Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Hinterbliebenenrente. Unterhaltszahlungen. Prozessvergleich als sonstiger Grund iS des § 65 Abs 1 RKG. Verletzung der Aufklärungspflicht
Orientierungssatz
Wird vorgetragen, dass sich die Beteiligten beim Abschluss eines Vergleichs über Unterhaltszahlungen darüber einig gewesen seien, dass dieser Vergleich im Hinblick auf das beabsichtigte Scheidungsverfahren geschlossen worden sei und auch für dieses bestimmt sein sollte, verletzt das Gericht seine Aufklärungspflicht, wenn es sich damit begnügt, aus den Akten des Landgerichts ergebe sich kein Hinweis, dass dieser Unterhaltsvergleich zum Gegenstand des Scheidungsverfahrens gemacht worden sei.
Normenkette
SGG § 103 S. 1; RKG § 65 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 03.10.1974) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 3. Oktober 1974 aufgehoben; der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Unter den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin als der früheren Ehefrau des ... 1924 geborenen und ... 1971 verstorbenen Fritz H (Versicherter) eine Hinterbliebenenrente nach § 65 Reichsknappschaftsgesetz (RKG) zusteht, insbesondere ob ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt aus sonstigen Gründen im Sinne des § 65 Abs. 1 RKG zu leisten hatte.
Die Ehe zwischen der Klägerin und dem Versicherten wurde am 6. September 1946 geschlossen. Die Eheleute lebten seit dem 15. März 1965 getrennt, nachdem der Versicherte an diesem Tage nach einem Streit Feuer in der Wohnung gelegt hatte. Durch Urteil des Landgerichts Bochum vom 4. Januar 1966 wurde seine Unterbringung in eine Heilanstalt angeordnet, aus der er am 30. Mai 1969 bedingt entlassen wurde. Bis Oktober 1969 zahlte er dennoch Unterhalt an die Klägerin, die anschließend Sozialhilfe bezog. Am 10. November 1969 erhob sie vor dem Amtsgericht in Bielefeld eine Unterhaltsklage gegen ihren Ehemann. Das Verfahren wurde am 26. Februar 1970 durch folgenden Vergleich beendet:
1. Der Beklagte zahlt ab 1.4.1970 eine monatliche Unterhaltsrente an die Klägerin in Höhe von 150,- DM (in Worten: einhundertfünfzig Deutsche Mark), zahlbar bis zum 15. eines jeden Monats.
2. Auf die Rückstände zahlt der Beklagte insgesamt 300,- DM (in Worten: dreihundert Deutsche Mark), zahlbar in Raten von je 100,- DM (in Worten: einhundert Deutsche Mark) mit dem laufenden Unterhalt der ersten drei Raten.
3. Die Kosten übernimmt der Beklagte.
Der Versicherte hat jedoch auch danach weder an die Klägerin noch an das Sozialamt Unterhaltszahlungen geleistet. Er lebte von der ihm gewährten Bergmannsrente und einer Unfallrente nach einem Erwerbsminderungsgrad um 60 v. H.. Die Klägerin erhob am 17. Februar 1971 Scheidungsklage. Mit Urteil vom 18. Mai 1971 wurde die Ehe ohne Schuldausspruch geschieden. Das Urteil ist auf § 48 Ehegesetz gestützt. Der Versicherte hat nicht wieder geheiratet.
Der Antrag der Klägerin auf Hinterbliebenenrente wurde mit Bescheid der Beklagten vom 26. Juni 1972 abgelehnt und der dagegen eingelegte Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 19. September 1972 zurückgewiesen. Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen mit Urteil vom 16. Februar 1973 abgewiesen. Die dagegen von der Klägerin eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen mit Urteil vom 3. Oktober 1974 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der frühere Ehemann habe im letzten Jahr vor seinem Tode keinen Unterhalt geleistet. Nach den Vorschriften des Ehegesetzes habe er auch keinen Unterhalt zu leisten gehabt, denn das Scheidungsurteil enthalte keinen Schuldausspruch und die Klägerin habe die Scheidung verlangt (§ 61 Abs. 2 Ehegesetz). Schließlich sei der Versicherte auch nicht aus einem sonstigen Grund im Sinne des § 65 Satz 1 RKG verpflichtet gewesen, der Klägerin nach der Scheidung Unterhalt zu gewähren. Zwar könne ein gerichtlicher Unterhaltsvergleich als "sonstiger Grund" angesehen werden, jedoch habe der zwischen der Klägerin und ihrem Ehemann am 26. Februar 1970 vor dem Amtsgericht Bielefeld geschlossene Vergleich nur den Unterhalt während der damals noch bestehenden Ehe betroffen und seine Rechtsgrundlage in § 1361 BGB gehabt. Ob dieser Unterhaltstitel nach der Ehescheidung formell weiter gültig gewesen sei, könne dahingestellt bleiben. Der Versicherte hätte nämlich bei Vollstreckungsmaßnahmen der Klägerin eine Vollstreckungsgegenklage gem. § 767 Zivilprozeßordnung (ZPO) erheben können. Ein vollstreckbarer Titel sei nach dem Beschluß des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. Juni 1963 (BSGE 20, 1 ff) ausnahmsweise dann kein "sonstiger Grund" mehr, wenn der Versicherte "zur Zeit seines Todes" die Wirkung des Titels nach den Grundsätzen der §§ 323, 767 ZPO hätte beseitigen können. Die Möglichkeit zu Einwendungen gegen den Titel habe sich daraus ergeben, daß der Klägerin wegen des fehlenden Schuldausspruchs im Scheidungsurteil ein Unterhaltsanspruch gegen den geschiedenen Ehemann nicht mehr zugestanden habe. Die bloße Möglichkeit zur Beseitigung des Titels reiche im Rahmen des § 65 Satz 1 RKG aus; es komme nicht darauf an, ob der Versicherte die Absicht gehabt habe, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Deshalb sei auch nicht die in der Rechtsprechung umstrittene Frage bedeutsam, ob ein auf § 1361 BGB gestützter Unterhaltstitel einem Unterhaltsanspruch aufgrund der Vorschriften des Ehegesetzes zu vergleichen sei. Aus den beigezogenen Akten des Landgerichts Bielefeld ergebe sich kein Hinweis dafür, daß nach den Vorstellungen der Ehegatten die in dem Unterhaltsvergleich getroffene Vereinbarung zum Gegenstand des Scheidungsverfahrens gemacht worden sei und für die Zeit nach der rechtskräftigen Scheidung weiterhin gelten sollte. Für den Vortrag der Klägerin, der Vergleich sei die eigentliche Stütze des von ihr eingeleiteten Scheidungsverfahrens gewesen, finde sich in den Akten kein Anhaltspunkt. Das LSG hat gegen sein Urteil die Revision nicht zugelassen.
Mit der von ihr eingelegten Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Das LSG habe es versäumt, zu erforschen, ob zwischen ihr und ihrem verstorbenen Ehemann bzw. dessen Pfleger, Rechtsanwalt Ewald K in B, bei der von ihr erhobenen Scheidungsklage Einigkeit darüber bestanden habe, daß der Unterhaltsvergleich vom 26. Februar 1970 auch für die Zeit nach der rechtskräftigen Scheidung Bestand haben sollte. Es könne in diesem Zusammenhang dahinstehen, ob im Regelfall ein Unterhaltsberechtigter geltend machen könne, daß sein Unterhaltsvergleich nach § 1361 BGB nach anschließender Ehescheidung aus § 48 Ehegesetz nur eine formelle Rechtsposition darstelle und keine Unterhaltspflicht mehr begründe, denn sicher könne das dann nicht gelten, wenn diese Frage vorher zwischen den Parteien des Eherechtsstreits und ihren Bevollmächtigten erörtert worden sei und Einigkeit darüber bestanden habe, daß dieser Titel auch für die Zeit nach der Scheidung der Ehe Bestand haben solle. In einem solchen Falle könne der Unterhaltsverpflichtete den Unterhaltstitel wegen der danach erfolgten Scheidung auch nicht im Wege der Abänderungs- bzw. Vollstreckungsgegenklage beseitigen. Sie habe auch in den Schriftsätzen vom 31. Juli 1972, vom 11. Oktober 1972 und vom 30. Juli 1973 auch ausdrücklich unter Benennung von Zeugen vorgetragen, daß der Unterhaltsvergleich eine wesentliche Basis für das anschließende Ehescheidungsverfahren gebildet habe.
Es hätte deshalb für das LSG besonders nahe gelegen, sich über diesen Punkt Gewißheit zu verschaffen, denn wenn zwischen den Parteien des Eherechtsstreits Einigkeit darüber bestanden habe, daß der Unterhaltsvergleich auch für die Zeit nach dem rechtskräftigen Abschluß des Scheidungsverfahrens gelten solle, dann komme dies einer vertraglichen Vereinbarung zwischen den Parteien über Art und Umfang des zu gewährenden Unterhalts gleich. Es läge dann ein "sonstiger Grund" im Sinne des § 65 Satz 1 RKG vor.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 3. Oktober 1974 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des SG Gelsenkirchen und der angefochtenen Bescheide zu verurteilen, der Klägerin eine Hinterbliebenenrente für eine geschiedene Ehefrau zu gewähren,
hilfsweise,
unter Aufhebung des Urteils des LSG die Sache an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin gegen das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 3. Oktober 1974 als unzulässig zu verwerfen.
Nach ihrer Ansicht liegt der gerügte Verfahrensmangel nicht vor.
Entscheidungsgründe
Das Urteil des LSG ist am 3. Oktober 1974 ergangen, so daß für das Rechtsmittel der Revision § 162 SGG in der vor dem 1. Januar 1975 geltenden Fassung Anwendung findet. Da das LSG die Revision nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG aF zugelassen hat und die Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG aF nach den Umständen des Falles hier nicht in Betracht kommen, kann die Revision nur statthaft sein, wenn das Verfahren des LSG an einem mit der Revision gerügten wesentlichen Verfahrensmangel leidet (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG aF). Das ist der Fall.
Da der Versicherte der Klägerin die als Klägerin im Ehescheidungsverfahren ihre Klage auf § 48 Ehegesetz gestützt hatte, zur Zeit seines Todes keinen Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes zu zahlen hatte (vgl. §§ 53 Abs. 2 und 61 Abs. 2 EheG) und auch im letzten Jahr vor seinem Tode keinen Unterhalt gezahlt hat, könnte ein Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente nach § 65 RKG nur bestehen, wenn der am 26. Februar 1970 zwischen den Eheleuten geschlossene Vergleich ein sonstiger Grund im Sinne des § 65 RKG sein könnte. Das wäre der Fall, wenn sich die Beteiligten beim Abschluß des Vergleichs darüber einig gewesen oder später darüber einig geworden wären, daß dieser Vergleich auch für die Unterhaltsverpflichtung des Versicherten für die Zeit nach der Scheidung gelten sollte. Die Klägerin hatte bereits vor Erhebung der Klage vor dem SG in einem an die Beklagte gerichteten Schriftsatz vom 31. Juli 1972 darauf hingewiesen, daß der Vergleich im Hinblick auf das beabsichtigte Scheidungsverfahren geschlossen worden sei und auch für dieses bestimmt sein sollte. Dieses Vorbringen ist in der Klageschrift vom 11. Oktober 1972 und in einem an das LSG gerichteten Schriftsatz vom 30. Juli 1973 wiederholt worden. Trotzdem hat das LSG die hierfür angebotenen Beweise nicht erhoben, sondern sich damit begnügt anzuführen, aus den Akten des Landgerichts ergebe sich kein Hinweis dafür, daß dieser Unterhaltsvergleich zum Gegenstand des Scheidungsverfahrens gemacht worden sei. Dadurch, daß das LSG die für die Beantwortung der nach seiner Ansicht bedeutsamen Frage erforderlichen Beweise nicht erhoben hat, hat es seine Pflicht zur Amtserforschung des Sachverhalts verletzt, so daß die Revision statthaft ist.
Die Revision ist auch im Sinne der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet, weil das angefochtene Urteil auf diesem Verfahrensmangel beruhen kann. Da das Revisionsgericht die unterbliebenen Ermittlungen nicht nachholen kann, mußte die Zurückverweisung erfolgen.
Falls das LSG nach der erforderlichen Beweisaufnahme zu dem Ergebnis kommen sollte, daß sich die Beteiligten beim Abschluß des Vergleichs darüber einig gewesen oder später darüber einig geworden sind, daß dieser Vergleich auch für die Unterhaltsverpflichtung des Versicherten nach der Scheidung gelten sollte, wird es noch zu prüfen haben, ob danach bis zum Zeitpunkt des Todes des Versicherten eine wesentliche Änderung der Verhältnisse (zB eine Änderung der Vermögens- und Erwerbsverhältnisse der Beteiligten) eingetreten ist, die eine Abänderungsklage im Sinne des § 323 ZPO gerechtfertigt hätte.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Endurteil vorbehalten.
Fundstellen