Entscheidungsstichwort (Thema)
Wegeunfall. versicherte Tätigkeit. innere Ursache. nachgewiesene Tatsachen. Wahrscheinlichkeit der Eigenschaft einer Tatsache als Bedingung eines Unfalls. Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs
Orientierungssatz
1. Die Feststellung, daß das Verhalten des Verletzten der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist, verlangt den vollen Beweis aller die versicherte Tätigkeit bestimmenden Umstände. Erst danach stellt sich im Rahmen der anschließenden Beurteilung der sogenannten haftungsbegründenden Kausalität die Frage, ob die festgestellte versicherte Tätigkeit den Unfall verursacht hat oder ob eine sogenannte innere Ursache die allein wesentliche Bedingung und deshalb die Ursache des Unfalles gewesen ist. Nur für die Annahme der wesentlichen kausalen Verknüpfung zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallgeschehen reicht aus, daß sie wenigstens wahrscheinlich ist (vgl BSG vom 30.4.1985 - 2 RU 43/84 = BSGE 58, 80, 82).
2. Ebenso wie die nur gute Möglichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der der versicherten Tätigkeit zuzurechnenden Verrichtung und dem Unfall die haftungsbegründende Kausalität nicht zu begründen vermag, reicht auch die nur gute Möglichkeit des Kausalzusammenhanges zwischen dem Unfall und einer inneren Ursache nicht aus, um die sonst gegebene haftungsbegründende Kausalität zu verneinen.
3. Zur Frage, ob die Wahrscheinlichkeit gegeben ist, daß eine innere Ursache (epileptischer Anfall) die allein wesentliche Bedingung eines Unfalles gewesen ist.
Normenkette
RVO § 548 Abs 1 S 1, § 550 Abs 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Klägerin erlitt am 10. Februar 1979 einen folgenschweren Unfall. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Unfall sich aus innerer Ursache ereignete oder ob es sich um einen sogenannten Wegeunfall iS des § 550 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) handelte.
Die im Jahre 1951 geborene Klägerin war als Verkäuferin beschäftigt. Am Unfalltag verließ sie ihr Beschäftigungsgebäude durch den Personalausgang, um nach Hause zu gelangen. Auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Gebäude ging sie mit schnellem Schritt. Wenige Meter vom Gebäude entfernt stürzte sie plötzlich zu Boden. Dabei erlitt sie einen Schädelbruch sowie ein subdurales Hämatom rechts und ein epidurales Hämatom links, die später operativ versorgt werden mußten. Herbeigeeilte Zeugen beobachteten an der verletzt am Boden liegenden Klägerin Anzeichen eines Krampfanfalles.
Bereits im Schulalter war die Klägerin an einer genuinen Epilepsie mit retropulsiven Absencen und seltenen Grand-mal-Anfällen erkrankt. Die Behandlung der Krankheit führte zur Anfallsfreiheit zunächst von 1974 bis 1978. Nach Beendigung der Medikamentation trat am 21. Mai 1978 ein weiterer Grand-mal-Anfall auf. Seitdem und nach Wiederaufnahme der Medikamentenbehandlung war die Klägerin - abgesehen von dem nach dem Unfall beobachteten Krampfanfall - anfallsfrei.
Die Beklagte lehnte es ab, der Klägerin Unfallentschädigung zu gewähren, weil die Sturzursache in ihrer körpereigenen Konstitution, nämlich dem Krampfleiden liege (Bescheid vom 4. April 1979, Widerspruchsbescheid vom 17. Oktober 1979).
Die zunächst erfolglose Klage (Urteil des Sozialgerichts -SG- Dortmund vom 10. November 1980) hat in der Berufungsinstanz zu einer Zurückverweisung der Sache an das SG zur weiteren Sachaufklärung geführt (Urteil des Landessozialgerichts -LSG- für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18. Februar 1981). Nach umfangreicher Sachaufklärung über die medizinischen und außermedizinischen Umstände des Unfalls hat das SG die Klage abgewiesen, weil es nicht habe feststellen können, ob der Sturz der Klägerin aus innerer Ursache oder aus einem äußeren Grund erfolgt sei (Urteil vom 18. März 1985). Das LSG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 18. Februar 1987): Es könne nicht feststellen, daß ihr Unfall in dem erforderlichen Ausmaß mit ihrer versicherten Tätigkeit zusammenhänge. Denn es könne nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausschließen, daß die Klägerin infolge eines epileptischen Anfalles gestürzt sei. Als Ergebnis der medizinischen Sachaufklärung sei festzuhalten, daß zwei Ursachenverläufe möglich seien, ohne daß für einen von beiden überwiegende medizinische Gründe sprächen: Entweder sei die Klägerin infolge eines epileptischen Anfalls, also aus innerer Ursache, gestürzt. Das könne aber nicht mit Sicherheit angenommen werden. Oder die Klägerin sei zunächst aus Gründen gestürzt, die mit dem Verlassen des Arbeitsplatzes zusammenhingen. Erst infolge des dadurch erlittenen Schädeltraumas sei dann der beobachtete Krampfanfall im Sinne eines "immediate seizure" aufgetreten. Auch für diese Annahme sprächen aber nicht genug Gründe. Da die "gute Möglichkeit" bestehe, daß die Klägerin gerade infolge eines epileptischen Anfalls gestürzt sei, und sich nicht weiter aufklären lasse, wie der tatsächliche Unfallhergang gewesen sei, müsse sich das zuungunsten der Klägerin auswirken. Sie trage die Feststellungslast für die anspruchsbegründenden Tatsachen.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 550 Abs 1 RVO. Versicherte Tätigkeit sei das Sichfortbewegen auf dem Heimweg gewesen. Damit habe der Sturz mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit in ursächlichem Zusammenhang gestanden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bedürfe es nicht der Feststellung einer bestimmten Ursache für den Sturz. Für die Wertentscheidung, in welchem Ausmaß eine innere Ursache neben einer betriebsbedingten zu berücksichtigen sei, müsse auch die innere zunächst festgestellt werden. Deshalb reiche die bloße Möglichkeit einer inneren Ursache nicht für eine Anspruchsverneinung aus.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18. Februar 1987 und das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 18. März 1985 sowie den Bescheid der Beklagten vom 4. April 1979 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 1979 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr wegen der Folgen des Unfalls vom 10. Februar 1979 Verletztenrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Das LSG habe nach seinen Feststellungen nicht die Überzeugung gewinnen können, daß die Ursache für den Sturz mit Wahrscheinlichkeit in der versicherten Tätigkeit des Sichfortbewegens von der Arbeitsstätte gelegen habe. Der Grund dafür sei in dem Anfallsleiden der Klägerin, in den Beobachtungen der Zeugen über den Hergang des Unfalls, in dem Fehlen von Abwehrreaktionen und in der beobachteten Verkrampfung der Klägerin zu finden. Die versicherte Tätigkeit habe deshalb nicht als Ursache festgestellt, sondern nur als eine denkbare Möglichkeit in Betracht gezogen werden können. Die besonderen Umstände des Einzelfalls schlössen es aus, den rechtserheblichen Zusammenhang als wahrscheinlich anzunehmen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie erlitt am 10. Februar 1979 einen Arbeitsunfall und hat jedenfalls Anspruch auf Verletztenrente.
Der Unfall, den die Klägerin erlitt, ereignete sich auf dem Weg von ihrer Arbeitsstätte. Auf solchen Wegen besteht gemäß § 550 Abs 1 RVO grundsätzlich Versicherungsschutz wie "bei" der Verrichtung einer nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO versicherten Tätigkeit selbst.
Den Feststellungen des LSG ist im einzelnen zu entnehmen, daß die Klägerin eiligen Schrittes über einen mit Kopfstein gepflasterten Weg ging. Sie verlor aus einer Gehbewegung heraus das Gleichgewicht, stürzte und schlug dabei mit dem Kopf auf einen Stein des Straßenpflasters so heftig auf, daß sie die beschriebenen Verletzungen erlitt.
Trotzdem meint das LSG, den anspruchsbegründenden Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall nicht feststellen zu können. Denn die "gute Möglichkeit", daß die Klägerin infolge eines epileptischen Anfalls gestürzt sei, also aufgrund einer sogenannten inneren Ursache, stehe dem entgegen. Darin vermag der Senat dem LSG nicht zu folgen.
§ 548 Abs 1 RVO - hier iVm § 550 Abs 1 RVO - setzt voraus, daß sich ein Arbeitsunfall bei der versicherten Tätigkeit ereignet. Dazu ist in der Regel erforderlich, daß das Verhalten, bei dem sich der Unfall ereignet, einerseits zur versicherten Tätigkeit zu rechnen ist, und daß diese Tätigkeit andererseits den Unfall herbeigeführt hat. Wie das zu unterscheiden und in welchem Zusammenhang eine konkret feststellbare sogenannte innere Ursache Gewicht erhält, hat der Senat zuletzt in seinem Urteil vom 20. Januar 1987 (BSGE 61, 127 = SozR 2200 § 548 Nr 84; zustim. Jung SGb 1987, 427) ausführlich dargelegt.
Es stellt den ersten grundlegenden Entscheidungsschritt dar, wenn der zur Entscheidung Berufene das betreffende Verhalten des Verletzten der versicherten Tätigkeit zurechnet nach der sachlichen Verbindung mit der Betriebstätigkeit - sog innerer Zusammenhang. Diese Feststellung verlangt den vollen Beweis aller die versicherte Tätigkeit bestimmenden Umstände. Erst danach stellt sich im Rahmen der anschließenden Beurteilung der sog haftungsbegründenden Kausalität die Frage, ob die festgestellte versicherte Tätigkeit den Unfall verursacht hat oder ob eine sog innere Ursache die allein wesentliche Bedingung und deshalb die Ursache des Unfalles gewesen ist. Nur für die Annahme der wesentlichen kausalen Verknüpfung zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallgeschehen reicht aus, daß sie wenigstens wahrscheinlich ist (BSGE 58, 80, 82 mwN).
Zutreffend gehen danach die Vorinstanzen und die Beteiligten davon aus, daß die Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls eine versicherte Tätigkeit verrichtete.
Die Entscheidung über die wesentliche ursächliche Verknüpfung zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfallgeschehen muß in mehreren Schritten vorgenommen werden. Zunächst sind die tatsächlichen Grundlagen festzustellen, die für die Wertentscheidung herangezogen werden. Sie müssen nachgewiesen sein; denn nur für deren Ursächlichkeit reicht die Wahrscheinlichkeit aus. Kann ein in Betracht zu ziehender Faktor entweder selber oder wenigstens in seiner Grundvoraussetzung nicht festgestellt werden, erhebt sich nicht einmal die Frage, ob er im konkreten Einzelfall auch nur als Ursache im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne in Betracht kommt (zust. Jung aaO S 428). Dann kann eine solche ungewisse Vermutung einer Bedingung auch keine Bedeutung für die Frage haben, ob die demgegenüber sicher festgestellten Bedingungen den Unfall nach der in der Unfallversicherung geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung verursacht haben (BSGE 61, 127, 130; Jung aaO). Dies gilt auch für die tatsächlichen Grundlagen einer sog inneren Ursache.
Im vorliegenden Fall hat das LSG das gesamte Verhalten bis hin zu der Bewegung, aus der heraus die Klägerin plötzlich das Gleichgewicht verlor und sich der Unfall ereignete, als der versicherten Tätigkeit zuzurechnende Verrichtungen festgestellt. Damit steht jedenfalls bereits fest, daß die versicherte Tätigkeit eine Bedingung des Unfalles und seiner Folgen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne gewesen ist; denn ohne diese ganz konkrete Tätigkeit hätte sich kein identischer Unfall mit identischen Unfallfolgen ereignen können.
Diese Feststellungen hätten nur dann keine entscheidende Bedeutung, wenn das LSG daneben auch andere Mitbedingungen des Unfallgeschehens - insbesondere die Epilepsie der Klägerin - nach seiner Überzeugung nicht nur als sicher vorhanden angesehen, sondern darüber hinaus auch mit Wahrscheinlichkeit als allein wesentliche Unfallursache festgestellt und gewertet hätte. So ist es aber nicht. Dabei kann es dahinstehen, ob als innere Ursache unmittelbar ein epileptischer Krampfanfall oder mittelbar die Epilepsie als dessen Grundvoraussetzung anzusehen ist. Sieht man die Epilepsie mittelbar als die sog innere Ursache an, so ist sie bei der Klägerin zwar nachgewiesen. Dann fehlt es aber an der Wahrscheinlichkeit dafür, daß die - festgestellte - Epilepsie mittelbar über einen Krampfanfall vor dem Unfall die allein wesentliche Bedingung und damit Ursache im Rechtssinne des Unfalles ist. Wenn - wie hier - die Eigenschaft eines tatsächlichen Umstandes als Bedingung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne noch nicht einmal wahrscheinlich ist, dann darf dieser Umstand bei der weiteren Beurteilung des Ursachenzusammenhangs nicht mehr berücksichtigt werden. Damit scheidet auch der Krampfanfall als unmittelbare innere Ursache des Unfalls aus. Denn seine Eigenschaft als Bedingung des Unfalls ist ebensowenig wahrscheinlich. Das LSG hat es zu Unrecht darauf abgestellt, daß die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Epilepsie und dem Unfall nicht auszuschließen sei. Entscheidend ist vielmehr, ob die Wahrscheinlichkeit gegeben ist, daß die innere Ursache die allein wesentliche Bedingung des Unfalles gewesen ist. Das hat das LSG aber nicht feststellen können, sondern es nur als gute Möglichkeit bezeichnet, daß es so hätte sein können. Diese Möglichkeit schließt entgegen der Ansicht des LSG nicht die aus den festgestellten Tatsachen (Zurücklegung des Heimweges) ableitbare haftungsbegründende Kausalität zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall aus. Ebenso wie die nur gute Möglichkeit des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der der versicherten Tätigkeit zuzurechnenden Verrichtung und dem Unfall die haftungsbegründende Kausalität nicht zu begründen vermag, reicht auch die nur gute Möglichkeit des Kausalzusammenhanges zwischen dem Unfall und einer inneren Ursache nicht aus, um die sonst gegebene haftungsbegründende Kausalität zu verneinen.
Somit bleibt als festgestellte Bedingung des Unfalles allein die versicherte Tätigkeit der Klägerin übrig. In dieser Eigenschaft ist sie im vorliegenden Fall zugleich als wesentliche Ursache des Unfalls festzustellen. Denn von jedem derjenigen tatsächlich festgestellten Gesichtspunkte aus, die nach dem oben Dargelegten in ursächlicher Hinsicht berücksichtigungsfähig sind, ist es zwangsläufig wahrscheinlich, daß die versicherte Tätigkeit wesentlich zum Sturz und zum Schädeltrauma beigetragen hat (vgl hierzu die vorangegangenen Urteile des Senats in SozR 2200 § 550 Nr 35 und vom 29. Februar 1984 - 2 RU 24/83 - in HV-Info 1984 Nr 7, 35). Der Senat hat bereits entschieden, daß es dazu der Feststellung des Unfallhergangs in weiteren Einzelheiten nicht bedarf (BSGE 61, 127, 130).
Da Prof. Dr. P und Dr. K in ihrem Gutachten vom 19. März 1984 für das SG, worauf das LSG Bezug genommen hat, als Unfallfolgen der Klägerin ua einen Zustand nach Contusio cerebri und interkraniellen raumfordernden Blutungen sowie eine posttraumatische Wesensänderung und eine Hirnleistungsschwäche bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von insgesamt mehr als 20 vH angeführt hat, ist insoweit ein Mindestanspruch auf Verletztenrente dem Grunde nach gegeben. Über den Beginn und die Höhe des Klageanspruchs sowie die genaue Bezeichnung der Unfallfolgen wird die Beklagte noch zu entscheiden haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen