Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

 

Orientierungssatz

Die Klagefrist ist dann ohne Verschulden versäumt, wenn ein Versicherter auf Grund der Rechtsmittelbelehrung - die Frist für die Erhebung der Klage gelte auch dann als gewahrt, wenn die Klageschrift innerhalb der Frist statt bei dem zuständigen Gericht der Sozialgerichtsbarkeit bei der Landesversicherungsanstalt eingehe - des Versicherungsträgers annehmen mußte, bereits Klage erhoben zu haben.

 

Normenkette

SGG § 67 Abs. 1, § 91 Abs. 1

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 07.07.1964)

SG Nürnberg (Entscheidung vom 21.02.1962)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. Juli 1964 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Klägerin begehrt die Durchführung der Berechnung ihrer Rente gemäß Art. 2 § 42 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG). Streitig ist die Zulässigkeit der Klage.

Die Beklagte gewährte der Klägerin auf ihren Antrag vom Februar 1960 durch Bescheid vom 17. Mai 1960 Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. Februar 1960 an in Höhe von monatlich 25,70 DM; die Berechnung der Rente nach dem für die Klägerin günstigeren alten Recht gemäß Art. 2 § 42 ArVNG lehnte sie ab, weil die Klägerin für die Jahre 1957 bis 1959 nicht, wie diese Vorschrift es verlangt, mindestens je 9 Monatsbeiträge entrichtet habe. Der Bescheid ging der Klägerin am 28. Mai 1960 zu. Mit Schreiben vom 30. Mai 1960, bei der Beklagten eingegangen am 1. Juni 1960, wies die Klägerin darauf hin, sie habe vom 1. Januar 1957 bis 31. Dezember 1959 9 Marken zu je 42 DM geklebt; das sei derselbe Betrag, als wenn sie dreimal 9 Marken zu je 14 DM geklebt hätte; sie fragte die Beklagte, ob sie Klage erheben könne, und bat um Bescheid, ob sich eine Klage beim Sozialgericht (SG) lohne und ob sie die Lasten selber zahlen müsse. Mit Schreiben vom 23. Juni 1960, das die Beklagte am 27. Juni 1960 absandte, teilte sie der Klägerin unter Darlegung ihrer Rechtsauffassung mit, daß eine Klage zum SG keine Aussicht auf Erfolg haben würde; die Beklagte fragte die Klägerin, ob sie ihr Schreiben vom 30. Mai 1960 als Klage gegen den Bescheid vom 17. Mai 1960 gelten lassen wolle. Darauf bat die Klägerin mit Schreiben vom 4. Juli 1960, das bei der Beklagten am 5. Juli einging, ihr Schreiben vom 30. Mai 1960 als Klage gelten zu lassen und an das SG weiterzuleiten. Dem entsprach die Beklagte.

Das SG hat die Beklagte unter Abänderung des Bescheides verurteilt, im Versicherungsfall der Klägerin die Vergleichsberechnung im Sinne des Art. 2 § 42 ArVNG durchzuführen und der Klägerin die sich hieraus ergebende höhere Rente ab 1. Februar 1960 zu gewähren (Urteil vom 21. Februar 1962).

Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil aufgehoben und die Klage als unzulässig abgewiesen (Urteil vom 7. Juli 1964). Das Berufungsgericht hat die Klage deshalb als unzulässig angesehen, weil die Klagefrist von einem Monat versäumt sei. Da der Bescheid der Beklagten der Klägerin am 28. Mai 1960 ausgehändigt worden sei, habe die Klagefrist am 29. Mai begonnen und am 28. Juni 1960 geendet. Die in dem Schreiben der Klägerin vom 30. Mai 1960 gestellte Frage, ob eine etwaige Klage Erfolg haben werde und ob sie erhoben werden solle, stelle keine Klage dar. Daran ändere auch die Tatsache nichts, daß die Beklagte in ihrem Antwortschreiben an die Klägerin vom 23. Juni 1960 angeregt habe, die Klägerin solle mitteilen, ob sie ihr Schreiben vom 30. Mai 1960 als Klage gegen den Bescheid vom 17. Mai 1960 gelten lassen wolle, und daß die Klägerin mit ihrem Schreiben vom 4. Juli 1960 dieser Anregung Folge geleistet habe. In Wahrheit habe die Klägerin erstmals mit Schreiben vom 4. Juli 1960 ihre "Klage" erklärt, die jedoch verspätet gewesen sei. Gründe, die die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Klagefrist rechtfertigen könnten, lägen nicht vor. Die Klägerin habe die Versäumung der Klagefrist selbst zu vertreten. Sie hätte sich wegen einer Auskunft, anstatt den umständlichen Weg einer schriftlichen Anfrage bei der Beklagten zu wählen, an ihre Gemeindevertretung oder an das zuständige Versicherungsamt wenden können. Sie habe auch ihre Anfrage nicht als eilig oder vordringlich bezeichnet, obgleich sie ihren Erfahrungen mit früheren Anfragen hätte entnehmen können, daß ein Antwortschreiben der Beklagten gewöhnlich erst nach einigen Wochen zu erwarten gewesen sei.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin Revision eingelegt. Sie rügt, das LSG hätte die Klage nicht als unzulässig abweisen dürfen. Die Revision meint, das Schreiben der Klägerin vom 30. Mai 1960 müsse als Klage angesehen werden, weil sich aus ihm ergebe, daß sie eine gerichtliche Überprüfung erstrebte, falls die Beklagte selbst den Bescheid nicht ändern könne oder wolle. In jedem Fall hätte das LSG die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müssen. Der Klägerin sei erst am 29. Juni 1960, nach Ablauf der Klagefrist, mitgeteilt worden, daß sich eine Klage nicht lohne, wenn sie aber ihr Schreiben vom 30. Mai 1960 als Klage bezeichnen wolle, möge sie dies mitteilen. Die Beklagte wäre verpflichtet gewesen, das Schreiben wunschgemäß (so bald als möglich) sofort zu beantworten. Sie wäre sogar nach dem Gesetz verpflichtet gewesen, das Schreiben unverzüglich an das Sozialgericht weiterzuleiten.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

das Urteil des Bayerischen LSG vom 7. Juli 1964 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 21. Februar 1962 zurückzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Sie hält das angefochtene Urteil für richtig.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Die Revision ist zulässig und begründet. Sie hat insoweit Erfolg, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Obgleich das LSG die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen hat, ist sie statthaft, weil die Klägerin einen wesentlichen Mangel im Verfahren des LSG rügt, der auch vorliegt (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; BSG 1, 150). Das LSG hätte, wie die Revision in zulässiger Form rügt, die Klage nicht als unzulässig abweisen dürfen, sondern hätte gegen die Versäumung der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren und über den erhobenen Klageanspruch sachlich erkennen müssen. Darin, daß das LSG zu Unrecht an Stelle eines Sachurteils ein Prozeßurteil gefällt hat, liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel (BSG 1, 283; SozR SGG § 67 Nr. 9).

Dem Berufungsgericht ist entgegen der Ansicht der Revision darin beizupflichten, daß in dem Schreiben der Klägerin an die Beklagte vom 30. Mai 1960 eine Klageschrift im Sinne des § 87 Abs. 1 SGG nicht zu erblicken ist. Nach dem Inhalt dieses Schreibens wird nicht Rechtsschutz im Sinne einer Überprüfung des Bescheides vom 17. Mai 1960 durch ein Gericht der Sozialgerichtsbarkeit begehrt, sondern allenfalls eine Nachprüfung des Anspruchs der Klägerin auf Berechnung ihrer Rente gemäß Art. 2 § 42 ArVNG durch die Beklagte; eine Klage wird in diesem Schreiben nur erwogen und von der Mitteilung der Beklagten abhängig gemacht, ob sich eine Klage beim SG lohne und ob die Klägerin die dadurch entstehenden Kosten selbst zu tragen habe. Als Klageschrift kann erst das Schreiben der Klägerin an die Beklagte vom 4. Juli 1960 angesehen werden, das am 5. Juli bei der Beklagten eingegangen ist; denn erst aus dem Inhalt dieses Schreibens läßt sich der Wille der Klägerin entnehmen, daß sie eine gerichtliche Nachprüfung des Bescheides der Beklagten erstrebte. Ein Schreiben erfüllt die an eine Klageschrift zu stellenden Voraussetzungen nur dann, wenn in ihm ein solcher Wille hinreichenden Ausdruck gefunden hat (Peters/Sautter/Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, § 92 Anm. 1).

Da die Frist für die Erhebung der Klage von einem Monat seit Zustellung des Bescheides vom 17. Mai 1960 (§ 87 Abs. 1 Satz 1 SGG) bei Eingang der Klageschrift bei der Beklagten am 5. Juli 1960 verstrichen war, gilt die Klagefrist auch nach § 91 Abs. 1 SGG nicht als gewahrt, weil dies nur für den Fall vorgesehen ist, daß die Klageschrift innerhalb der Klagefrist statt bei dem zuständigen Gericht der Sozialgerichtsbarkeit unter anderen bei einem Versicherungsträger eingegangen ist. Das Berufungsgericht ist deshalb zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die Klagefrist versäumt ist.

Das LSG hätte jedoch der Klägerin gegen die Versäumung der Klagefrist gemäß §§ 67, 153 Abs. 1 SGG die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müssen. Nach § 67 Abs. 1 SGG ist einem Beteiligten auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Der Antrag ist binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Innerhalb der Antragsfrist ist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen. Ist dies geschehen, so kann die Wiedereinsetzung auch ohne Antrag gewährt werden (§ 67 Abs. 2 SGG). Da die Klägerin die versäumte Rechtshandlung, die Erhebung der Klage, innerhalb der Antragsfrist von einem Monat nachgeholt hat, war über die Wiedereinsetzung auch ohne ihren Antrag von Amts wegen zu entscheiden (BSG in SozR SGG § 67 Nr. 9 und Nr. 11). Es kommt deshalb darauf an, ob die Klägerin ohne Verschulden verhindert war, die Klagefrist einzuhalten. Im Gegensatz zu der Auffassung des Berufungsgerichts hat der Senat diese Frage bejaht.

Die Beklagte hat der Klägerin, wie das LSG mir Recht festgestellt hat, in dem angefochtenen Bescheid vom 17. Mai 1960 eine richtige Rechtsmittelbelehrung erteilt. Die Rechtsmittelbelehrung enthält aber folgenden an sich ebenfalls richtigen Satz: "Die Frist für die Erhebung der Klage gilt auch dann als gewahrt, wenn die Klageschrift innerhalb der Frist statt bei dem zuständigen Gericht der Sozialgerichtsbarkeit bei der Landesversicherungsanstalt eingeht. Dies empfiehlt sich zur Beschleunigung des Verfahrens, da dann die Landesversicherungsanstalt ihre Akten zugleich mit der Klage an das Sozialgericht weitergibt. ..." Die Klägerin hat sich offenbar nach diesem Hinweis richten wollen. Wenn sie mit Schreiben der Beklagten vom 23. Juni 1960, das diese am 27. Juni, also einen Tag vor Ablauf der Klagefrist, abgesandt hat, gefragt worden ist, ob sie "ihr Schreiben vom 30.5.1960 als Klage gegen den Bescheid vom 17.5.1960 gelten lassen wolle", so ist bei ihr durch die Beklagte als die mit der Erteilung der Rechtsmittelbelehrung beauftragte Stelle der Eindruck hervorgerufen worden, als könne ihr Schreiben vom 30. Mai 1960 als Klageschrift gelten, wenn sie sich dahin erkläre. Die Klägerin mußte auf Grund dieser Mitteilung der Beklagten der Auffassung sein, ihr Schreiben vom 30. Mai 1960 werde, der Rechtsmittelbelehrung entsprechend, als Klageschrift behandelt, die bei der Beklagten innerhalb der Klagefrist eingegangen ist. Deshalb durfte sie auch der Meinung sein, daß ihre Erklärung vom 4. Juli 1960, daß das Schreiben vom 30. Mai als Klage gelten solle, nicht fristgebunden und eilbedürftig sei. Hat aber die Klägerin auf die Richtigkeit der ihr in dem Schreiben der Beklagten vom 23. Juni 1960 erteilten Auskunft vertraut und deshalb davon abgesehen, eine neue Klageschrift noch innerhalb der Klagefrist bei der Beklagten oder dem SG anzubringen, so kann ihr das nicht als Verschulden angerechnet werden; denn wie die Klägerin auf die Richtigkeit der ihr erteilten Rechtsmittelbelehrung vertrauen durfte und in ihrem Vertrauen darauf nach § 66 Abs. 2 Satz 1 SGG geschützt wird, so durfte sie auch darauf vertrauen, daß die von der Beklagten vertretene Auffassung, in dem Schreiben vom 30. Mai 1960 könne eine innerhalb der Klagefrist bei der Beklagten eingegangene Klage erblickt werden, richtig war. Die Beklagte hat damit in Wirklichkeit eine ihre Rechtsmittelbelehrung ergänzende Belehrung erteilt, die zwar nicht bewirken kann, daß das irrigerweise als Klage angesehene Schreiben der Klägerin vom 30. Mai 1960 als Klage zu gelten hat, die aber das Versäumnis der Klagefrist für die Klägerin als entschuldbar erscheinen läßt.

Da die Klägerin demnach ohne Verschulden verhindert war, die Klagefrist einzuhalten, war ihr, nachdem sie die Klage innerhalb der Antragsfrist von einem Monat nachgeholt hat, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Das LSG hätte daher die Klage nicht wegen Versäumung der Klagefrist als unzulässig abweisen dürfen, sondern es hätte in der Sache entscheiden müssen. Da das Verfahren insoweit an einem wesentlichen Verfahrensmangel leidet, ist die Revision gemäß § 162 Abs. 1 Satz 2 SGG statthaft.

Die danach zulässige Revision ist auch begründet, weil das LSG infolge Nichtbewilligung der Wiedereinsetzung zu Unrecht von einer Sachentscheidung abgesehen hat und das angefochtene Urteil auf diesem Mangel beruht. Da das Berufungsgericht in der Sache selbst nicht entschieden und insoweit - von seinem Standpunkt aus mit Recht - keine tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, ist das angefochtene Urteil aufzuheben; die Sache ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324792

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