Leitsatz (amtlich)
Für die Berechnung der "pauschalen" Ausfallzeit iS von AnVNG Art 2 § 14 aF ist auch eine Ersatzzeit der Verfolgung (AVG § 28 Abs 1 Nr 4) nicht als eine "mit Pflichtbeiträgen belegte Zeit" zu berücksichtigen.
Normenkette
ArVNG Art. 2 § 14 Fassung: 1957-02-23; AnVNG Art. 2 § 14 Fassung: 1957-02-23; AVG § 28 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 30. April 1965 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger, geboren am 9. Februar 1899, erhält seit 1. Februar 1964 von der Beklagten Altersruhegeld. Die Beklagte berücksichtigte dabei die Zeiten nationalsozialistischer Verfolgung des Klägers in den Jahren 1933 bis 1947 mit 736 Wochen als Ersatzzeiten, ferner eine "pauschale" Ausfallzeit nach Art. 2 § 14 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) i.d.F. (aF) vor dem Inkrafttreten des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 mit 24. Monaten. Der Kläger begehrte die Berücksichtigung einer Ausfallzeit von weiteren 74 Wochen, weil die Verfolgungszeit als "mit Pflichtbeiträgen belegte Zeit" anzusehen sei. Klage und Berufung hatten keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - Oldenburg vom 24. November 1964, Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Niedersachsen vom 30. April 1965). Das LSG führte aus, Verfolgungszeiten seien zwar als Versicherungszeiten für die Erfüllung der Wartezeit und für die Ermittlung der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre, ferner nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16. September 1960 (BSG 13, 67) für den Anspruch weiblicher Versicherter auf das vorzeitige Altersruhegeld (§ 25 Abs. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -) als "rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit" zu berücksichtigen, nicht aber als "mit Pflichtbeiträgen belegte Zeit" im Sinne von Art. 2 § 14 AnVNG aF. Das LSG ließ die Revision zu.
Mit der form- und fristgerecht eingelegten Revision beantragte der Kläger,
die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des SG Oldenburg vom 24. November 1964 und des angefochtenen Urteils zur Erhöhung des Altersruhegeldes seit dem 1. Februar 1964 durch Erhöhung der Ausfallzeitpauschale um 74 Wochen aus der Invalidenversicherung zu verurteilen.
Zur Begründung trug er vor, die Nichtberücksichtigung der Verfolgungszeiten bei der "pauschalen" Ausfallzeit widerspreche sowohl dem Grundgedanken des Bundesentschädigungsgesetzes als auch dem Gesetz über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung vom 22. August 1949 ( VerfolgtenG ) und dem erwähnten Urteil des BSG; der Kläger sei durch Verfolgungsmaßnahmen an der Beitragsentrichtung gehindert worden; wenn die Verfolgungszeit bei der Ermittlung der "pauschalen" Ausfallzeit nicht berücksichtigt werde, so entstehe dem Kläger ein weiterer verfolgungsbedingter Schaden in der Rentenversicherung, der durch die Anrechnung der Verfolgungszeit als Ersatzzeit nicht ausgeglichen sei.
Die Beklagte beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung (§§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden.
II
Die Revision ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 SGG). Sie ist jedoch nicht begründet.
Nach Art. 2 § 14 AnVNG (= Art. 2 § 14 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz - ArVNG -) aF - diese Vorschrift hat im Zeitpunkt der Entscheidung des LSG gegolten - ist bei der Berechnung der Rente nach dem Inkrafttreten der Neuregelungsgesetze für die Zeit vor dem Inkrafttreten dieser Gesetze ein Zehntel der bis zum 1. Januar 1957 "mit Pflichtbeiträgen belegten Zeit" als "pauschale" Ausfallzeit anzurechnen (sofern der Berechtigte nicht längere Ausfallzeiten nachweist, was im vorliegenden Fall außer Betracht bleiben kann). Die Vorschrift bezweckt einerseits eine "Beweisersparnis" für möglicherweise lange zurückliegende Ausfallzeiten, andererseits dient sie materiell-rechtlich der Angleichung der Zugangsrenten an die umgestellten Bestandsrenten, die "pauschale" Ausfallzeiten bereits in den Umstellungsfaktoren berücksichtigen (BArbBl 1957, 221, 231). Ebenso wie § 36 Abs. 3 AVG aF für die Anrechenbarkeit von Ausfallzeiten im Sinne von § 36 Abs. 1 AVG grundsätzlich an Zeiten, die "mit Beiträgen für eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit belegt" sind, anknüpft, ist auch die Berechnung der Dauer der "pauschalen" Ausfallzeit nach Art. 2 § 14 AnVNG aF nach einem Verhältnis zu der bis 1. Januar 1957 "mit Pflichtbeiträgen belegten Zeit" geregelt. "Mit Pflichtbeiträgen belegt" sind Zeiten, für die Beiträge auf Grund der Versicherungspflicht entrichtet sind oder als entrichtet gelten. Zu diesen Zeiten gehören nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut nicht Ersatzzeiten, weil sie "Zeiten ohne Beitragsleistung" sind (§§ 27 Abs. 1 Buchst. b, 28 AVG). Dies gilt für die Ersatzzeit der Verfolgung (§ 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG) ebenso wie für die übrigen Ersatzzeiten (§ 28 Abs. 1 Nr. 1 bis 3, 5 bis 6 AVG), also z.B. für Zeiten der Kriegsgefangenschaft, der Verschleppung oder der Vertreibung. Hätte der Gesetzgeber die Ersatzzeit der Verfolgung für die Berechnung der "pauschalen" Ausfallzeit nach Art. 2 § 14 AnVNG aF anders behandeln wollen als die übrigen Ersatzzeiten, so hätte er dies ausdrücklich sagen müssen (zu vgl. auch Urteile des erkennenden Senats vom 28. Juni 1966, SozR Nr. 6 zu § 1233 der Reichsversicherungsordnung - RVO - = § 10 AVG, vom 21. September 1966 - 11 RA 340/65 - und vom 23. November 1966 - 11 RA 369/65 -; dort ist entschieden, daß für die Berechtigung zur Weiterversicherung nach § 10 AVG Verfolgungszeiten im Sinne von § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG nicht als Zeiten einer "rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit, für die Beiträge entrichtet" sind, anzusehen sind). Der Wortlaut des Art. 2 § 14 AnVNG aF, der unmißverständlich ist, läßt für eine "Auslegung" in dem vom Kläger für geboten gehaltenen Sinne keinen Raum.
Das Gesetz enthält hinsichtlich der Berechnung der "pauschalen" Ausfallzeit für Verfolgte auch nicht eine ungewollte Lücke, die durch Berücksichtigung des dem VerfolgtenG und dem Bundesentschädigungsgesetz zugrunde liegenden Prinzips einer "vollständigen" Wiedergutmachung geschlossen werden müßte. Es trifft zwar zu, daß die Anrechnung der "pauschalen" Ausfallzeit mit einem Zehntel der bis 1. Januar 1957 "mit Pflichtbeiträgen belegten Zeit" insoweit "als unbefriedigend empfunden" worden ist, "als den Versicherten, die längere Beitragszeiten nachweisen, auch noch entsprechend lange Ausfallzeiten angerechnet werden, während Versicherte mit kürzerer Beitragszeit, die unter Umständen gerade die Folge einer längeren Krankheit oder Arbeitslosigkeit ist, als pauschale Ausfallzeit nur eine verhältnismäßig kurze Zeit zugute kommt" (so die Begründung des Regierungsentwurfs vom 23. September 1964 zu dem Gesetz zur Beseitigung von Härten in den gesetzlichen Rentenversicherungen - RVÄndG - Deutscher Bundestag, 4. Wahlper., Drucks. IV 2572 S. 28 unter Art. 2 § 1 Nr. 3). Deshalb ist Art. 2 § 14 AnVNG durch das RVÄndG vom 9. Juni 1965 (BGBl I 473 ff) völlig neu gefaßt worden. Die "pauschale" Ausfallzeit ist nun nicht mehr grundsätzlich ein Zehntel der "mit Pflichtbeiträgen belegten Zeit", sie knüpft vielmehr an das Verhältnis an, das zwischen der "Versicherungszeit" - zu der die Ersatzzeiten gehören - und der "Gesamtzeit" - nämlich der Zeit vom Beginn des Kalendermonats der Entrichtung des ersten Pflichtbeitrags (bzw. der Vollendung des 16. Lebensjahres, falls der erste Pflichtbeitrag nach diesem Zeitpunkt entrichtet ist) bis zum Ende des Kalendermonats der Entrichtung des letzten Pflichtbeitrags vor dem 1. Januar 1957 - besteht (vgl. Art. 2 § 14 AnVNG nF, Sätze 2 bis 6). Diese Neuregelung (Verbesserung) kommt allen Versicherten mit "Beitragslücken", die auf Ersatzzeittatbeständen beruhen, zugute, also auch den Verfolgten; sie gilt jedoch erst vom 1. Januar 1966 an (Art. 2 § 1 Nr. 4, Art. 5 § 10 Abs. 1 Buchst. d RVÄndG) und sie ist nicht maßgebend für Rentenansprüche aus Versicherungsfällen, die - wie hier - vor dem Inkrafttreten dieser Vorschrift eingetreten sind (Art. 5, §§ 3 und 4 RVÄndG). Auch hier hat der Gesetzgeber keinen Anlaß gesehen, den Zeitpunkt für das Inkrafttreten des Art. 2 § 14 AnVNG nF bei Verfolgten anders - etwa mit Rückwirkung auf 1. Januar 1957 - festzusetzen als für Versicherte, die Ersatzzeiten aus anderen Gründen angerechnet erhalten. Die Auffassung des Senats, daß eine Sonderregelung für die Berechnung der "pauschalen" Ausfallzeit bei Verfolgten nach Art. 2 § 14 AnVNG aF nicht beabsichtigt gewesen ist, wird hierdurch bestätigt.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Urteil des BSG vom 16. September 1960 (BSG 13, 67 ff). Zwar hat der 1. Senat dort zur Begründung seiner Auffassung über den Begriff der "rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung" in § 25 Abs. 3 Satz 1 AVG u.a. auf die "besonderen Entschädigungen" hingewiesen, die Verfolgten - über die Anrechnung der Verfolgungszeiten als "vollkommene Ersatzzeiten" hinaus - nach § 4 Abs. 3, 4, 6 VerfolgtenG gewährt worden sind; er hat hieraus - allgemein - den Schluß gezogen, daß "der Gesetzgeber die Verfolgten in versicherungsrechtlicher Hinsicht denen gleichstellen wollte, die - anstatt eine Verfolgung zu erleiden - eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt haben". Gegen diesen Grundgedanken des allgemeinen Entschädigungsrechts verstoßen die Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetze aber nicht. Sie behandeln die Verfolgungszeiten weiterhin als Ersatzzeiten und gewähren darüber hinaus auch den Verfolgten die "pauschale" Ausfallzeit nach Art. 2 § 14 AnVNG. Es muß Sache des Gesetzgebers bleiben, den Grundgedanken des allgemeinen Entschädigungsrechts in der Sozialversicherung zu verwirklichen; die Rechtsprechung darf sich über eindeutige und nicht auslegungsfähige Rechtsvorschriften nicht hinwegsetzen. Für eine "freie richterliche Rechtsfindung" ist insoweit kein Raum; auch nicht für eine "Vermischung" von Berechnungsvorschriften des bis zum 31. Dezember 1956 geltenden Rechts mit den Vorschriften für die Rentenberechnung nach neuem Recht - hier etwa durch die Gewährung der im VerfolgtenG besonders geregelten Steigerungsbeträge für Ersatzzeiten und die Ausdehnung dieser Regelung auf die "pauschale" Ausfallzeit des neuen Rechts (vgl. Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 9. Mai 1965, RzW 1966, 430).
Das LSG hat sonach Art. 2 § 14 AnVNG aF richtig angewandt. Der Kläger kann die Anrechnung einer höheren "pauschalen" Ausfallzeit nicht beanspruchen. Seine Revision ist deshalb unbegründet und zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen