Entscheidungsstichwort (Thema)
Geschiedenenwitwenrente . Unterhaltstitel als sonstiger Grund
Orientierungssatz
Ein Unterhaltsurteil, das nach der Scheidung ergangen ist und den Versicherten zur Unterhaltszahlung an die geschiedene Ehefrau verpflichtete, ist grundsätzlich als ein sonstiger Grund zur Unterhaltsleistung iS des § 1265 RVO anzusehen. Einem vollstreckbaren Unterhaltstitel kommt jedoch diese Bedeutung ausnahmsweise dann nicht zu, wenn der Versicherte mit Rücksicht auf eine wesentliche Veränderung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der geschiedenen Ehegatten nach Erlaß des Unterhaltsurteils zur Zeit seines Todes durch eine Abänderungsklage gemäß § 323 ZPO oder eine Vollstreckungsgegenklage iS des § 767 ZPO die vollstreckungsrechtlichen Wirkungen des Unterhaltstitels hätte beseitigen können (vgl BSG 1963-06-27 GS 5/61 = BSGE 20, 1; BSG 1956-08-23 1 RA 140/55 = BSGE 3, 197).
Normenkette
RVO § 1265 Alt. 2 Fassung: 1957-02-23; ZPO §§ 767, 323
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 15.03.1960) |
SG Berlin (Entscheidung vom 24.03.1959) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 15. März 1960 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Klägerin begehrt Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aus der Rentenversicherung ihres früheren, am 19. November 1943 verstorbenen Ehemannes. Ihre Ehe mit dem Versicherten wurde am 18. April 1940 aus der Alleinschuld des Ehemannes geschieden. Durch Anerkenntnisurteil vom 4. Dezember 1940 war der Ehemann verurteilt worden, der Klägerin vom 5. Dezember 1940 an wöchentlich 13 RM an Unterhalt zu zahlen. Im letzten Jahr vor seinem Tod hat er der Klägerin Unterhalt nicht geleistet.
Die Beklagte hat durch Bescheid vom 11. März 1958 den Antrag der Klägerin abgelehnt. Auf die Klage hat das Sozialgericht Berlin durch Urteil vom 24. März 1959 den Bescheid aufgehoben und die Beklagte zur Zahlung einer Geschiedenenwitwenrente ab 1. Mai 1957 verurteilt. Die Berufung der Beklagten gegen dieses Urteil blieb ohne Erfolg. Die Vorinstanzen haben sich auf den Standpunkt gestellt, in dem vollstreckbaren Unterhaltstitel, der bis zum Tode des Versicherten rechtsgültig geblieben sei, sei eine Verpflichtung zur Unterhaltsgewährung "aus sonstigen Gründen" im Sinne des § 1265 RVO zu erblicken. Gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin (LSG) vom 15. März 1960, in dem die Revision zugelassen ist, hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie rügt unrichtige Anwendung des § 1265 RVO und beantragt dem Sinne nach,
unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile die Klage abzuweisen.
Die Klägerin, die das angefochtene Urteil für zutreffend hält, beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die zulässige Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Das Berufungsgericht hat den Klageanspruch gemäß Art. 2 § 19 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes mit Recht nach § 1265 RVO beurteilt. Da der Versicherte der Klägerin im letzten Jahr vor seinem Tod keinen Unterhalt geleistet hat, wie das Berufungsgericht unangefochten festgestellt hat, kam es für den von der Klägerin erhobenen Anspruch gemäß § 1265 RVO allein noch darauf an, ob der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte. Das Berufungsgericht hat diese Voraussetzungen des § 1265 RVO schon deshalb als erfüllt angesehen, weil der Versicherte der Klägerin zur Zeit seines Todes aus einem "sonstigen Grunde" Unterhalt zu leisten hatte, nämlich auf Grund des vollstreckbaren Anerkenntnisurteils vom 4. Dezember 1940. Dieser Auffassung vermochte der Senat nicht in vollem Maße beizutreten. Das Berufungsgericht hat zwar - entgegen der Ansicht der Revision - zu Recht angenommen, daß das Unterhaltsurteil, das nach der Scheidung ergangen ist und den Versicherten zur Unterhaltszahlung an die geschiedene Ehefrau verpflichtete, grundsätzlich als ein sonstiger Grund zur Unterhaltsleistung im Sinne des § 1265 RVO anzusehen ist (Beschluß des Großen Senats des BSG vom 27. Juni 1963 - GS 5/61 -). Einem vollstreckbaren Unterhaltstitel kommt jedoch, wie der Große Senat in seiner Entscheidung weiterhin ausgeführt hat, diese Bedeutung ausnahmsweise dann nicht zu, wenn der Versicherte mit Rücksicht auf eine wesentliche Veränderung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der geschiedenen Ehegatten nach Erlaß des Unterhaltsurteils zur Zeit seines Todes durch eine Abänderungsklage gemäß § 323 der Zivilprozeßordnung (ZPO) oder eine Vollstreckungsgegenklage im Sinne des § 767 ZPO die vollstreckungsrechtlichen Wirkungen des Unterhaltstitels hätte beseitigen können. Von dieser Rechtsprechung abzuweichen sah der Senat keinen Anlaß. Es wird auf die Gründe dieses Beschlusses verwiesen. Daß der frühere Ehemann der Klägerin eine Abänderungsklage gegen das Anerkenntnisurteil vom 4. Dezember 1940 bis zu seinem Tod nicht erhoben hat und dieser Titel bis zum Tod fortgegolten hat, ist also nicht allein entscheidend. Es kommt vielmehr darauf an, ob für den Versicherten zur Zeit seines Todes die Voraussetzungen für eine solche Klage vorgelegen haben. Dieses beurteilt sich gemäß den hier einschlägigen Vorschriften der §§ 66, 67 Ehegesetz vom 6. Juli 1938 (vgl. BSG 5 S. 277 ff.) danach, ob nach Erlaß des Unterhaltsurteils eine wesentliche Änderung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse der geschiedenen Ehegatten eingetreten war, so daß der Versicherte zur Zeit seines Todes zur Unterhaltsgewährung an die Klägerin nicht mehr fähig bzw. die Klägerin nicht mehr unterhaltsbedürftig gewesen ist (vgl. BSG 3 S. 197 ff.).
Das angefochtene Urteil enthält, da es von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus hierzu keine Veranlassung hatte, keine tatsächlichen Feststellungen darüber, auf welchen Einkommens- und Vermögensverhältnissen der geschiedenen Ehegatten das Anerkenntnisurteil vom 4. Dezember 1940 beruhte und welches Einkommen und Vermögen die geschiedenen Ehegatten zur Zeit des Todes des Versicherten hatten und ob sich daraus eine solche wesentliche Änderung im Sinne des § 323 ZPO ergibt, daß ein Unterhaltsanspruch vor dem Tode des Versicherten nicht mehr bestand. Das Urteil gibt nur die Behauptung der Klägerin wieder, sie habe damals ein eigenes monatliches Einkommen von 145 RM und später ein solches von 175 RM gehabt, und der Versicherte sei vor seinem Tode in einem Heim untergebracht gewesen und habe aus diesen Gründen Unterhaltszahlungen nicht leisten können. Eigene tatsächliche Feststellungen in dieser Beziehung hat das Berufungsgericht nicht getroffen. Ohne diese Feststellungen kann aber nicht darüber entschieden werden, ob der geschiedene Ehemann der Klägerin zur Zeit seines Todes eine Abänderungsklage oder eine Vollstreckungsgegenklage mit Erfolg hätte durchführen können. Das Revisionsgericht konnte daher in der Sache nicht entscheiden. Das Berufungsgericht wird die erforderlichen Feststellungen noch zu treffen haben. Kommt es zu dem Ergebnis, daß auf Grund einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen des Versicherten und der Klägerin eine wesentliche Änderung eingetreten ist, daß ein Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen den Versicherten vor dessen Tode nicht mehr bestand, entfällt nicht nur ein Unterhaltsanspruch aus "sonstigen Gründen", sondern auch ein solcher nach dem Ehegesetz im Sinne des § 1265 RVO.
Das angefochtene Urteil mußte aus diesen Gründen gemäß § 170 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen