Entscheidungsstichwort (Thema)
Geschiedenenwitwenrente. Unterhaltstitel als sonstiger Grund
Orientierungssatz
Ein Unterhaltsurteil oder ein gerichtlicher Unterhaltsvergleich ist dann nicht als "sonstiger Grund" iS des § 1265 RVO anzusehen, wenn der Versicherte zur Zeit seines Todes die Wirkungen dieses vollstreckbaren Unterhaltstitels nach den Grundsätzen der §§ 323, 767 ZPO hätte beseitigen können (vgl BSG 1963-06-27 GS 5/61 = BSGE 20, 1). Ob für den Versicherten zur Zeit seines Todes die Voraussetzungen für eine Klage nach § 323 ZPO bzw nach § 767 ZPO vorgelegen haben, beurteilt sich vornehmlich nach den Vorschriften der §§ 58, 59 Ehegesetz von 1946, also danach, ob der verstorbene Versicherte zur Zeit seines Todes nach seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen zur Unterhaltsgewährung an die Klägerin fähig und die Klägerin unterhaltsbedürftig war (vgl BSG 1956-08-23 1 RA 140/55 = BSGE 3, 197).
Normenkette
RVO § 1265 Alt. 2 Fassung: 1957-02-23; ZPO §§ 323, 767
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 06.11.1958) |
SG Berlin (Entscheidung vom 07.03.1958) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 6. November 1958 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Gegen das in der Urteilsformel bezeichnete Urteil, in dem die Revision zugelassen worden ist, hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie rügt unrichtige Anwendung des § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO), der Vorschrift über die Hinterbliebenenrente einer früheren Ehefrau des Versicherten. Sie meint, die Voraussetzungen dieser Vorschrift seien nicht erfüllt, weil der geschiedene Ehemann der Klägerin, der Versicherte, dieser im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt nicht geleistet habe und ihr zur Zeit seines Todes Unterhalt weder nach den Vorschriften des Ehegesetzes noch aus sonstigen Gründen zu leisten gehabt habe. Ohne Rücksicht auf seine Vollstreckbarkeit könne allein aus dem Vorhandensein eines nach der Scheidung ergangenen Unterhaltstitels eine Verpflichtung zur Unterhaltsgewährung aus sonstigen Gründen i. S. des § 1265 RVO nicht hergeleitet werden. Entscheidend sei vielmehr, ob der Unterhaltsanspruch auf Grund der Leistungsfähigkeit des geschiedenen Ehemannes verwirklicht worden sei oder hätte verwirklicht werden können. Nach den §§ 58, 59 Ehegesetz entfalle die Unterhaltspflicht des geschiedenen Ehemannes, wenn seine Einkommensverhältnisse die Zahlung von Unterhaltsgeldern nicht zuließen. Zur Zeit seines Todes sei der Versicherte aber zur Leistung von Unterhalt an die Klägerin mit Rücksicht auf seine sonstigen Verpflichtungen nicht fähig gewesen.
Die Beklagte beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Berlin vom 6. November 1958 und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 7. März 1958 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig. Sie ist insbesondere der Auffassung, das Berufungsgericht habe zu Recht das rechtskräftige Unterhaltsurteil als sonstigen Grund zur Unterhaltsverpflichtung i. S. des § 1265 RVO angesehen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die zulässige Revision hatte insoweit Erfolg, als das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen worden ist.
Zutreffend ist das Berufungsgericht bei seiner Entscheidung davon ausgegangen, daß sich der von der Klägerin erhobene Anspruch auf Gewährung von Hinterbliebenenrente nach § 1265 RVO richtet. Der Versicherte ist zwar vor Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG), aber nach dem 30. April 1942 gestorben (Art. 2 § 19 ArVNG). Der Auffassung des Vordergerichts, daß der Anspruch der Klägerin aus § 1265 RVO schon deshalb begründet sei, weil der Versicherte auf Grund des Unterhaltsurteils des Amtsgerichts Berlin-Neukölln vom 1. September 1942 "aus sonstigen Gründen" zur Zeit seines Todes der Klägerin Unterhalt zu leisten hatte, vermochte der Senat nicht beizupflichten. Das Berufungsgericht hat zwar - entgegen der Ansicht der Revision - zur Recht angenommen, daß ein Unterhaltsurteil, das nach der Scheidung ergangen ist und den Versicherten zur Unterhaltszahlung an die geschiedene Ehefrau verpflichtet, grundsätzlich als ein sonstiger Grund zur Unterhaltsleistung i. S. des § 1265 RVO anzusehen ist (Beschluß des Großen Senats des BSG vom 27. Juni 1963 - GS 5/61 -). Einem vollstreckbaren Urteilstitel kommt jedoch diese Bedeutung ausnahmsweise dann nicht mehr zu, wenn der Versicherte mit Rücksicht auf eine wesentliche Veränderung seiner Einkommens- und Vermögensverhältnisse nach Erlaß des Unterhaltsurteils zur Zeit seines Todes durch eine Abänderungsklage gemäß § 323 der Zivilprozeßordnung (ZPO) oder eine Vollstreckungsgegenklage i. S. des § 767 ZPO die vollstreckungsrechtlichen Wirkungen des Unterhaltstitels hätte beseitigen können. Dies hat der Große Senat des Bundessozialgerichts in dem vorstehend aufgeführten Beschluß bereits ebenfalls entschieden. Daß der frühere Ehemann der Klägerin eine Abänderungsklage oder Vollstreckungsgegenklage gegen das Unterhaltsurteil des Amtsgerichts Berlin-Neukölln bis zu seinem Tode nicht erhoben hat und dieses Urteil bis zum Tode fortgegolten hat, ist also nicht allein entscheidend. Es kommt vielmehr darauf an, ob für den Versicherten zur Zeit seines Todes die Voraussetzungen für eine Klage nach § 323 ZPO bzw. nach § 767 ZPO vorgelegen haben. Dies beurteilt sich vornehmlich nach den Vorschriften der §§ 58, 59 Ehegesetz von 1946, also danach, ob der verstorbene Versicherte zur Zeit seines Todes nach seinen Einkommens- und Vermögensverhältnissen zur Unterhaltsgewährung an die Klägerin fähig und die Klägerin unterhaltsbedürftig war (BSG 3, 197).
Das angefochtene Urteil enthält, da es von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus hierzu keine Veranlassung hatte, keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen darüber, ob die Invalidenrente und die Altersunterstützung, die der Versicherte bis zu seinem Tode im Gesamtbetrage von etwa 180 DM erhalten hat, sein gesamtes Einkommen waren, und welches Vermögen er zur Zeit seines Todes besessen hat. Die Klägerin hat behauptet, der Versicherte habe in Berlin ein eigenes Haus mit zwei Mietern gehabt, in dem er selbst mietfrei gewohnt habe. Es ist auch nicht ermittelt worden, ob die zweite Ehefrau des Versicherten zur Zeit seines Todes eigene Einnahmen und eigenes Vermögen hatte, das bei der Unterhaltsverpflichtung des Versicherten gegenüber der Klägerin hätte berücksichtigt werden müssen (Palandt, BGB, 21. Aufl. Eheges. § 59 Anm. 5). Die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils lassen es auch offen, ob das Unterhaltsurteil des Amtsgerichts Berlin-Neukölln am 1. September 1942 zu einer Zeit ergangen ist, als der Versicherte in Arbeit gestanden hat, und ob dieses Urteil vor seiner Wiederverheiratung liegt.
Das Revisionsgericht konnte mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen nicht darüber entscheiden, ob der Versicherte zur Zeit seines Todes eine Abänderungsklage oder eine Vollstreckungsgegenklage mit Erfolg hätte durchführen können. Das Berufungsgericht wird die hierfür erforderlichen Feststellungen noch zu treffen haben.
Das angefochtene Urteil mußte aus diesen Gründen gemäß § 170 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen