juni 1960, das den § 30 BVG hinsichtlich des besonderen beruflichen Betroffenseins im Wortlaut wesentlich geändert hat, lag zur Frage des besonderen beruflichen Betroffenseins eine höchstrichterliche Rechtsprechung noch nicht vor; in der übrigen Rechtsprechung und insbesondere auch im Schrifttum gingen die Auffassungen darüber, wann ein Beschädigter "durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem vor der Schädigung ausgeübten, begonnenen oder nachweislich angestrebten Beruf besonders betroffen" ist (§ 30 Abs. 1 Satz 2 BVG i. d. F. der 5. Novelle zum BVG), zum Teil weit auseinander. Der Auffassung z. B., daß es bei Anwendung des § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG aF entscheidend darauf ankomme, ob durch die Schädigungsfolgen ein wirtschaftlicher Schaden - durch Veränderung der Verdienstverhältnisse - entstanden sei (so ua Bayer. LVAmt, Urteil vom 9. März 1953, angeführt in "Die Kriegsopferversorgung" 1953 S. 154, Nr. 89), stand die andere entgegen, daß ein sozialer Abstieg allein - und ohne Berücksichtigung wirtschaftlicher Gesichtspunkte - genüge, um die MdE wegen besonderen beruflichen Betroffenseins zu erhöhen (so ua OVA Stuttgart, Urteil vom 8. Juli 1952, in Breithaupt, Sammlung von Entscheidungen, 1953 S. 1012; Gawin in ZfSV 1951 S. 231). Wieder andere (vgl. van Nuis in "Der Versorgungsbeamte" 1955 S. 102; Schiel in "Die Kriegsopferversorgung" 1955 S. 20) waren der Ansicht, daß nur bei Vorliegen beider Voraussetzungen, nämlich bei wirtschaftlichem Schaden und sozialem Abstieg, Raum für eine Anwendung des § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG aF zu Gunsten des Beschädigten sei. Bei dieser Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Erlasses des sozialgerichtlichen Urteils konnte deshalb das SG entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ohne weiteres davon ausgehen, daß es sich bei dem von ihm entschiedenen Rechtsstreit zu der damals noch stark umstrittenen Frage des besonderen beruflichen Betroffenseins um eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung handele, und daß es deshalb verpflichtet sei, die Berufung nach § 150 Nr. 1 zweiter Halbsatz SGG (1. Alternative) zuzulassen; zumindest kann ihm nicht der Vorwurf gemacht werden, daß die von ihm ausgesprochene Zulassung der Berufung offensichtlich gesetzwidrig - mit der Folge auch ihrer Unwirksamkeit - erfolgt sei, zumal es die Gründe für die Zulassung ausdrücklich in seinem Urteil angeführt hat.

Nach allem hat das Berufungsgericht die erfolgte Zulassung der Berufung durch das SG zu Unrecht als offensichtlich gesetzwidrig und deshalb als unwirksam angesehen; zu Unrecht hat es deshalb auch - als Folge seiner unzutreffenden Rechtsauffassung - durch Prozeßurteil die Berufung des Beklagten als unzulässig verworfen, obwohl es, wie dargelegt, die Berufung hätte als zulässig ansehen und eine Sachentscheidung hätte treffen müssen. Das angefochtene Urteil war deshalb aufzuheben. Da das LSG im übrigen die für eine Sachentscheidung erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht getroffen hat (nach seiner Rechtsauffassung auch nicht zu treffen brauchte) und das Revisionsgericht eigene tatsächliche Feststellungen nicht treffen kann, war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Vordergericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2149233

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