Leitsatz (amtlich)

Das Gericht darf einen nach § 48 SGB 10 erteilten rückwirkenden Aufhebungsbescheid wegen unterbliebener Ermessensausübung nur aufheben, wenn es festgestellt hat, daß einer der Tatbestände des § 48 Abs 1 S 2 erfüllt ist und außerdem ein atypischer Fall vorliegt.

 

Normenkette

SGB 10 § 48 Abs 1 S 2

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 12.11.1985; Aktenzeichen L 7 Ar 87/85)

SG Hannover (Entscheidung vom 06.03.1985; Aktenzeichen S 3 Ar 767/83)

 

Tatbestand

Im Revisionsverfahren ist noch streitig, ob eine Bewilligung von Unterhaltsgeld (Uhg) nach § 48 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) teilweise aufgehoben werden durfte.

Die Beklagte bewilligte dem Kläger mit Verfügung vom 18. März 1981 Uhg für die Zeit vom 16. Februar 1981 bis zum 14. Mai 1982 unter Einstufung in die Leistungsgruppe B nach § 111 Abs 2 Nr 1 Buchst b Arbeitsförderungsgesetz (AFG). Hierbei ging sie davon aus, daß auf der Lohnsteuerkarte für 1981 die Steuerklasse I eingetragen war und daß der Kläger (noch) verheiratet sei, obwohl er seit dem 16. Dezember 1980 rechtskräftig geschieden war. Am 14. Mai 1981 heiratete der Kläger wieder, worauf von da an in die Lohnsteuerkarte die Lohnsteuerklasse V eingetragen wurde. Die Beklagte will dies erst erfahren haben, als der Kläger im Mai 1982 die Weiterbewilligung des Uhg beantragte.

Mit Bescheid vom 12. November 1982 korrigierte die Beklagte die Bewilligung des Uhg für die Zeit vom 16. Februar bis 13. Mai 1981 und für die Zeit vom 14. Mai 1981 bis zum 14. Mai 1982. Für den ersten Zeitraum nahm sie die Bewilligung nach § 45 SGB 10 zurück, soweit das Uhg das nach Leistungsgruppe A zustehende Uhg überstieg; für den zweiten Zeitraum hob sie die Bewilligung nach § 48 SGB 10 insoweit auf, als das nach Leistungsgruppe B bewilligte Uhg höher als das nach Leistungsgruppe D zustehende Uhg war. Die überzahlten Leistungen in Höhe von 6.759,30 DM verlangte sie vom Kläger zurück. Dessen Widerspruch blieb erfolglos.

Auf die Klage hin hat das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 6. März 1985 den Bescheid vom 12. November 1982 und den Widerspruchsbescheid aufgehoben. Das Landessozialgericht (LSG) hat die auf den Zeitraum vom 14. Mai 1981 bis zum 14. Mai 1982 beschränkte Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die an sich nach § 147 Sozialgerichtsgesetz (SGG) unzulässige Berufung sei aufgrund des § 150 Nr 2 SGG zulässig; die Beklagte habe zu Recht als wesentlichen Mangel im Verfahren des SG gerügt, daß dessen Urteil keine Entscheidungsgründe für die noch streitige Zeit enthalte. Die Berufung sei jedoch unbegründet. Durch die Wiederheirat und Änderung der Steuerklasse sei am 14. Mai 1981 eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 SGB 10 eingetreten. Von den Voraussetzungen des Satzes 2, unter denen der Verwaltungsakt rückwirkend zum Änderungszeitpunkt aufgehoben werden solle, sei die Erfüllung der in Nr 2 genannten nicht sicher; der Kläger behaupte zwar, die Wiederheirat unverzüglich angezeigt zu haben; ob das zutreffe, sei jedoch zweifelhaft und könne unentschieden bleiben. Die Nrn 1 und 3 kämen ohnehin nicht in Betracht; auch die Nr 4 erscheine trotz der dem Kläger gegebenen Hinweise zweifelhaft. Die angefochtenen Bescheide seien indessen aus einem anderen Grund rechtswidrig und daher aufzuheben. § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 räume der Beklagten mit dem Wort "soll" ein allerdings auf Ausnahmefälle beschränktes Ermessen ein. Der Bescheid vom 12. November 1982 und der Widerspruchsbescheid enthielten jedoch keinerlei Ermessenserwägungen, obwohl sie nach dem konkreten Sachverhalt in Betracht kommen könnten. Wenn der Kläger die Wiederheirat nicht angezeigt haben sollte, habe zwar er die Überzahlung im wesentlichen verursacht und verschuldet; es könne dann aber auch der Beklagten eine gewisse Mitverursachung und ein gewisses Mitverschulden vorgeworfen werden. Im weiteren hat das LSG den während des Berufungsverfahrens erteilten Bescheid vom 15. April 1985 aufgehoben, in dem die Beklagte ergänzend angeführt hatte, daß die Aufhebung den Umständen nach auf die Vergangenheit zu erstrecken gewesen sei.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB 10. Der Kläger sei seiner Mitteilungspflicht zumindest grob fahrlässig nicht nachgekommen; für deren Erfüllung trage er die Beweislast. Ermessenserwägungen seien nicht erforderlich gewesen, da kein Ausnahmefall vorgelegen habe; der Beklagten könne ein Mitverschulden nicht entgegengehalten werden.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben, soweit es die Berufung der Beklagten zurückgewiesen hat, und in diesem Umfang die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Nach seiner Meinung war die Berufung der Beklagten bereits unzulässig. Im übrigen seien auch die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB 10, für welche die Beklagte die Beweislast trage, nicht gegeben.

 

Entscheidungsgründe

Auf die Revision der Beklagten, die sich nicht gegen die Aufhebung des Bescheides vom 15. April 1985 wendet, war das Urteil des SG in dem die Berufung der Beklagten betreffenden Teil aufzuheben und der Rechtsstreit insoweit an das LSG zurückzuverweisen.

Das LSG hat die Berufung der Beklagten zu Recht als zulässig angesehen. Das mit der Berufung aufrechterhaltene Klagebegehren, den Bescheid vom 12. November 1982 (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides) insoweit aufzuheben, als er seinerseits den Bescheid (Verfügung) vom 18. März 1981 für den Zeitraum vom 14. Mai 1981 bis zum 14. Mai 1982 teilweise aufgehoben hatte, betraf zwar nur die Höhe der Leistung iS des § 147 SGG; gleichwohl hatte die Beklagte mit einer Verfahrensrüge ihre Berufung zulässig gemacht. Das SG hatte nicht, wie der Kläger meint, das genannte Klagebegehren iS des § 140 SGG übergangen, vielmehr mit darüber, aber ohne Beifügen von Entscheidungsgründen entschieden. In seinen Entscheidungsgründen hat sich das SG nur mit der (teilweisen) Rücknahme der Uhg-Bewilligung für den Zeitraum vom 16. Februar bis zum 13. Mai 1981 gemäß § 45 SGB 10 befaßt; daß die Ausführungen hierzu auch für die (teilweise) Aufhebung der Uhg-Bewilligung für den Zeitraum vom 14. Mai 1981 bis zum 14. Mai 1982 gemäß § 48 SGB 10 gelten sollten, läßt das Urteil nicht erkennen. Infolgedessen fehlen dem Urteil zu dem streitig gebliebenen Klagebegehren die Entscheidungsgründe (§ 136 Abs 1 Nr 6 SGG). Auf diesem Mangel konnte die Entscheidung des SG über das Klagebegehren beruhen (SozR 1500 § 136 Nr 8 S. 9).

Nicht zu billigen vermag der Senat dagegen, daß das LSG die Berufung aus den von ihm angeführten Gründen zurückgewiesen hat. Der Senat stimmt dem LSG darin zu, daß am 14. Mai 1981 jedenfalls durch den Wechsel der Steuerklasse I zu der Steuerklasse V eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen eingetreten war, die beim Erlaß des Bescheides vom 18. März 1981 vorgelegen hatten. Infolgedessen war die Beklagte, als sie den angefochtenen Bescheid vom 12. November 1982 erließ, zu der von ihr vorgenommenen teilweisen Aufhebung des Bewilligungsbescheides für den Zeitraum vom 14. Mai 1981 bis zum 14. Mai 1982 unter den Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 befugt. Nach dieser Vorschrift soll der Verwaltungsakt vom Zeitpunkt der Verhältnisse an aufgehoben werden, wenn einer der Tatbestände vorliegt, die in den Nr 1 bis 4 beschrieben sind. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG(BSGE 59, 111, 115 = SozR 1300 § 48 Nr 19; SozR aaO Nr 21; Urteil des Senats vom 21. Mai 1986 - 11b RAr 12/85 -; Urteile des 7. Senats vom 26. Juni 1986 - 7 RAr 126/84 - und 13.August 1986 - 7 RAr 33/85 -) bedeutet "soll", daß der Leistungsträger beim Vorliegen eines dieser Tatbestände in der Regel den Verwaltungsakt rückwirkend aufhebt, daß er jedoch in atypischen Fällen nach seinem Ermessen hiervon absehen darf; dabei ist inzwischen klargestellt, daß die Feststellung eines atypischen Falles keinen Teil der Ermessensausübung darstellt, vielmehr im Rechtsstreit von den Gerichten zu treffen ist. Das LSG hätte deshalb nicht beanstanden dürfen, daß die Beklagte das Vorliegen eines atypischen Falles nicht geprüft habe; es mußte diese Prüfung selber vornehmen und hätte erst nach Annahme eines atypischen Falles den angefochtenen Bescheid wegen fehlender Ermessensausübung aufheben dürfen.

Davon abgesehen durfte das LSG nicht außerdem offenlassen, ob einer der Tatbestände des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 und Nr 4 SGB 10 gegeben ist (vgl das Urteil des Senats vom 21. Mai 1986). Das folgt schon daraus, daß die Frage, ob ein atypischer Fall vorliegt, sich nicht losgelöst davon beurteilen läßt, welcher der in den Nr 1 bis 4 vorausgesetzten Tatbestände erfüllt ist. Nach der Rechtsprechung (aaO) sind bei der Prüfung eines atypischen Falles alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Bei den Nrn 1 bis 4 handelt es sich jedoch um sehr unterschiedliche Voraussetzungen, die zum Teil noch in Varianten verwirklicht werden können (Nr 2: Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit; Nr 4: Wissen oder grobfahrlässiges Nichtwissen). Ohne daß geklärt ist, welcher dieser Tatbestände aufgrund welchen Sachverhalts erfüllt ist, läßt sich über das Vorliegen eines atypischen Falles nicht zuverlässig urteilen.

Die vom LSG getroffene Entscheidung, den angefochtenen Verwaltungsakt wegen unterbliebener Ermessensausübung aufzuheben, konnte zudem nicht den Interessen der Beteiligten entsprechen. Den Beteiligten kann es nicht immer gleichgültig sein, aus welchen Gründen ein Verwaltungsakt aufgehoben wird; sie können erwarten, daß die Gerichte einen Verwaltungsakt wegen fehlender Ermessensausübung nur dann aufheben, wenn sie alle zwingenden Voraussetzungen für die Ermessensentscheidung für erfüllt halten. Der Kläger mußte bei der vom LSG getroffenen Entscheidung damit rechnen, daß die Beklagte nochmals einen Aufhebungsbescheid gegen ihn erläßt und er diesen erneut wegen der von ihm nicht für gegeben erachteten Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 in einer zweiten Klage anfechten muß; hätte das LSG diese Voraussetzungen mit ihm nicht für erfüllt angesehen und deswegen den angefochtenen Bescheid aufgehoben, brauchte er keinen Aufhebungsbescheid mehr zu befürchten (vgl SozR Nr 1 zu § 143 SGG). Aber auch die Beklagte hätte die vom LSG vermißte Ermessensausübung nur auf unsicherer Grundlage vornehmen können, weil das Gericht sie im Unklaren ließ, ob ihre Annahme über das Vorliegen einer der Tatbestände des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB 10 zutraf.

Über die Kosten für das Revisionsverfahren hat das LSG in seiner neuen Entscheidung zu befinden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1662884

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