Entscheidungsstichwort (Thema)

Statthaftigkeit der Revision wegen Verletzung der Sachaufklärungspflicht

 

Orientierungssatz

Die obliegende Sachaufklärungspflicht ist verletzt, wenn angenommen wird, daß ein Ausnahmefall des BVG § 57 nicht vorliegt und sich das Gericht die für diese Annahme nötige Gewißheit über den Verlauf des Leidens - etwa durch die Einnahme eines Verfahrensmangels - nicht verschafft. Dieser Verfahrensmangel führt zur Statthaftigkeit der Revision.

 

Normenkette

BVG § 57; SGG §§ 103, 128

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 09.03.1960)

SG Darmstadt (Entscheidung vom 14.01.1957)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 9. März 1960 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der Kläger beantragte im März 1955 Versorgung wegen Hungertyphus, Herzleidens und Schizophrenie. Das Versorgungsamt (VersorgA) lehnte diesen Antrag am 9. Juli 1956 ab, weil die Anmeldefrist des § 56 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) versäumt sei. Klage und Berufung blieben erfolglos. Auf die Revision des Klägers hob das Bundessozialgericht (BSG) durch Urteil vom 26. Februar 1959 die Entscheidung des Landessozialgerichts (LSG) auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurück, und zwar mit der Begründung, die Frist des § 56 BVG sei versäumt, die Voraussetzungen des § 57 BVG für eine verspätete Geltendmachung des Rentenanspruchs lägen hinsichtlich des Nervenleidens nicht vor, das LSG habe aber diese Frage bezüglich der geltend gemachten inneren Leiden nicht ausreichend geprüft und damit seine Sachaufklärungspflicht verletzt.

Nach Beweiserhebung wies das LSG durch Urteil vom 9. März 1960 die Berufung des Klägers gegen das sozialgerichtliche Urteil erneut zurück: Bezüglich des Nervenleidens, das keine Schädigungsfolge sei, habe der Kläger keinen Antrag auf Versorgung mehr gestellt. Die noch geltend gemachten Gesundheitsstörungen, nämlich chronische Mandelentzündung und Herzmuskelschädigung, seien nicht Folgen des Wehrdienstes; dies ergebe sich im wesentlichen aus den eigenen Angaben des Klägers. Zwar sähen die Sachverständigen Prof. Dr. C... und Dr. B... diese Gesundheitsstörungen als Folgen des Wehrdienstes an; diese Auffassung sei aber nicht überzeugend, weil die Ärzte in ihrem Gutachten nur von den eigenen Angaben des Klägers ausgegangen seien. Denn die Untersuchungen von 1955 und 1956 hätten keinen Befund an den inneren Organen ergeben, allerdings bei überschlägiger Untersuchung. Selbst wenn man aber anderer Auffassung sei, so sei kein Beweis dafür zu erbringen, daß die Gesundheitsstörungen sich erst nach Ablauf der Frist des § 56 BVG in einem rentenberechtigenden Grade bemerkbar gemacht hätten oder sich in allmählich gleichmäßiger Entwicklung wesentlich verschlimmert hätten. Die Sachverständigen Prof. Dr. C... und Dr. E... nähmen dies zwar an, dies stehe aber mit allen sonstigen Feststellungen im Widerspruch. Das LSG ließ die Revision nicht zu.

Das Urteil wurde dem Kläger am 24. März 1960 zugestellt. Am 27. März 1960 beantragte er die Bewilligung des Armenrechts. Diesem Antrag gab der Senat durch Beschluß vom 23. Juni 1961 statt und ordnete ihm am 18. Juli 1961 einen Rechtsanwalt als Armenanwalt bei. Dieser Beschluß wurde dem Kläger und dem beigeordneten Rechtsanwalt am 31. Juli 1961 zugestellt.

Am 30. August 1961 legte der Kläger Revision ein und begründete sie im gleichen Schreiben; er bat ferner um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Er trägt vor, der Beklagte könne sich nicht mehr auf Fristablauf bei der Anmeldung des Anspruchs berufen, nachdem durch das Neuordnungsgesetz vom 27. Juni 1960 die Vorschriften über die Antragsfrist entfallen seien. Überdies sei die Ablehnung wegen Fristablaufs nicht zulässig, weil der Anspruch auf Versorgung zweifelsfrei gegeben sei. Das Urteil nehme zu Unrecht an, der Kläger beanspruche keine Versorgung mehr wegen des Nervenleidens; eine solche Erklärung habe er nie abgegeben. Das LSG habe auch den am 11. April 1957 gestellten Antrag, Prof. R... Darmstadt, als Sachverständigen zu hören, übergangen, obwohl dies ein Antrag nach §109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gewesen sei. Das LSG habe sich ferner ohne stichhaltige Gründe über das Gutachten Prof. Dr. C... und Dr. B... hinweggesetzt, das einen ursächlichen Zusammenhang der Leiden des Klägers mit den Einflüssen des Wehrdienstes angenommen und auch die Ansicht vertreten habe, das Leiden des Klägers habe im Jahre 1955 schon in dem gleichen Umfang wie zur Zeit der Untersuchung bestanden. Wenn das LSG dieses Gutachten für ungenau oder zu allgemein gehalten habe, hätte es auf Ergänzung hinwirken müssen. Es sei im übrigen nicht dargelegt, warum die Auffassung dieser Sachverständigen mit dem Inhalt der Akten im Widerspruch stehe. Eine weiteres Beweiserhebung sei auch im Hinblick auf die Äußerung des Oberregierungsmedizinalrats Dr. ... vom 21. Januar 1960 notwendig gewesen. Schließlich sei das angefochtene Urteil insoweit fehlerhaft, als es die Voraussetzungen des § 57 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BVG verneint habe.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Hessischen LSG in Darmstadt vom 9. März 1960 und den Bescheid des VersorgA Darmstadt vom 9. Juli 1956 aufzuheben und

unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts in Darmstadt vom 14. Januar 1957 den Beklagten zu verurteilen,

die Gesundheitsschädigungen des Klägers - chronische Mandelentzündung, Herzmuskelschädigung, neurovegetative Übererregbarkeit, chronische Entzündung der Magenschleimhaut, Geisteskrankheit (Schizophrenie) - als Gesundheitsschädigungen nach § 1 BVG anzuerkennen,

an den Kläger vom 1. März 1955 an eine Rente unter Zugrundelegung einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50 v.H. zu zahlen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an das. Hessische LSG in Darmstadt zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

II.

Die Revision ist zulässig und begründet. Zunächst war dem Kläger gemäß § 67 SGG wegen Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil er ohne Verschulden verhindert war, diese Verfahrensfrist einzuhalten. Er hat innerhalb der Revisionsfrist ein Gesuch um Bewilligung des Armenrechts eingereicht. Bis zu der Entscheidung hierüber sowie vor Zugang des Beschlusses über die Bewilligung des Armenrechts und die Beiordnung eines Rechtsanwalts war er verhindert, selbst Revision einzulegen. Nachdem dieses Hindernis am 31 Juli 1961 weggefallen war, hat er innerhalb der Frist von einem Monat (§ 67 Abs. 2 SGG) die Revision eingelegt und begründet und gleichzeitig Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt. Die Revision ist daher als fristgerecht anzusehen.

Der Kläger rügt zu Recht wesentliche Mängel des Verfahrens, die die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft machen. Allerdings kann er nicht damit gehört werden, das LSG habe entgegen seinem Antrag nicht darüber entschieden, ob das Nervenleiden Schädigungsfolge sei. Einen solchen Antrag hat der Kläger nicht mehr gestellt. Denn nach dem Protokoll über die mündliche Verhandlung vor dem LSG hat er nur beantragt, unter Anerkennung der chronischen Mandelentzündung und der Herzmuskelschädigung als Schädigungsfolgen Versorgung zu gewähren. Das Protokoll erbringt nach § 122 Abs. 3 SGG in Verbindung mit § 160 Abs. 2 Nr. 2, § 164 der Zivilprozeßordnung den Nachweis, daß nur dieser Antrag und nicht auch weitere gestellt worden sind. Gegenüber dem Protokoll ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig, dahingehende Behauptungen hat der Kläger aber nicht aufgestellt.

Seine Rügen greifen jedoch insoweit durch, als das LSG einen Zusammenhang des Herzleidens mit dem Wehrdienst abgelehnt hat. Das LSG ist zu dem Ergebnis gekommen, die Frist des § 56 BVG sei versäumt, es bestehe kein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Leiden und dem Wehrdienst, auch seien die Voraussetzungen des § 57 BVG nicht erfüllt. Während gegenüber der ersten Feststellung keine durchgreifenden Verfahrensrügen erhoben worden sind, wendet sich der Kläger mit Recht gegen die beiden übrigen. Denn das Gutachten Prof. Dr. C... und Dr. H... von der Inneren Klinik des Stadtkrankenhauses Offenbach bejaht den ursächlichen Zusammenhang und auch - dem Sinn nach wenigstens - das Vorliegen der Voraussetzungen des § 57 BVG. Wenn dem LSG das Gutachten nicht klar oder überzeugend genug war, hätte es in der Tat auf Ergänzung hinwirken oder weitere Ermittlungen anstellen müssen, die auch der ärztliche Dienst des Beklagten (Oberregierungs-Medizinalrat Dr. V... als notwendig angesehen hat. Hinzu kommt, daß frühere gegenteilige Gutachten nur auf oberflächlichen Untersuchungen von Nichtfachärzten beruhen, während es sich hier um eine Fachklinik gehandelt hat. Insbesondere fehlt es für die Schlußfolgerung des LSG, es seien keine Brückensymptome vorhanden, an den nötigen Unterlagen. Denn der Kläger hat gegenüber den genannten Gutachtern und gegenüber der Heil- und Pflegeanstalt Heppenheim und dem Nervenarzt Dr. H..., Darmstadt, über Herzbeschwerden in früheren Jahren geklagt. Diesen Behauptungen hätte das LSG nachgehen müssen; es durfte sich nicht ohne eigene Ermittlungen über das Gutachten Prof. Dr. C... und Dr. H... hinwegsetzen. Das gilt nicht nur bezüglich der Frage des ursächlichen Zusammenhangs des Herzleidens mit dem Wehrdienst, sondern auch bezüglich der Frage, ob eine nachträgliche Anmeldung der Versorgungsansprüche gemäß § 57 BVG noch stattfinden konnte. Das LSG hat insoweit gegen § 103 und § 128 SGG verstoßen. Diesen Mangel hat der Kläger auch gerügt. Die Revision ist damit zulässig.

Das Rechtsmittel ist auch begründet, weil zum mindesten die Möglichkeit besteht, daß das LSG bei einem dem Gesetz entsprechen Verfahren zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre.

Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben. Da ausreichende tatsächliche Feststellungen fehlen, die dem Senat eine abschließende Entscheidung ermöglicht hätten, muß die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).

Dem LSG bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens überlassen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2291055

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