Leitsatz (redaktionell)
1. Zur mündlichen Verhandlung gehört auch die Verlesung der Niederschrift über die Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen nach SGG § 122 Abs 3 iVm ZPO §§ 162, 160 Abs 3 Nr 3, wenn die Beweisaufnahme vor dem erkennenden Gericht erfolgt.
2. Auch eine nur kurzfristige Abwesenheit eines Richters während der der Urteilsfällung vorausgehenden mündlichen Verhandlung macht das erkennende Gericht zu einem nicht vorschriftsmäßig besetzten Gericht.
Normenkette
SGG § 122 Abs. 3 Fassung: 1953-09-03, § 33 Fassung: 1953-09-03, § 129 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 160 Abs. 3 Nr. 3, § 162 Abs. 1
Tenor
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 22. September 1961 wird aufgehoben; die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Kläger bezog nach früheren versorgungsrechtlichen Vorschriften und nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen 1.) Oberarmschußbruch links mit Schädigung des Mittelnerven, 2.) Granatsplitterverletzung der rechten Brustseite als Schädigungsfolgen eine Rente nach der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 30 v. H. (Bescheid des Versorgungsamts - VersorgA - Hamburg vom 19.4.1952). Im Februar 1957 beantragte er beim VersorgA Lübeck die Neufeststellung der Versorgungsbezüge. Das VersorgA Lübeck erkannte mit Bescheid vom 14. Januar 1958 als weitere Schädigungsfolge eine Rippenfellschwarte links an und gewährte dem Kläger unter Berücksichtigung seines Berufes Rente nach einer MdE von 40 v. H.; in dem Bescheid ist u. a. vermerkt, eine Verschlimmerung der bisher anerkannten Schädigungsfolgen liege nicht vor und die Lungentuberkulose und die Herzbeschwerden des Klägers seien nicht auf wehrdienstliche Einflüsse zurückzuführen. Den Widerspruch des Klägers wies das Landesversorgungsamt ( LandesversorgA ) Schleswig-Holstein am 31. Juli 1958 zurück. Mit der Klage begehrte der Kläger die Feststellung (Anerkennung) der Lungentuberkulose und der Herzbeschwerden als Schädigungsfolge und die Gewährung einer Rente nach einer MdE von über 50 v. H.. Das Sozialgericht (SG) Lübeck wies die Klage durch Urteil vom 17. Dezember 1958 ab.
Mit der Berufung an das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) beantragte der Kläger - unter teilweiser Aufhebung der Bescheide des Beklagten - den Beklagten zu verurteilen, mit einem neuen Bescheid weitere Leiden als Schädigungsfolge festzustellen und ihm ab 1. Februar 1957 eine Rente nach einer MdE von 100 v. H. zu gewähren. Das LSG zog weitere medizinische Unterlagen heran. Es hörte in der mündlichen Verhandlung vom 22. September 1961 den Facharzt für Chirurgie Dr. M und den Facharzt für innere Krankheiten Dr. H als Sachverständige. Am 22. September 1961 erließ das LSG folgendes Urteil:
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des SG Lübeck vom 17. Dezember 1958 und der Bescheid des VersorgA Lübeck vom 14. Januar 1958 abgeändert. Der Widerspruchsbescheid vom 31. Juli 1958 wird aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger mit einem neuen Bescheid statt wegen Rippenfellschwarte links auch wegen "Rippenfell-Zwerchfell-Herzbeutelschwarte mit Verklebung des linken Herzrandes" die Beschädigtenrente nach dem Grad der MdE von 50 v. H. für die Zeit vom 1. Februar 1957 bis 31. Mai 1961 und danach von 40 v. H. zu gewähren.
Im übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Das Urteil wurde dem Kläger am 24. Oktober 1961 zugestellt.
Der Kläger legte am 21. November 1961 Revision ein.
Er beantragte,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger begründete die Revision - nach Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist - am 15. Januar 1962. Er rügte als Verfahrensmangel, der erkennende Senat des LSG sei in der mündlichen Verhandlung vom 22. September 1961, auf die das angefochtene Urteil ergangen ist, nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen, weil der Landessozialrichter R. zeitweilig abwesend gewesen sei; die Verhandlung sei nach Anhörung der ärztlichen Sachverständigen auf kurze Zeit unterbrochen und nach Wiedereröffnung mit der Verlesung der Niederschrift über die Aussage des Sachverständigen Dr. M fortgesetzt worden, hierbei sei aber der Landessozialrichter R. anfangs nicht zugegen gewesen; der Teil der Niederschrift, der während der Abwesenheit des Landessozialrichters R. verlesen worden sei, sei auch nicht nach dem späteren Erscheinen des Landessozialrichters R. nochmals verlesen worden; das Verfahren des LSG verstoße gegen § 33 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Der Beklagte stellte "formell" den Antrag,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
die Revision zurückzuweisen.
Er erklärte, daß er zu der Revisionsbegründung keine Ausführungen zu machen habe.
Der Senat holte dienstliche Äußerungen des Vorsitzenden sowie der beiden anderen Berufsrichter des erkennenden Senats des LSG über die von dem Kläger behaupteten Vorgänge in der mündlichen Verhandlung vom 22. September 1961 ein. Diese Äußerungen wurden den Beteiligten mitgeteilt.
Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 in Verbindung mit §§ 153 Abs. 1 und 165 SGG).
II.
Die Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Der Kläger rügt zu Recht, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel, weil das LSG in der mündlichen Verhandlung vom 22. September 1961 - auf die das angefochtene Urteil ergangen ist - nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen sei (§ 33 SGG).
Nach den im wesentlichen übereinstimmenden Äußerungen des Vorsitzenden des erkennenden Senats des LSG und der beiden anderen Berufsrichter ist folgender Sachverhalt verfahrensrechtlich zu beurteilen: In der mündlichen Verhandlung des LSG vom 22. September 1961 erstatteten die ärztlichen Sachverständigen Dr. M und Dr. H mündlich ihre Gutachten. Der Vorsitzende veranlaßte darauf die Sachverständigen, den wesentlichen Inhalt ihrer Gutachten der Protokollführerin zu diktieren. Während dieses Diktats verließen die Richter den Sitzungssaal. Nach Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung veranlaßte der Vorsitzende die Protokollführerin, die Niederschrift über die Aussage der ärztlichen Sachverständigen zu verlesen. Es blieb zunächst unbemerkt, daß der Landessozialrichter R. noch fehlte. Als der Vorsitzende - nachdem ein Teil der Niederschrift über die Aussage des Sachverständigen Dr. M (ein oder zwei Sätze) verlesen worden war - das spätere Erscheinen des Landessozialrichters R. bemerkte, wandte er sich an die Beteiligten etwa mit den Worten: "Sie sind doch wohl damit einverstanden, daß das soeben Verlesene nicht nochmals verlesen wird"; die Beteiligten und der Landessozialrichter R. gaben darauf zustimmende Antworten bzw. sie machten zustimmende Gebärden; darauf ließ der Vorsitzende in der Verlesung der Niederschrift fortfahren.
Nach § 33 SGG wird in der mündlichen Verhandlung jeder Senat des LSG in der Besetzung mit einem Vorsitzenden, zwei weiteren Berufsrichtern und zwei Landessozialrichtern tätig; nach § 129 SGG darf das Urteil nur von den Richtern gefällt werden, die an der dem Urteil zugrunde liegenden mündlichen Verhandlung teilgenommen haben. Das erkennende Gericht muß während der ganzen mündlichen Verhandlung in der vorschriftsmäßigen Besetzung anwesend sein. Auch eine nur kurzfristige Abwesenheit eines Richters während der der Urteilsfällung vorausgehenden mündlichen Verhandlung macht das erkennende Gericht zu einem nicht vorschriftsmäßig besetzten Gericht. Daran ändert sich auch nichts, wenn der Richter, der kurzfristig abwesend ist, vor der Urteilsverkündung und außerhalb der mündlichen Verhandlung über den Gang und das Ergebnis der Verhandlung, soweit sie in seiner Abwesenheit durchgeführt worden ist, unterrichtet wird. Der Richter muß an der ganzen Verhandlung selbst teilnehmen, um sich sein Urteil auf Grund der Verhandlung unmittelbar zu bilden (BAG 5, 170 ff). Zur mündlichen Verhandlung gehört auch die Verlesung der Niederschrift über die Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen nach § 122 Abs. 3 SGG in Verbindung mit §§ 162, 160 Abs. 2 Nr. 3 der Zivilprozeßordnung (ZPO), wenn die Beweisaufnahme vor dem erkennenden Gericht erfolgt (vgl. auch die Urteile des BSG vom 19.7.1961, SozR Nr. 3 und Nr. 4 zu § 122 SGG).
Es ist im vorliegenden Fall ohne Bedeutung, ob das LSG nach § 122 Abs. 3 SGG in Verbindung mit § 161 ZPO hat davon absehen dürfen, die Aussagen der Sachverständigen in der Niederschrift festzuhalten (vgl. auch BSG 16, 236); von dieser Möglichkeit hat es jedenfalls keinen Gebrauch gemacht. Ebensowenig kommt es hier darauf an, ob die Beteiligten auf die Verlesung der Niederschrift über die Aussage des Sachverständigen, die nach § 122 Abs. 3 SGG in Verbindung mit § 162 Abs. 2 Ziff. 3 ZPO vorgeschrieben ist, mit der Folge des Verlustes des Rügerechts haben verzichten können (§ 295 ZPO). Der Mangel, der hier gerügt ist und der auch vorliegt, besteht darin, daß der erkennende Senat des LSG in der der Urteilsfällung vorausgehenden mündlichen Verhandlung nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen ist, weil Landessozialrichter R. kurzfristig abwesend war, ohne daß die Verhandlung deshalb vorher unterbrochen worden oder nach seiner Rückkehr der Teil der Verhandlung, bei dem er nicht anwesend war - nämlich die teilweise Verlesung der Niederschrift über die Aussage des ärztlichen Sachverständigen - wiederholt worden ist.
Auf die Beachtung der Vorschriften über die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts (§§ 33, 129 SGG) können die Beteiligten nicht rechtswirksam verzichten; der hier vorliegende Mangel ist deshalb auch dann nicht geheilt worden, wenn sich die Beteiligten ausdrücklich oder stillschweigend damit einverstanden erklärt haben, daß - nach dem Erscheinen des Landessozialrichters R. - mit der Verlesung der Aussage des Sachverständigen nicht erneut begonnen werde; es ist auch insoweit unerheblich, ob sich Landessozialrichter R. selbst damit einverstanden erklärt hat oder nicht.
Das Verfahren des LSG verstößt sonach gegen die Vorschriften der §§ 33 und 129 SGG. Der Kläger hat diesen Mangel in der nach § 164 Abs. 2 SGG gebotenen Form gerügt. Die Revision ist deshalb statthaft; sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt worden und somit zulässig.
Die Revision ist auch begründet (§ 551 Ziff. 1 ZPO in Verbindung mit § 202 ZPO; vgl. BSG 9, 153 mit weiteren Nachweisen). Das angefochtene Urteil ist aufzuheben, die Sache ist zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen