Entscheidungsstichwort (Thema)
sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensfehler. Überschreitung der gesetzlichen Grenzen der richterlichen Beweiswürdigung
Orientierungssatz
Zur Überschreitung der gesetzlichen Grenzen der richterlichen Beweiswürdigung, wenn das LSG trotz vieler Zeugenaussagen zum Unfallgeschehen, die im wesentlichen die Ermittlungen der Kriminalpolizei bestätigt haben, der gegenteiligen, nur in einem Aktenvermerk eines Dritten wiedergegebenen telefonischen Bekundung eines anderen Zeugen gefolgt ist.
Normenkette
SGG § 128
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 22.07.1974) |
SG Stade (Urteil vom 27.03.1973) |
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. Juli 1974 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Kläger sind die Hinterbliebenen des am 4. Juni 1971 tödlich verunglückten Hafenarbeiters (Stauers) A H (H.). H. war ab 15. März 1971 bei der Firma H M, Stauerei, B, als Stauer beschäftigt. Ab 3. Juni 1971 wurde von Arbeitern dieser Firma das Motorschiff "F" im Überseehafen von B ent- und beladen. Es handelte sich um ein Seeschiff, dessen Laderäume in Unter- und Zwischendecks aufgeteilt sind, die vom Oberdeck aus über insgesamt 5 Luken zu erreichen sind. Das Unter- und das ca. 30 m lange Zwischendeck im Bereich der Luken 4 und 5 sind nicht durch Schotten (Querwände) unterteilt; beide Decks können - sofern es die Beladung und die Lichtverhältnisse erlauben - durchgehend passiert werden. Unterhalb der Luke 4 sind in das Zwischendeck 4 etwa 4 m x 4 m große Öffnungen eingelassen, unter denen sich ca. 7 m tiefe Süßöltanks befinden. Während der Liegezeit des Schiffes am 3. und 4. Juni 1971 wurden in die Laderäume unterhalb der Luke 5 Papiersäcke mit Milchpulver und Mehl geladen. Am 4. Juni 1971 arbeitete H. in der um 14.00 Uhr beginnenden Spätschicht zusammen mit 4 weiteren Stauern im Unterraum unter der Luke 5. Um 18.45 Uhr begann die übliche Arbeitspause (Anbietzeit). Nach Ende der Arbeitspause, die bis 19.15 Uhr dauerte, wurde H. um ca. 19.20 Uhr von dem Zeugen L (D) kurz gesehen und später, nachdem er vermißt worden war, auf dem Boden eines der geöffneten Süßöltanks tot aufgefunden. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 16. Dezember 1971 die Gewährung von Hinterbliebenenentschädigung ab, weil H. nicht im Zusammenhang mit einer Betriebstätigkeit verunglückt sei; sein Arbeitsplatz habe sich im Unterraum der Luke 5 und nicht im Zwischendeck der Luke 4 befunden. Es sei auch nicht wahrscheinlich, daß er den Unfall im Zusammenhang mit dem Aufsuchen einer Toilette erlitten habe. Er sei einer von ihm selbst geschaffenen Gefahr erlegen. Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 27. März 1973 die Klage abgewiesen, das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Kläger mit Urteil vom 22. Juli 1974 zurückgewiesen. Es hat u. a. ausgeführt, H. müsse bei dem Versuch, das Zwischendeck unterhalb der Luke 4 zu betreten oder es zu passieren, gegen den etwa 15 bis 20 cm hohen Lukensüll (Rand) des Süßöltanks gestoßen sein, das Gleichgewicht verloren und durch die etwa 4 m x 4 m große Öffnung in den Tank gestützt sein. Es habe sich nicht feststellen lassen, welche Absicht H. bei seinem Gang durch das Zwischendeck verfolgt habe. Von den fünf Möglichkeiten komme zunächst die Verrichtung der Notdurft nicht ernstlich in Betracht, ebenso nicht das Suchen von Stauholz; die dahingehende Annahme des Zeugen D sei nur eine Vermutung, für die konkrete Anhaltspunkte fehlten. Die Suche nach Stauholz im Zwischendeck direkt unterhalb der Luke 4 sei sinnlos gewesen, weil wegen Dunkelheit dort kaum etwas zu erkennen gewesen sei. Daß H. seinen Arbeitsplatz habe aufsuchen wollen, sei unwahrscheinlich, denn er habe diesen einfach und bequem über die Leitern bei der Luke 5 erreichen können, die er schon benutzt gehabt habe. Es sei kein einleuchtender Grund dafür ersichtlich, der H. hätte veranlassen können, dem sicheren Weg über diese Leitern den Umweg durch die Vermessungsluke und über das dunkle, mit Stückgut hochgestaute Zwischendeck vorzuziehen, das nur an der Steuerbordseite unter Schwierigkeiten zu passieren gewesen sei. Andererseits sei die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß H. das Zwischendeck aus Neugierde betreten habe; ebenso bestehe die Möglichkeit, daß er aus dem Ladegut im Zwischendeck Bier und Soft-Drinks für seine persönlichen Zwecke habe an sich nehmen wollen; dafür spreche, daß er das Segeltuch vor der Vermessungsluke nicht entfernt habe. Da ein eindeutiges Beweisergebnis nicht habe erzielt werden können, müßten die Kläger die Nachteile dafür tragen, daß sich nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lasse, ob es sich bei dem Sturz in den Süßöltank um einen Arbeitsunfall handelt. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt des LSG-Urteils Bezug genommen.
Gegen dieses Urteil haben die Kläger die vom LSG nicht zugelassene Revision eingelegt, mit der sie mangelnde Sachaufklärung sowie die Überschreitung der Grenzen des Rechts freier richterlicher Beweiswürdigung rügen. Zu Unrecht habe das LSG zunächst angenommen, das Zwischendeck sei nur an der Steuerbordseite unter Schwierigkeiten zu passieren gewesen, weil es u. a. mit Gummischläuchen und Kisten mit Soft-Drinks und Bier hoch gestaut und mit Seilen verlascht gewesen sei. Die Angaben, auf die sich das LSG dabei offenbar gestützt habe, ständen im Widerspruch zu den von der Kriminalpolizei und zu den von der Beklagten im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen sowie zu den Zeugenaussagen. Das Zwischendeck sei leer und damit gut passierbar gewesen. Da es um 19.25 Uhr noch taghell gewesen sei, hätte das LSG ferner nicht als erwiesen ansehen dürfen, von der Luke 5 falle nur schwaches Licht ein. Es sei des weiteren nicht hinreichend geprüft worden, ob der Vorhang an der Vermessungsluke im Zeitpunkt des Durchschreitens durch H. nicht geöffnet war. Dann hätte H. auch nicht mit einer erheblichen Gefahr durch offene Tanks rechnen müssen. Ferner sei zu beachten, daß im Zeitpunkt, als H. mit dem Zeugen D belanglose Worte gewechselt habe, die Pause bereits seit fünf Minuten vorüber gewesen sei. Dieser Umstand und die Möglichkeit, dabei zugleich Stauholz zu sammeln, könne für H. ausschlaggebend gewesen sein, um den Weg zu seinem Arbeitsplatz über das Zwischendeck zu wählen; denn dieser Weg sei dann der kürzere gewesen. H. hätte sich auch dann noch auf dem Weg zu seiner Arbeit befunden, wenn er die ihm unterstellte Absicht verfolgt haben sollte, Bier zu stehlen. Die Tatsache, daß er sich auf dem Weg zur Arbeit befunden habe, stehe so sehr im Vordergrund, daß andere Möglichkeiten als Erklärung für das Betreten des Zwischendecks ausschieden. Soweit das LSG andere Alternativen erörtert habe, verstoße dies gegen die Denkgesetze. Die vom LSG erwogene Möglichkeit, H. habe Getränke an sich nehmen wollen, scheide schon deshalb aus, weil in der vom LSG angenommenen Dunkelheit solche Gegenstände noch weniger zu erkennen gewesen wären als Stauholz. Es sei nicht einmal erwiesen, ob H. wußte, daß und wo Getränke im Zwischendeck verstaut gewesen seien. Außerdem hätte er geeignetes Werkzeug bei sich haben müssen, um an die verpackten Getränke herankommen zu können. Darüber hinaus hätte er, da die Anbietzeit längst beendet gewesen sei, damit rechnen müssen, daß ihn die Kollegen suchen und beim Diebstahl ertappen würden, womit er auch noch den Verlust des Arbeitsplatzes riskiert hätte. Ebenso abwegig sei die vom LSG in Betracht gezogene Möglichkeit, H. habe den Raum aus Neugierde betreten. H. sei schließlich auch keiner selbst geschaffenen Gefahr erlegen, da die Gefahr von den unzureichend gesicherten offenen Tanks, von der H. und andere Stauer nichts gewußt hätten, ausgegangen sei. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Revisionsbegründungsschrift verwiesen.
Die Kläger beantragen,
das LSG-Urteil, das Urteil des SG Stade vom 27. März 1973 sowie den Bescheid der Beklagten vom 16. Dezember 1971 aufzuheben und diese zu verurteilen, den Klägern anläßlich des Todes von H. Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren,
hilfsweise,
die Streitsache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zu verwerfen bzw. sie zurückzuweisen.
Sie hält das LSG-Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und auch statthaft, weil die Kläger einen wesentlichen Verfahrensmangel gerügt haben, der auch vorliegt.
Zutreffend greift die Revision die Feststellung des LSG an, das Zwischendeck - von dem aus H. zu seiner Arbeitsstelle hätte gelangen können - sei unterhalb der Luke 5 wegen Staugutes nur an der Steuerbordseite unter Schwierigkeiten zu passieren gewesen (Urteil S. 11). Dabei hat sich das LSG offenbar auf den Aktenvermerk vom 8. Juni 1971 auf Bl. 9 der Unfall-Akten bezogen, wonach "Kapt." (oder Techn. Oberinspektor ? - U. A. - Bl. 4) M anläßlich eines Telefongesprächs gesagt haben soll, "das Zwischendeck von Luke 4 nach Luke 5 zu begehen", sei "nur mit Schwierigkeiten" möglich gewesen. - Da es in demselben Aktenvermerk heißt: "Nach den Ermittlungen der Kripo hätte H. ohne weiteres über das Zwischendeck Luke 4 seinen Arbeitsplatz an der Luke 5 erreichen können. Es wäre mittschiffs genügend Durchgangsraum gewesen", hätte das LSG nicht nur diese angebliche telefonische Mitteilung seinen tatsächlichen Feststellungen zugrunde legen dürfen. Dies um so weniger, als - wie die Revision zu Recht vorträgt - auch noch weitere Beweiserhebungen für einen gegenteiligen Sachverhalt sprachen. So hat der Zeuge D vor dem SG ausgesagt: "Es war möglich, daß man aus Luke 5 nach Luke 4 im Zwischendeck gelangen konnte" (SG-Akten Bl. 56). Auf Bl. 55 der SG-Akte hat der Zeuge ferner auf den Vorhalt, nach Bl. 8 der Unfall-Akten sei der Weg nach Luke 5 nicht passierbar gewesen, "klargestellt", daß dort zwar umfangreiches Stückgut gelagert gewesen sei, "jedoch konnte man ohne weiteres an diesem Stückgut vorbeigehen". Vor dem LSG hat dieser Zeuge dann ausgesagt: "Mir war es ohne weitere Mühe möglich, das Zwischendeck der Luke 4 zu passieren" (von und zur Luke 5) - vgl. LSG-Akten Bl. 111 -. Des weiteren hat der Zeuge M vor dem LSG bekundet: "Das Zwischendeck zwischen Luke 5 und 4 war wohl beladen, es war aber nicht verbaut. Man konnte es jedenfalls passieren" (LSG-Akten Bl. 147). Ähnlich lautete die Aussage des Zeugen M: "Nach einiger Zeit bin ich auf dem Zwischendeck von Luke 5 aus in Richtung auf Luke 4 gegangen, und zwar an Steuerbordseite. Das konnte man ganz gut". Weiter ist Bl. 62 der Unfall-Akten in einem Aktenvermerk vom 30. Oktober 1971 festgehalten, Herr B von der DDG (Deutsche Dampf-Schifffahrts-Gesellschaft) Hansa- Versicherungsabteilung - habe erklärt, im Zwischendeck bei Luke 4 sei die Schiffsmitte auf der Backbordseite "frei von Ladung gewesen" (vgl. Unfall-Akten Bl. 62). Schließlich hat der nautische Ingenieur J von der Hansa-Reederei vor dem SG angegeben: "Es war möglich, am Unfalltag durch die Luke 4 an den gestauten Ladungen vorbeizugehen. Ich schätze den dazu erforderlichen Platz auf etwa 1 m Breite."
Wenn das LSG trotz dieser Beweisergebnisse, die im wesentlichen die Ermittlungen der Kriminalpolizei bestätigt haben, der gegenteiligen, nur in einem Aktenvermerk eines Dritten wiedergegebenen telefonischen Bekundung des Herrn M gefolgt ist, so hat es damit die Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung überschritten. Die Revision ist wegen dieses wesentlichen Verfahrensmangels statthaft. Sie ist auch begründet, weil die Möglichkeit besteht, daß das LSG bei Vermeidung dieses Verfahrensmangels zu dem Ergebnis gelangt wäre, H. habe sich im Unfallzeitpunkt auf dem Weg zu seiner Arbeitsstelle an der Luke 5 befunden und deshalb unter Unfallversicherungsschutz gestanden. Unter diesen Umständen kann dahinstehen, ob auch die weiteren Verfahrensrügen der Revision durchgreifen. Da der Senat beim gegenwärtigen Sachstand über die Revision nicht selbst entscheiden konnte, war der Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
In rechtlicher Hinsicht hat das LSG an sich zutreffend ausgeführt, es bestehe keine Rechtsvermutung des Inhalts, daß ein Versicherter, wenn er auf der Betriebsstätte tot aufgefunden werde und eine Betriebseinrichtung als mitwirkende Todesursache in Betracht komme, einem Arbeitsunfall erlegen sei (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Aufl., Stand August 1974, S. 480 o I). Brackmann hat an dieser Stelle auf BSG 19, 52, 54 verwiesen. In dieser Entscheidung ist aber auch zum Ausdruck gebracht worden, daß das LSG nicht gehindert sei, dem durch die Eigentümlichkeiten der Seefahrt bedingten "Beweisnotstand" dadurch Rechnung zu tragen, daß es an den Beweis der anspruchsbegründenden Tatsache des behaupteten Unfalltodes weniger hohe Anforderungen stellt (aaO S. 56). Diese Möglichkeit besteht für das LSG auch im vorliegenden Fall.
Nach alledem war, wie geschehen, zu erkennen.
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen