Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts durch die Bundesanstalt für Arbeit mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit. Wille des Gesetzgebers
Leitsatz (amtlich)
1. Zur Frage, welche Ermessenserwägungen bei Ermessensentscheidungen nach § 44 Abs 2 S 2 SGB 10 in Betracht kommen.
2. Zur Frage einer Ermessensreduzierung auf Null zu Lasten des Bürgers im Rahmen des § 44 Abs 2 S 2 SGB 10.
Orientierungssatz
1. AFG § 152 Abs 1 ist eine Sondervorschrift, die zwar die Anwendung des § 44 Abs 1 S 1 SGB 10, nicht aber die des § 44 Abs 2 SGB 10 ausschließt.
2. Wenn der Entwurf einer Gesetzesvorschrift unverändert Gesetz geworden ist und die übrigen Gesetzgebungsorgane sich nicht abweichend geäußert haben, dann läßt sich daraus schließen, daß der Gesetzgeber sich die Regierungsbegründung zu eigen gemacht hat.
3. Bei der Ermessensentscheidung, die die Bundesanstalt für Arbeit zu treffen hat, sind die Ziele und Zwecke, die der Gesetzgeber mit § 152 Abs 1 AFG verfolgt hat, mit zu berücksichtigen. Der Gesetzgeber hat dort auf rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte über Sozialleistungen im Arbeitsförderungsrecht eine Rücknahmepflicht nur für die Zukunft gewollt und sie für die Vergangenheit bewußt ausgeschlossen. Dann ist es aber nicht zulässig, im Rahmen des § 44 Abs 2 S 2 SGB 10 für die Fälle, die der Gesetzgeber im Blick gehabt haben muß, über eine Ermessenreduzierung auf Null praktisch doch zu einer Rücknahmepflicht auch für die Vergangenheit zu gelangen.
4. Nach der Rechtsprechung des 9a. Senats des BSG (vom 25.6.1986 9a RVg 2/84 = SozR 1300 § 45 Nr 24; vgl auch Urteil vom 3.12.1986 9a RV 41/84) wird bei der Rücknahme von rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakten aufgrund von § 45 SGB 10 die Abweisung der Klage als zulässig angesehen, wenn nach der Auffassung des Gerichts das Ermessen der Verwaltung zu Lasten des Bürgers auf Null geschrumpft ist. Der Senat läßt dahingestellt, ob sich das auf Klagen gegen die Ablehnung von Rücknahmen nach § 44 SGB 10 übertragen läßt; die Folge wäre, daß die Gerichte überall dort, wo die Ablehnung der Rücknahme des nicht begünstigenden Verwaltungsaktes wegen Fehlen der Ermessensentscheidung, unzureichender Begründung oder dem Zweck der Ermächtigung widersprechende Erwägungen an sich rechtswidrig wäre, immer noch eine Ermessensreduzierung auf Null zu Lasten des Bürgers prüfen und ggf die Klage abweisen müßten.
Normenkette
SGB 10 § 44 Abs 2 S 2; SGB 10 § 44 Abs 1 S 1; SGB 10 § 44 Abs 1 S 2; AFG § 152 Abs 1; SGB 10 § 45; SGG § 105; SGB 1 § 39
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 21.08.1986; Aktenzeichen L 9 Al 165/85) |
SG Augsburg (Entscheidung vom 11.06.1985; Aktenzeichen S 4 Al 419/84) |
Tatbestand
Streitig ist, ob die Beklagte einen Kürzungsbescheid im Ermessenswege zurücknehmen kann und wie sie gegebenenfalls das Ermessen auszuüben hat.
Der Kläger nahm vom 9. November 1981 bis 28. Oktober 1983 an einer Umschulung zum Informationselektroniker teil. Hierfür bewilligte ihm die Beklagte Unterhaltsgeld (Uhg) in Höhe von 80 vH des um die gesetzlichen Abzüge verminderten Arbeitsentgelts. Der Bewilligungsbescheid war mit dem Zusatz versehen, die Bewilligung erfolge unter dem Vorbehalt der Anpassung der Leistungen an das ab 1. Januar 1982 geltende Recht. Mit Bescheid vom 30. Dezember 1981 setzte die Beklagte das Uhg ab 1. Januar 1982 auf 68 vH des maßgeblichen Entgelts gemäß § 44 Abs 2 Satz 1 Nr 2 AFG in der ab 1. Januar 1982 geltenden Fassung des Gesetzes zur Konsolidierung der Arbeitsförderung (AFKG) vom 22. Dezember 1981 (BGBl I S 1497) herab.
Im März 1984 beantragte der Kläger die Rücknahme des Kürzungsbescheides. Mit Bescheid vom 15. März 1984 lehnte die Beklagte dies ab und wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 12. Juli 1984 mit der Begründung zurück, § 152 Abs 1 AFG schließe sowohl die Anwendung des Abs 1 als auch des Abs 2 des § 44 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) aus, so daß für eine Ermessensausübung hinsichtlich der Rücknahme für die Vergangenheit kein Raum bleibe.
Das Sozialgericht (SG) Augsburg hat mit Urteil vom 11. Juni 1985 die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 15. März 1984 und des Widerspruchsbescheides vom 12. Juli 1984 verpflichtet, über den Antrag auf Überprüfung des Kürzungsbescheides in Ausübung des Ermessens unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts nochmals zu entscheiden. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die von dem SG zugelassene Berufung der Beklagten und die Anschlußberufung des Klägers mit Urteil vom 21. August 1986 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Gesetzgeber habe die Beklagte von der Überprüfungspflicht nach § 44 Abs 2 SGB 10 bewußt nicht ausgenommen. Die Beklagte sei zur Ermessensausübung nach dessen Satz 2 verpflichtet. Dabei komme nicht schon die Verpflichtung zur Rücknahme des Kürzungsbescheides in Betracht. Dessen Rechtswidrigkeit allein sei kein ausreichender Grund für die Rücknahme als einzig denkbarer Rechtsfolge. Die Beklagte habe mehrere Möglichkeiten für eine ermessensgerechte Entscheidung; das Gericht dürfe ihr nicht die Wahl nehmen und die Entscheidung vorschreiben. Dazu zwängen auch nicht die besonderen Verhältnisse beim Kläger; ein entscheidender Einschnitt in seine finanzielle Lage sei weder angesichts der Höhe noch angesichts der Dauer der Kürzung noch angesichts der gleichen Leistungsminderung bei der Ehefrau zu erkennen.
Gegen das Urteil haben der Kläger und die Beklagte die vom LSG zugelassene Revision eingelegt.
Die Beklagte rügt Verletzung des § 152 Abs 1 AFG und des § 44 SGB 10. Nach ihrer Auffassung gibt es für sie keine gesetzliche Möglichkeit, rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Die Beklagte beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt (sinngemäß), die Urteile der Vorinstanzen dahin zu ändern, daß die Beklagte zur Rücknahme des Kürzungsbescheides verpflichtet wird.
Er rügt Verletzung des § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10. Nach seiner Meinung hat die Beklagte nicht mehr mehrere Entscheidungsmöglichkeiten. Da es sich um eine generell fehlerhafte Rechtsanwendung handele, die der Gesetzgeber bei dem des auf den "Einzelfall" abstellenden § 44 Abs 1 SGB 10 nicht im Blick gehabt habe, verbleibe ihr nur die Rücknahme des Kürzungsbescheids als einzig richtige Entscheidung.
Beide Beteiligten beantragen außerdem, die Revision der Gegenseite zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revisionen sind nicht begründet. Das LSG hat die Beklagte zu Recht zur Erteilung eines neuen Bescheides verurteilt, in dem sie über die beantragte Rücknahme des Kürzungsbescheides gemäß § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 erneut nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden hat.
Die Systematik des § 44 SGB 10 schließt es nicht aus, dessen Abs 2 auf Verwaltungsakte anzuwenden, die wie der Kürzungsbescheid im vorliegenden Fall Sozialleistungen (oder Beitragserhebungen) betreffen. Das zeigt schon der Blick auf die Fälle, die Abs 1 Satz 2 erfaßt, nämlich Verwaltungsakte über Sozialleistungen (Beitragserhebungen), die auf unrichtigen oder unvollständigen Angaben des Betroffenen beruhen. Für sie gilt Satz 1 mit seiner Rücknahmeverpflichtung für Vergangenheit und Zukunft nicht. Verstände man Abs 2 so wie die Beklagte, gäbe es für diese Verwaltungsakte keinerlei Rücknahmemöglichkeit, weder für die Vergangenheit noch für die Zukunft. Daß dies nicht richtig sein kann, liegt auf der Hand, zumal das SGB 10 frühere Rücknahmegrundsätze nicht einschränken, sondern verallgemeinern wollte (BT-Drucks 8/2034 S 34). Davon abgesehen beseitigt die Gesetzesbegründung jeden Zweifel; nach ihr (aaO) erfaßt Abs 2 vor allem die Fälle, in denen von einem unrichtigen, vom Betroffenen zu vertretenden Sachverhalt ausgegangen worden ist, und daneben auch feststellende Verwaltungsakte. Der mit den Worten "im übrigen" eingeleitete Abs 2 des § 44 SGB 10 muß danach auch auf Verwaltungsakte anwendbar sein können, die Sozialleistungen (und Beitragserhebungen) betreffen. Er gilt für sie dann, wenn besondere Vorschriften - wie zB § 44 Abs 1 Satz 2 SGB 10 - für Gruppen solcher Verwaltungsakte die Anwendung des Abs 1 Satz 1, nicht aber auch die des Abs 2 ausschließen.
Damit weicht der Senat nicht von der Entscheidung des 10. Senats des BSG vom 10. Dezember 1985 (SozR 5870 § 2 Nr 44) ab. Zwar ist dort ausgeführt, § 44 Abs 2 SGB 10 enthalte nur einen Auffangtatbestand für Bescheide, die weder über eine Leistungsberechtigung noch über eine Beitragsverpflichtung befinden. Es handelte sich um einen Fall, in dem der 10. Senat des BSG § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 an sich für anwendbar und nur in seinen Tatbestandsvoraussetzungen nicht für erfüllt hielt. Der 10. Senat wollte daher nicht den Regelungsbereich des § 44 Abs 2 SGB 10 abschließend bestimmen. Dafür spricht auch, daß er sich auf Hauck/Haines, Komm zum SGB 10, § 44, RdNr 23 bezogen hat, die in RdNr 22 in den Fällen des § 44 Abs 1 Satz 2 SGB 10 wie der erkennende Senat den § 44 Abs 2 SGB 10 für anwendbar halten.
Als eine Sondervorschrift, die zwar die Anwendung des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10, nicht aber die des § 44 Abs 2 SGB 10 ausschließt, ist § 152 Abs 1 AFG anzusehen. Nach ihm ist im Arbeitsförderungsrecht der rechtswidrige, nicht begünstigende Verwaltungsakt "abweichend von § 44 Abs 1" SGB 10 mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Schon dem Wortlaut nach ordnet die Vorschrift nur ihr Verhältnis zum Abs 1 des § 44 SGB 10 und nicht zu § 44 SGB 10 insgesamt. Während § 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 die Rücknahme für Vergangenheit und Zukunft vorschreibt, beschränkt § 152 Abs 1 AFG die Rücknahmepflicht auf die Zukunft. Damit bleibt vom Text her offen, wie es sich mit der Anwendbarkeit des § 44 Abs 2 SGB 10 verhält, von dem allerdings nur der Satz 2 Bedeutung erlangt, der die Rücknahme für die Vergangenheit dem Ermessen des Leistungsträgers überläßt.
Aus dem Wortlaut des § 152 Abs 1 AFG läßt sich, bei welchen Erwägungen auch immer, darauf keine überzeugende Antwort gewinnen, wohl aber aus der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung (BT-Drucks 8/2034 S 37). Dort heißt es, die von § 42 Abs 1 SGB 10 (jetzt § 44 Abs 1 SGB 10) abweichende Regelung ergebe sich aus den Besonderheiten des Leistungssystems des AFG. Eine Verpflichtung der Arbeitsämter, rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte, die unanfechtbar geworden sind, stets auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, würde die Arbeitsämter mit einem Verwaltungsaufwand belasten, der im Hinblick auf die Kurzfristigkeit der Leistungen nicht zu rechtfertigen sei. So sei zB allein 1976 bei durchschnittlich 780.000 Empfängern von Alg und Alhi über mehr als 3 Millionen Leistungsanträge zu entscheiden gewesen. Dem ist wörtlich angeschlossen: "Die Arbeitsämter haben aber über die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden", § 42 (§ 44) Abs 2 bis 4 SGB 10 bleibe unberührt. Dies zeigt eindeutig, daß die Anwendung des § 44 Abs 2 SGB 10 im Arbeitsförderungsrecht nicht ausgeschlossen werden sollte. Dort sollte von den beiden Rücknahmemodellen des § 44 SGB 10 (Abs 1: Rücknahmepflicht für Zukunft und Vergangenheit; Abs 2: Rücknahmepflicht für Zukunft, Ermessen für Vergangenheit) nur das des Abs 2 gelten, nicht aber ein - schon in sich fragwürdiges - drittes Modell einer Rücknahmepflicht für die Zukunft und jeglichen Rücknahmeausschlusses für die Vergangenheit.
Zu Unrecht hält die Beklagte den Rückgriff auf die Regierungsbegründung zum Gesetzentwurf für unzulässig, weil im weiteren Gesetzgebungsverfahren nichts davon wiederholt worden sei. Der gegenteilige Schluß ist richtig. Wenn der Entwurf einer Gesetzesvorschrift wie bei § 152 AFG (vgl BT-Drucks 8/4022 S 50 und 70) unverändert Gesetz geworden ist und die übrigen Gesetzgebungsorgane sich nicht abweichend geäußert haben, dann läßt sich daraus schließen, daß der Gesetzgeber sich die Regierungsbegründung zu eigen gemacht hat.
Aus der Regierungsbegründung muß ferner entnommen werden, daß in dem Einräumen eines Rücknahmeermessens für die Vergangenheit kein Widerspruch zum Zweck des § 152 Abs 1 AFG gesehen wurde, die Arbeitsämter nicht mit dem mit einer Rücknahmepflicht verbundenen Verwaltungsaufwand zu belasten. Ein solcher Widerspruch muß in der Tat nicht gegeben sein. Auch wenn sich kein klares Bild über den Verwaltungsaufwand gewinnen läßt, der im einen und im anderen Falle insgesamt auf die Beklagte zukäme, ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Beklagte bei Ermessensentscheidungen eher als bei gebundenen Entscheidungen den Verwaltungsaufwand - zB durch Richtlinien für die Ermessensausübung - zu begrenzen vermag.
Gegen die Anwendbarkeit des § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 im Arbeitsförderungsrecht spricht schließlich nicht, daß der Gesetzgeber in dem ebenfalls durch das SGB 10 eingefügten § 20 Abs 5 BKGG der auch dort "abweichend von § 44 Abs 1" SGB 10 auf die Zukunft beschränkten Rücknahmepflicht in einem weiteren Halbsatz hinzugefügt hat, der Verwaltungsakt könne ganz oder teilweise auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Das könnte zwar den Schluß nahelegen, daß ein Rücknahmeermessen für die Vergangenheit nur im Kindergeldrecht, nicht aber auch im Arbeitsförderungsrecht gewollt sei. Der Gesetzgeber verhält sich in dieser Hinsicht jedoch nicht immer konsequent. Scheinbaren Widersprüchen in der Gesetzesgestaltung kann auch ein einheitlicher Wille des Gesetzgebers zugrunde liegen. Gerade so ist es aber im Verhältnis von § 152 Abs 1 AFG zu § 20 Abs 5 BKGG. Die Begründung zu § 20 Abs 5 BKGG (BT-Drucks 8/2034 S 41) führt nahezu identisch mit der zu § 152 Abs 1 AFG aus, daß nicht begünstigende Verwaltungsakte im Kindergeldrecht überwiegend nur verhältnismäßig kurze Leistungszeiträume beträfen; es sei nicht aus Billigkeitsgründen geboten und würde zu einem unvertretbaren Verwaltungsaufwand führen, alle diese Fälle wieder aufzugreifen; daher sei es sachgerecht, die Rücknahme für die Vergangenheit dem Ermessen der Kindergeldstellen zu überlassen. Dem folgt der Satz, der den einheitlichen Regelungswillen bei beiden Vorschriften außer Zweifel stellt: "Die Regelung ist auch erforderlich, um eine einheitliche Durchführung des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch im Bereich der Bundesanstalt für Arbeit sicher zu stellen". Zur "gesetzlichen Klarstellung" ist im übrigen beabsichtigt, den Wortlaut im AFG dem im BKGG anzugleichen (BT-Drucks 10/6283 S 7).
Der nach alledem anwendbare § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 setzt in Verbindung mit dem vorangehenden Satz 1 voraus, daß der nicht begünstigende Verwaltungsakt, um dessen Rücknahme es geht, rechtswidrig ist. Das war hier der Fall. Der 7. Senat des BSG hat bereits mit Urteilen vom 20. Oktober 1983 (SozR 4150 Art 1 § 2 Nr 1) und vom 7. Dezember 1983 (7 RAr 22/83, AuB 1984, 220) entschieden, daß die in den Bewilligungsbescheiden der Beklagten vor 1982 enthaltenen Vorbehalte nicht den Anforderungen des Art 1 § 2 Nr 3 Buchst a AFKG entsprachen und daher keine Herabsetzung der Leistungen ab 1. Januar 1982 nach dem AFKG erlaubten. Der erkennende Senat hält diese Entscheidungen für zutreffend und schließt sich ihnen an.
Die Beklagte mußte daher, weil die Voraussetzungen des § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 erfüllt waren, über die beantragte Rücknahme des Kürzungsbescheides nach pflichtgemäßem Ermessen befinden. Sie hat jedoch weder im angefochtenen Bescheid vom 15. März 1984 noch im Widerspruchsbescheid vom 12. Juli 1984 eine Ermessensentscheidung getroffen. Die unterbliebene Ermessensausübung, die nach dem Abschluß des Vorverfahrens nicht mehr nachgeholt werden konnte, führt zur Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides und des Widerspruchsbescheides mit der Folge, daß die Beklagte zur Erteilung eines neuen auf einer Ermessensausübung beruhenden Bescheides zu verurteilen war.
Da der Kläger nicht nur die Verurteilung der Beklagten zur Erteilung eines neuen Bescheides mit neuer Ermessensausübung, sondern unmittelbar die Verurteilung zur Rücknahme des Kürzungsbescheides beantragt hat, mußte allerdings auch geprüft werden, ob das Ermessen der Beklagten zu Gunsten des Klägers bereits in dem Sinne "auf Null geschrumpft" ist, daß sie sich nur noch für die Rücknahme des Kürzungsbescheides entscheiden könnte; in diesem Falle wäre sie nämlich zur Rücknahme zu verpflichten gewesen. Die von dem Kläger hierzu vorgetragenen Gesichtspunkte haben jedoch keine derartige Lage geschaffen. Bei der Ermessensentscheidung, die die Beklagte zu treffen hat, sind die Ziele und Zwecke, die der Gesetzgeber mit § 152 Abs 1 AFG verfolgt hat, mit zu berücksichtigen. Der Gesetzgeber hat dort auf rechtswidrige nicht begünstigende Verwaltungsakte über Sozialleistungen im Arbeitsförderungsrecht eine Rücknahmepflicht nur für die Zukunft gewollt und sie für die Vergangenheit bewußt ausgeschlossen. Dann ist es aber nicht zulässig, im Rahmen des § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 für die Fälle, die der Gesetzgeber im Blick gehabt haben muß, über eine Ermessensreduzierung auf Null praktisch doch zu einer Rücknahmepflicht auch für die Vergangenheit zu gelangen. Die vom Kläger vorgetragenen Gesichtspunkte müssen mit im Blickpunkt des Gesetzgebers gewesen sein. Er hat aber beim Ausschluß der Rücknahmepflicht für die Vergangenheit nicht zwischen Fehlern bei der Sachverhaltsfeststellung und solchen bei der Rechtsanwendung, um die es sich hier handelt, unterschieden. Nach der Gesetzesbegründung war es dem Gesetzgeber außerdem bewußt, daß von fehlerhaften Verwaltungsakten infolge falscher Rechtsanwendung im Bereich des Arbeitsförderungsrechts Tausende betroffen sein können. Gleichwohl hat er auch unter solchen Umständen keine Rücknahmepflicht gewollt. Daß er in § 44 Abs 1 SGB 10 - was auch für Abs 2 gelten kann - eine Prüfung "im Einzelfall" vorausgesetzt hat, bedeutet nur, daß die Verwaltung die Rücknahme dann prüfen muß, wenn der Einzelfall konkreten Anlaß dazu gibt.
Wie das LSG zu Recht dargelegt hat, verbleibt der Beklagten die Möglichkeit, sich für oder gegen die Rücknahme zu entscheiden. Dabei hat das LSG offenbar nicht nur eine Ermessensreduzierung auf Null zugunsten des Klägers, sondern zugleich eine solche zu seinen Lasten (zugunsten der Beklagten) verneinen wollen. Nach der Rechtsprechung des 9a Senates des BSG (SozR 1300 § 45 Nr 24; vgl auch Urteil vom 12. März 1986, 9a RV 41/84) wird bei der Rücknahme von rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakten aufgrund von § 45 SGB 10 die Abweisung der Klage als zulässig angesehen, wenn nach der Auffassung des Gerichts das Ermessen der Verwaltung zu Lasten des Bürgers auf Null geschrumpft ist. Der Senat läßt dahingestellt, ob sich das auf Klagen gegen die Ablehnung von Rücknahmen nach § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 übertragen läßt; die Folge wäre, daß die Gerichte überall dort, wo die Ablehnung der Rücknahme des nicht begünstigenden Verwaltungsaktes wegen fehlender Ermessensentscheidung, unzureichender Begründung oder dem Zweck der Ermächtigung widersprechender Erwägungen an sich rechtswidrig wäre, immer noch eine Ermessensreduzierung auf Null zu Lasten des Bürgers prüfen und gegebenenfalls die Klage abweisen müßten. In der vorliegenden Sache kann nämlich das Ermessen der Beklagten auch nicht schon in dem Sinne auf Null reduziert gelten, daß sie in jedem Fall die Rücknahme ablehnen müßte.
§ 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 läßt der Beklagten auch mit Blick auf § 152 Abs 1 AFG eine weitgehende Entscheidungsfreiheit. Er gibt weder der Rechtssicherheit (Beständigkeit der Entscheidung) noch der Einzelfallgerechtigkeit den Vorrang; beide Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips haben im Rahmen dieser Vorschrift vielmehr gleichen Rang. Deshalb kann weder allein die Rechtswidrigkeit des früheren Bescheides zu dessen Rücknahme verpflichten noch kann die eingetretene Bindungswirkung entscheidender Grund für die Ablehnung der Rücknahme sein. Damit fragt es sich, an welchen zusätzlichen Kriterien sich die Beklagte orientieren soll. Das Gesetz nennt solche weder in § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 noch in § 152 Abs 1 AFG; gleichwohl wird jedoch die Beklagte bedenken müssen, ob Billigkeitsgründe des Einzelfalles die Rücknahme des rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes nahelegen. Dafür spricht auch, daß nach der Gesetzesbegründung zu § 20 Abs 5 BKGG erwogen wurde, ob eine allgemeine Rücknahmepflicht für die Vergangenheit "aus Billigkeitsgründen geboten" erscheine. Das wurde zwar verneint; damit im Einklang steht es dann aber, daß Billigkeitsgründe des Einzelfalles, die der Gesetzgeber beim allgemeinen Ausschluß der Rücknahmepflicht für die Vergangenheit nicht im Blick gehabt hat, im konkreten Fall bei der Entscheidung über die Rücknahme berücksichtigt werden.
Solche Billigkeitsgründe können insbesondere gegeben sein, wenn der Betroffene zu einer Zeit, als er die zwei Jahre oder mehr dauernde Förderungsmaßnahme schon begonnen hatte und deren Abbruch nicht mehr zumutbar war, durch die unerwartete Leistungskürzung in eine erhebliche finanzielle Bedrängnis geraten ist. Es kann jedoch nicht die Aufgabe der Gerichte sein, die bei der Ermessensausübung der Beklagten anzulegenden Maßstäbe zu entwickeln; das muß sie selbst tun. Die Gerichte können nur prüfen, ob die Maßstäbe der Beklagten den ihr zustehenden Wertungsspielraum überschritten haben. Im vorliegenden Fall hat die Beklagte weder im angefochtenen noch im Widerspruchsbescheid geprüft, ob Billigkeitsgründe des Einzelfalles für die Rücknahme des Kürzungsbescheides sprechen. Unter diesen Umständen durfte das LSG nicht von sich aus entscheiden, daß beim Kläger keine zur Rücknahme des Kürzungsbescheides zwingenden besonderen Verhältnisse vorlägen, da ein entscheidender Einschnitt in seine finanzielle Lage nicht zu erkennen sei.
Die Revisionen waren sonach zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen