Leitsatz (amtlich)
BGB § 206 Abs 1 ist entsprechend auch auf den Lauf der Antragsfrist des ArVNG Art 2 § 51a Abs 3 S 1 anzuwenden (Fortführung von BSG 1963-06-19 3 RK 34/59 = BSGE 19, 173).
Normenkette
ArVNG Art. 2 § 51a Abs. 3 S. 1 Fassung: 1972-10-16; BGB § 206 Abs. 1 Fassung: 1896-08-18
Verfahrensgang
SG Detmold (Entscheidung vom 13.12.1978; Aktenzeichen S 9 J 221/77) |
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob der bis Ende 1976 geschäftsunfähig gewesene Kläger berechtigt war, in entsprechender Anwendung des § 206 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) noch 1977 einen Nachentrichtungsantrag gemäß Art 2 § 51a des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) zu stellen.
Der 1936 geborene Kläger hatte nach den von den Beteiligten nicht angegriffenen Feststellungen des Sozialgerichts (SG) bis Ende 1976 an einer chronisch-halluzinatorischen Psychose gelitten; ein gesetzlicher Vertreter war für ihn nicht bestellt worden. Seinen Antrag vom 2. Februar 1977 auf Nachentrichtung von Beiträgen gemäß Art 2 § 51a ArVNG für die Zeit von 1956 bis 1973 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 20. Mai 1977 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Oktober 1977 mit der Begründung ab, der Kläger habe die Antragsfrist des Art 2 § 51a Abs 3 ArVNG versäumt. Da es sich hierbei um eine materiell-rechtliche Ausschlußfrist handele, rechtfertige die bei ihm vorhanden gewesene Geschäftsunfähigkeit weder die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand noch die entsprechende Anwendung des § 206 BGB. Durch Urteil vom 13. Dezember 1978 hat das SG mit gleicher Begründung die Klage abgewiesen.
Hiergegen richtet sich die - vom SG zugelassene - Sprungrevision des Klägers, zu deren Begründung er geltend macht, nach der Zielsetzung des Art 2 § 51a ArVNG sei es gerechtfertigt, auf die Versäumung der Frist für die Stellung des in dieser Vorschrift geregelten Nachentrichtungsantrages den Schutzgedanken des § 206 BGB entsprechend anzuwenden.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des SG Detmold vom 13. Dezember 1978 und Bescheid der Beklagten vom 20. Mai 1977 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Oktober 1977 aufzuheben sowie die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge für die Zeit von 1956 bis 1973 zu gestatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II.
Die Revision des Klägers ist begründet; er war in entsprechender Anwendung des § 206 BGB noch am 2. Februar 1977 zur Stellung eines Nachentrichtungsantrages gemäß Art 2 § 51a ArVNG befugt.
Das SG ist zutreffend davon ausgegangen, daß das Antragsrecht nach Art 2 § 51a ArVNG (= Art 2 § 49a des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - AnVNG -) ein Gestaltungsrecht ist, das der Versicherte durch die Abgabe seines einseitigen, empfangsbedürftigen Nachentrichtungs-"Antrages" ausübt (vgl dazu BSGE 45, 247 = SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 17; erkennender Senat, Urteil vom 13. September 1979 - 12 RK 60/78 - mwN, zur Veröffentlichung bestimmt), und daß die in Art 2 § 51a Abs 3 Satz 1 ArVNG geregelte Antragsfrist eine materiell-rechtliche Ausschlußfrist ist, die am 31. Dezember 1975 abgelaufen war. Da der Kläger nach den für das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen des SG die Nachentrichtungserklärung nicht bis dahin abgegeben hat, wäre sein Nachentrichtungsrecht untergegangen, wenn der Fristablauf nicht analog § 206 BGB wegen der Geschäftsunfähigkeit des Klägers gehemmt war (vgl BSGE 34, 22, 24; BSG SozR 5486 Art 4 § 2 Nr 2).
Insoweit ist von den ebenfalls gemäß § 163 SGG für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des SG auszugehen, daß der Kläger bis Ende 1976 an einer chronisch-halluzinatorischen Psychose gelitten hat. Er hat sich deshalb nicht nur vorübergehend in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befunden und war infolgedessen geschäftsunfähig iSd §§ 104 Nr 2, 206 Abs 1 Satz 1 BGB. Schließlich ist für den Senat auch die Feststellung des SG bindend, daß der Kläger während dieser Zeit ohne gesetzlichen Vertreter gewesen ist. Damit liegen die nach § 206 Abs 1 Satz 1 BGB erforderlichen Voraussetzungen für die Ablaufhemmung einer Verjährungsfrist vor.
§ 206 Abs 1 BGB ist auch entsprechend auf die Antragsfrist des Art 2 § 51a ArVNG anzuwenden. In der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist seit langem anerkannt, daß § 206 Abs 1 BGB auf sozialrechtliche Ausschlußfristen grundsätzlich entsprechend anzuwenden ist, es sei denn die vom Gesetzgeber mit der Ausschlußfrist verfolgten Ziele und dabei zu berücksichtigenden Interessen sprechen für eine klare "schematische" Zeitgrenze, was insbesondere dann anzunehmen ist, wenn dem Versicherungsträger ein endgültiger Überblick über die abzuwickelnden Lebensvorgänge und den Umfang der dafür einzusetzenden Mittel ermöglicht, andererseits aber auch das "Hineinwachsen in bestimmte Rechte" verhindert werden soll (BSGE 34, 22, 24 mwN; 36, 267, 268). Von solchen Fällen abgesehen, hat das BSG deshalb nicht nur die Wahrnehmung eines von einer Ausschlußfrist betroffenen Leistungsanspruches als zulässig erachtet (vgl zu § 58 BVG: BSGE 14, 246; zu § 182 RVO: BSGE 25, 76; zu § 1290 RVO: BSGE 36, 267; zu Art 2 § 44 ArVNG: BSGE 34, 22), sondern auch die Gestaltung eines Versicherungsverhältnisses noch nach Fristablauf zugelassen (vgl für die Anzeige der Weiterversicherung nach § 313 Abs 2 RVO: BSGE 19, 173).
Der Senat hat keine Bedenken, diese Grundsätze auch auf die Ausübung des Antragsrechts nach Art 2 § 51a ArVNG anzuwenden. Dabei hält er es entgegen der von der Beklagten vertretenen Ansicht nicht für erheblich, daß die Ausübung des Antragsrechts hier nicht nur der Änderung oder Fortsetzung, sondern auch erst der Begründung eines Versicherungsverhältnisses dienen kann.
Die entsprechende Anwendung des § 206 BGB auf die Frist des Art 2 § 51a Abs 3 Satz 1 ArVNG ist auch mit dem Zweck der Vorschrift vereinbar. Dieser ergibt sich zwar weder aus dem Wortlaut des Gesetzes noch aus der Begründung des Entwurfs und dem Gang des Gesetzgebungsverfahrens (vgl BT-Drucks VI/2153; stenogr. Berichte, 6. Wahlperiode, 197. Sitzung, S. 11660 mit Anlage 4 - Umdruck Nr 305 -; stenogr. Berichte, 6. Wahlperiode, 198. Sitzung S. 11701). Er läßt sich aber aus der Zielsetzung des Rentenreformgesetzes (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I S 1965) ableiten, mit dem Art 2 § 51a ArVNG in das ArVNG eingefügt worden ist. Danach hat der Gesetzgeber, um die Öffnung der Rentenversicherung für den in Art 2 § 51a Abs 1 und Abs 2 ArVNG genannten Personenkreis wirkungsvoller zu gestalten, den begünstigten Personen ermöglichen wollen, durch eine umfangreiche Beitragsnachentrichtung bis zu 18 Jahren (ohne Vorversicherungszeiten) schnell eine tragfähige Sicherung gegen Alter und Invalidität aufzubauen. Diese Absicht ergibt sich auch daraus, daß der Gesetzgeber die Möglichkeit der Einräumung von Zahlungsfristen durch Verwaltungsakt zugelassen (Art 2 § 51a Abs 3 Satz 3 ArVNG) oder solche Fristen selbst kraft Gesetzes vorgesehen hat (Art 2 § 51a Abs 2 Satz 4 ArVNG). Gegenüber diesem - das RRG im allgemeinen und die Norm des Art 2 § 51a ArVNG im besonderen beherrschenden - Ziel trat der mit der auf den 31. Dezember 1975 begrenzten Antragsfrist erstrebte Zweck, dem Versicherungsträger einen Überblick über den Umfang der neu begründeten oder inhaltlich veränderten Versicherungsverhältnisse zu geben und sich in der Finanzplanung hierauf einzustellen, jedenfalls soweit zurück, daß die nachträgliche Einbeziehung der von § 206 BGB erfaßten und rentenversicherungsrechtlich in besonderem Maße schutzbedürftigen Personen in den Kreis der von Art 2 § 51a ArVNG begünstigten Versicherten nicht ausgeschlossen ist.
Der Senat kann aufgrund der vom SG getroffenen tatsächlichen Feststellungen auch selbst entscheiden. Da der Kläger bis Ende 1976 geschäftsunfähig und nicht gesetzlich vertreten war, lief bei entsprechender Anwendung des § 206 BGB die Antragsfrist des Art 2 § 51a Abs 3 Satz 1 ArVNG erst sechs Monate nach dem Wiedereintritt der vollen Geschäftsfähigkeit des Klägers ab, so daß der Anfang Februar 1977 gestellte Nachentrichtungsantrag fristgerecht erklärt worden ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen