Leitsatz (redaktionell)
Ein familienähnliches Band kann das Kind nicht gleichzeitig mit den Eltern (bzw einem Elternteil) und den Großeltern verbinden. Es besteht entweder zu den einen oder zu den anderen.
Normenkette
RVO § 1262 Abs. 2 Nr. 7 Fassung: 1957-02-23; KGG § 2 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1957-07-27
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Januar 1963 wird aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 23. Februar 1959 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Es ist streitig, ob die Versichertenrente des Klägers um den Kinderzuschuß für sein Enkelkind R W - als Pflegekind im Sinne des § 1262 Abs. 2 Nr. 7 der Reichsversicherungsordnung (RVO) i. V. m. § 2 Abs. 1 Satz 3 des Kindergeldgesetzes (KGG) in der Fassung vom 27. Juli 1957 - zu erhöhen ist.
In der Wohnung des Klägers und seiner Ehefrau wohnen mit ihnen zusammen ihre beiden unverheirateten Töchter und das im Jahre 1957 unehelich geborene Kind R seiner Tochter G. Diese ist als Fabrikarbeiterin beschäftigt; ihr Bruttoverdienst betrug im Jahre 1958 etwa 65,- DM wöchentlich. Sie hat keinen eigenen Wohn-, Koch- oder Schlafraum, wohnt und ißt vielmehr mit ihren Eltern zusammen; den Schlafraum teilt sie mit ihrer Schwester, während R im Schlafzimmer der Großeltern schläft. Die Ehefrau des Klägers kocht für die fünf Personen gemeinsam. Die Tochter G hilft - ebenso wie ihre Schwester - in ihrer Freizeit im Haushalt. Sie zahlt den Eltern Kostgeld für sich und ihr Kind. Die Kosten für Kleidung und Wäsche des Kindes bestreitet sie aus eigenen Mitteln und aus den Unterhaltszahlungen des Kindesvaters.
Durch Bescheid vom 29. Juli 1958 gewährte die Beklagte dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. April 1958 an. Einen Kinderzuschuß für das Kind R versagte sie ihm, weil kein Pflegekindschaftsverhältnis im Sinne der bereits genannten Vorschriften vorliege.
Die hiergegen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) Reutlingen durch Urteil vom 23. Februar 1959 abgewiesen.
Auf die Berufung des Klägers hin hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg diese Entscheidung am 25. Januar 1963 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Rente um den Kinderzuschuß für Rainer Wolfer zu erhöhen. Es hat das Kind als Pflegekind des Versicherten im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 3, 2. Halbsatz, 1. Alternative des KGG in der Fassung vom 27. Juli 1957 angesehen ("Kinder, die in den Haushalt von Großeltern ... aufgenommen sind"); die Erfordernisse der 2. Alternative (Kinder, die von Großeltern ... überwiegend unterhalten werden) hat es als nicht erfüllt bezeichnet. Zur Begründung des positiven Teils seiner Entscheidung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt: Ein Kind sei in den Haushalt der Großeltern aufgenommen, wenn es von diesen betreut und versorgt werde und bei ihnen als zur Familie gehörig im Rahmen dieser natürlichen Einheit seine Heimat finde; dagegen sei es nicht erforderlich, daß die Großeltern auch für den Unterhalt des Kindes aufkämen und daß die Beziehungen des Kindes zu seinen leiblichen Eltern vollständig gelöst seien. Ein Kind könne daher auch dann Pflegekind der Großeltern sein, wenn die leibliche Mutter ebenfalls in deren Haushalt lebe. So sei es im vorliegenden Streitfalle. R W werde überwiegend von seinen Großeltern betreut und versorgt. Seine Mutter habe weder einen eigenen Haushalt, noch führe sie einen gemeinsamen Haushalt mit ihren Eltern, es gebe vielmehr nur einen Haushalt der Großeltern. In diesen sei das Kind aufgenommen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat Revision eingelegt.
Sie beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Zur Begründung des Rechtsmittels bezieht sie sich im wesentlichen auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 25. April 1963 (BSG 19, 106).
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten vertreten.
Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§§ 165, 153, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Für den Kläger hat der von ihm bevollmächtigte Kreisoberamtmann K, obwohl er nicht als Prozeßbevollmächtigter vor dem BSG zugelassen ist, die Einverständniserklärung wirksam abgegeben; diese Prozeßhandlung unterliegt nicht dem Vertretungszwang des § 166 Abs. 1 SGG (vgl. BSG SozR SGG § 124 Nr. 5).
Die Revision ist zulässig und begründet.
Da der Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit des Klägers im April 1958 eingetreten ist, sind für die Beurteilung des Anspruchs auf einen Kinderzuschuß die zu jener Zeit geltenden Vorschriften maßgebend, nämlich § 1262 Abs. 2 Nr. 7 RVO i. V. m. § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 und Satz 3 KGG in der Fassung vom 27. Juli 1957. Danach sind Pflegekinder solche "Kinder, die in den Haushalt von Personen aufgenommen sind, mit denen sie ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verknüpft, wenn diese zu dem Unterhalt der Kinder nicht unerheblich beitragen; Kinder, die in den Haushalt von Großeltern oder Geschwistern aufgenommen worden sind oder von ihnen überwiegend unterhalten werden, gelten als Pflegekinder".
Pflegekind im Sinne des ersten Halbsatzes der angeführten Vorschrift ist R W im Verhältnis zum Kläger schon deshalb nicht, weil es an dem geforderten "familienähnlichen, auf längere Dauer berechneten Band" zwischen diesen beiden Personen fehlt. Ein solches Familienband, das vor allem durch ein Aufsichts-, Betreuungs- und Erziehungsverhältnis auf der Grundlage einer familienähnlichen ideellen Dauerverbindung gekennzeichnet ist, kann - dies entspricht der natürlichen Betrachtungsweise - das Kind nicht gleichzeitig mit den Eltern (bzw. einem Elternteil) und den Großeltern verbinden; es besteht entweder zu den einen oder zu den anderen (vgl. BSG 13, 162; 19, 106, 107). Weil im vorliegenden Falle nach den vom LSG getroffenen Feststellungen ein familienhaftes Band zwischen R W und seiner Mutter besteht, scheidet der Kläger als Pflegevater nach der in Betracht gezogenen Vorschrift aus.
Da der Kläger auch nicht - wie unangegriffen festgestellt ist - den Unterhalt seines Enkels überwiegend bestreitet (Halbsatz 2, 2. Alternative), bleibt nur noch zu prüfen - hierüber allein herrscht unter den Beteiligten Streit -, ob R W "in den Haushalt der Großeltern aufgenommen ist" (Halbsatz 2, 1. Alternative). Wie der erkennende Senat anläßlich einer früheren Entscheidung (BSG 19, 106) näher ausgeführt hat, erfordert das Tatbestandsmerkmal der Aufnahme in den Haushalt der Großeltern, daß das Kind sich vom elterlichen oder mütterlichen Haushalt "gelöst" hat und in den Haushalt der Großeltern überführt worden ist. Leben - wie in dem hier zu entscheidenden Streitfalle - Großeltern und Mutter gemeinsam in ein und demselben Haushalt, so ist das Kind, mag auch der Haushalt rechtlich derjenige der Großeltern sein, nicht in deren Haushalt aufgenommen, wenn es nicht von der Familiengemeinschaft mit der Mutter getrennt worden ist. Das nähere Familienverhältnis zur Mutter schließt es aus, daß das Zusammenleben des Kindes auch mit den Großeltern einen Anspruch auf Kindergeld zu begründen vermag. Der Senat hat keinen Anlaß, von dieser Rechtsauffassung abzuweichen, dies um so weniger, als seine - bereits genannte - Entscheidung, soweit ersichtlich, im Schrifttum keinen Widerspruch erfahren und auch der Kläger nichts Entscheidendes hiergegen vorgebracht hat. Ein abweichendes - nicht rechtskräftiges - Urteil des Bayerischen LSG vom 12. Mai 1964 - L 16/J 233/62 - enthält keine Gedankengänge, die nicht bereits in der Entscheidung in BSG 19, 106 behandelt worden wären. Hiernach besteht zwischen R W und dem Kläger kein Pflegekindschaftsverhältnis im Sinne der angeführten Vorschriften; denn die Mutter des Kindes hat ihr primäres Erziehungs- und Fürsorgerecht nicht tatsächlich aufgegeben. Die Beklagte ist demnach nicht verpflichtet, die Rente des Klägers um den Kinderzuschuß zu erhöhen.
Das Urteil des LSG muß somit aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das klagabweisende Urteil des SG zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 Abs. und 4 SGG.
Fundstellen