Orientierungssatz
Bei der Beurteilung der Frage, ob der nach RVO §§ 571 bis 576 berechnete Jahresarbeitsverdienst in erheblichem Maße "unbillig" ist, hat der Versicherungsträger keinen beschränkt nachprüfbaren Beurteilungsspielraum. Das Gericht kann diese Wertung vielmehr selbst vornehmen. Der Beschluß des Gemeinsamen Senats vom 1971-10-19 (BGHZ 58, 399) steht dem nicht entgegen Der Gemeinsame Senat hat nämlich selbst darauf hingewiesen, daß bei einer sogenannten Kopplungsvorschrift vom unbestimmten Rechtsbegriff - "unbillig" - und Ermessen-"können" nach dem jeweiligen Sinn und Zweck der anzuwendenden Vorschrift entschieden werden müsse, ob sie in den Bereich der Rechtsanwendung oder in den der Ermessensbetätigung gehöre.
Normenkette
RVO § 571 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1963-04-30, § 575 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 577 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. Dezember 1973 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Jahresarbeitsverdienstes (JAV) der Klägerin.
Die Klägerin ist 1919 geboren und war bis zum 31. März 1955 als examinierte Sozialarbeiterin in der Werksfürsorge der R AG beschäftigt. In der Folgezeit übte sie keine Erwerbstätigkeit aus, sondern führte ihren Haushalt, der aus ihrem Ehemann und drei minderjährigen Kindern besteht. Seit 1968 war sie ehrenamtlich als Presbyterin bei der evangelischen Kirchengemeinde in O tätig.
Am 11. März 1970 erlitt die Klägerin im Rahmen ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit einen Unfall, bei dem sie sich eine Distorsion des linken Fußgelenkes mit hochsitzendem Wadenbeinbruch und Abbruch des hinteren Volkmann'schen Dreiecks zuzog.
Mit Bescheid vom 17. November 1970 gewährte die Beklagte der Klägerin ab 4. Juni 1970 eine vorläufige Rente in Höhe von 50 v. H. und ab 1. August 1970 von 30 v. H. der Vollrente. Bei der Berechnung des JAV legte die Beklagte das 300-fache des Ortslohnes - das waren im Falle der Klägerin 5.310 DM - zugrunde.
Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin Klage erhoben, mit der sie sich gegen die Festsetzung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) und des JAV gewendet und die Verurteilung der Beklagten zur Übernahme weiterer ihr anläßlich des Unfalls entstandener Kosten sowie zur Gewährung einer besonderen Unterstützung begehrt hat.
Während des Klageverfahrens erteilte die Beklagte einen weiteren Bescheid, in dem sie die Dauerrente auf 20 v. H. der Vollrente feststellte (Bescheid vom 25. Januar 1972). Hierbei ging sie ebenfalls von einem nach dem 300-fachen des Ortslohnes berechneten JAV aus.
Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat durch Urteil vom 19. Dezember 1972 die Bescheide der Beklagten vom 17. November 1970 und 25. Januar 1972 aufgehoben, soweit es sich um die Festsetzung des der Rentenberechnung zugrunde liegenden JAV handelt. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen.
Es ist der Auffassung, die angefochtenen Bescheide seien nur insoweit rechtswidrig, als die Beklagte bei der Feststellung des JAV das 300-fache des Ortslohnes eines weiblichen Arbeitnehmers über 21 Jahre zugrunde gelegt habe. Denn damit werde nicht ausreichend berücksichtigt, daß die Klägerin einen 5-Personenhaushalt zu versorgen habe. Der von der Beklagten festgestellte JAV in Höhe von 5.310 DM, der an der Grenze der von der Sozialhilfe gewährten Sätze liege, entspreche nicht dem Wert der Arbeit einer Hausfrau mit der Qualifikation und der Belastung der Klägerin. Es müsse nämlich berücksichtigt werden, daß die Klägerin eine ausgebildete Fürsorgerin sei und neben der Führung des Haushaltes drei Kinder im Entwicklungsalter zu betreuen, insbesondere bei den Schulaufgaben zu beaufsichtigen und zu helfen habe. Zwar sei es sehr schwierig, den Wert dieser Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu bemessen; der von der Beklagten festgestellte JAV sei aber unter Berücksichtigung der aufgezeigten Aufgaben und Fähigkeiten der Klägerin in erheblichem Maße unbillig und verstoße somit gegen § 577 RVO.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 12. Dezember 1973, nachdem die Beklagte im Laufe des Berufungsverfahrens einen ablehnenden Widerspruchsbescheid hinsichtlich der Feststellung des JAV nach § 577 RVO erteilt und die Berufung hinsichtlich des Bescheides vom 17. November 1970 zurückgenommen hatte, das Urteil des SG abgeändert und die Klage gegen den Bescheid vom 25. Januar 1972 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Februar 1973 in vollem Umfang abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Die Beklagte sei zutreffend bei der Feststellung des JAV von dem 300-fachen des Ortslohnes nach § 575 Abs. 1 RVO ausgegangen. Eine Berechnung des JAV nach § 571 Abs. 1 Satz 1 RVO komme nicht in Betracht, da die Klägerin im Jahre vor dem Unfall kein Arbeitseinkommen gehabt habe. Auch finde § 571 Abs. 1 Satz 2 RVO keine Anwendung. Denn auf die letzte entgeltliche Tätigkeit der Klägerin im Jahre 1955 könne wegen des langen zeitlichen Zwischenraumes bis zum Unfallzeitpunkt nicht mehr zurückgegriffen werden. Schließlich scheide auch eine Berechnung nach § 571 Abs. 1 Satz 3 RVO aus, weil die Klägerin aus der von ihr im Unfallzeitpunkt ausgeübten Tätigkeiten kein Arbeitseinkommen bezogen habe.
Die Zugrundelegung des Ortslohnes nach § 575 Abs. 1 RVO sei bezüglich der Klägerin auch nicht im Sinne des § 577 RVO in erheblichem Maße unbillig. Auf eine in etwa gleichartige oder vergleichbare Erwerbstätigkeit könne hier nicht zurückgegriffen werden. Denn es gebe keine Erwerbstätigkeit, die in den für sie typischen wesentlichen Merkmalen mit der Hausfrauentätigkeit übereinstimme bzw. im wesentlichen dieser Tätigkeit ähnlich sei. Mithin könne es nur auf die Hausfrauentätigkeit selbst ankommen. Deren Bewertung jedoch nach dem Ortslohn als eines nach dem Durchschnitt für den Bezirk eines Versicherungsamtes festgesetzten Lohnes erscheine jedenfalls nicht in erheblichem Maße unbillig, zumal es nicht dem Sinn der Vorschrift des § 577 RVO entspreche, bei Hausfrauen Unterscheidungen nach Fähigkeiten, Ausbildung, Bildung und Lebensstellung zu treffen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es vor allem damit begründet, das 300-fache des Ortslohnes sei die unterste Grenze dessen, was als JAV einer Rentenbemessung überhaupt zugrunde gelegt werden könne. Die Auffassung des LSG, eine nicht erwerbstätige Hausfrau müsse sich generell mit einem solchen niedrigen JAV begnügen, werde deren Stellung, wie sie sich insbesondere aus den §§ 1356, 1360 ff Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) sowie Art. 6 Grundgesetz (GG) ergebe, nicht gerecht.
Daneben sei die Nichtanwendung des § 577 RVO bei ehrenamtlich Tätigen nicht mit § 539 Abs. 1 Ziff. 13 RVO zu vereinbaren, wonach die in öffentlichen Körperschaften ehrenamtlich Tätigen unfallversicherungsrechtlich den Erwerbstätigen oder sonst versicherten Personen gleichgestellt seien. Ehrenamtliche Tätigkeiten, die oft von nicht mehr erwerbstätigen Personen ausgeübt würden, seien aber in der Regel unentgeltlich. Es sei daher nicht gerecht, diesen Personenkreis mangels Arbeitseinkommen generell auf den Mindest-JAV zu verweisen, zumal die von ihnen ausgeübten Verrichtungen häufig hohe persönliche und sachliche Qualifikationen erforderten. Dies treffe insbesondere auch auf die Klägerin zu.
Schließlich verstoße die unterschiedliche Feststellung des JAV bei männlichen und weiblichen Arbeitnehmern gegen Art. 3 Abs. 2 GG.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. Dezember 1973 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 19. Dezember 1972 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt aus, sie verkenne gewiß nicht den Wert, den die Tätigkeit der Hausfrau für ihre Familie darstelle. Darauf komme es hier jedoch nicht an. Entscheidend sei in der Unfallversicherung allein der Arbeitsverdienst des Verletzten im Jahre vor dem Unfall, nicht aber der Wert, den die Tätigkeit des Verletzten für seine Angehörigen gehabt habe oder das Maß an Aufwendungen, die durch diese Tätigkeit für die Familie erspart worden seien. Demzufolge gingen auch die Vorschriften der §§ 571 ff RVO grundsätzlich von der Möglichkeit des Bezugs von Arbeitseinkommen aus, nicht jedoch von dem Wert der Arbeit oder etwaigen Ersparnissen.
Die Zugrundelegung des 300-fachen des Ortslohnes sei - wie das LSG zutreffend ausgeführt habe - im Falle der Klägerin nicht in erheblichem Maße unbillig. Abgesehen davon, daß es sich bei dem Ortslohn immerhin um einen Durchschnittslohn handele, gebe es keine dem Hausfrauenberuf gleichartige bzw. vergleichbare Tätigkeit.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Streitig ist in der Revision allein - wie auch schon im Verfahren des 2. Rechtszuges - ob die Beklagte den JAV der Klägerin zu Recht nach § 575 Abs. 1 RVO auf das 300-fache des Ortslohnes festgesetzt hat.
Die von dem LSG getroffenen Feststellungen reichen nicht aus, um eine Berechnung des JAV nach § 571 Abs. 1 Satz 2 RVO zu verneinen.
Zwar dürfen bei § 571 Abs. 1 Satz 2 RVO - hiervon ist das LSG zutreffend ausgegangen - zur Ausfüllung von Zeiten ohne Arbeitseinkommen nur solche Tätigkeiten berücksichtigt werden, die mit der zur Unfallzeit ausgeübten Tätigkeit des Verletzten noch in einem durch sein Arbeitsleben bestimmten Zusammenhang stehen. Dies wird im allgemeinen dann nicht mehr der Fall sein, wenn der dem Arbeitsunfall vorausgehende Zeitraum, in dem der Verletzte kein Arbeitseinkommen bezogen hat, sich über Jahre oder gar Jahrzehnte erstreckt (BSG 28, 274, 277; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. II, Stand August 1974, S. 574 e; Lauterbach, Unfallversicherung, Bd. 1, 3. Aufl., Stand September 1974, Anm. 4 a zu § 571 RVO; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, Stand März 1975, Kennzahl 440, S. 2, 3). Unter Berufung darauf, daß die Klägerin seit dem 31. März 1955 bis zum Unfalltag, dem 11. März 1970, keine Erwerbstätigkeit mehr ausgeübt hat, hat das Berufungsgericht die Anwendbarkeit des § 571 Abs. 1 Satz 2 RVO verneint. Dabei hat es jedoch außer acht gelassen, daß andererseits nach herrschender Meinung eine starre, rein zeitliche Grenze - wie sie z. B. Podzun annimmt (aaO, Kennzahl 440, S. 3) - nicht gezogen werden kann. Es hängt vielmehr von den jeweiligen Umständen des Einzelfalles ab, welche Bedeutung der fraglichen Zwischenzeit zwischen den in Frage stehenden Tätigkeiten zukommt, wobei vor allem die Art entscheidend ist, wie der Verletzte diese Zeit verbracht hat, insbesondere, ob er bestrebt war, sich die Möglichkeit des jederzeitigen Wiedereintritts in das Erwerbsleben offenzuhalten (BSG 28, 274, 277; Brackmann, aaO, S. 574 e; RVO-Gesamtkommentar, 3. Buch, Stand Dezember 1974, Anm. 5 zu § 571 RVO). Denn durch solche Bemühungen wird in der Regel die Beziehung zwischen der neuerlichen und der früheren Tätigkeit nicht als gelöst angesehen werden können.
Insoweit hätte es weiterer Ermittlungen dahingehend bedurft, ob die Klägerin in dem fraglichen Zeitraum zwischen den Jahren 1955 bis 1968 - der Aufnahme der Presbytertätigkeit - wenn auch nur ehrenamtlich, fürsorgerisch tätig gewesen ist oder sich etwa auf andere Art, wie z. B. durch Teilnahme an Fortbildungskursen, Besuch von Volkshochschulen, laufendes Studium von Fachliteratur usw. den jederzeitigen Wiedereintritt in das Erwerbsleben offen gehalten hat. Dies bedarf insbesondere auch deshalb näherer Prüfung, weil sie seit dem 1. März 1973 wieder halbtags als Leiterin einer Tagesstätte in einer Sonderschule für geistig behinderte Kinder beschäftigt ist.
Soweit das LSG eine erhebliche Unbilligkeit und damit die Voraussetzungen des § 577 RVO verneint hat, ist nach der Auffassung des Senats vor allem auf die ehrenamtliche Tätigkeit der Klägerin abzustellen, in deren Ausübung sie verunglückt ist. Denn unbestritten gewährt die Beklagte der Klägerin Unfallrente nach § 539 Abs. 1 Nr. 13 RVO, also wegen ihrer Presbytertätigkeit und nicht wegen ihrer Stellung als Hausfrau und Mutter von drei im Entwicklungsalter stehenden Kindern.
Nach § 577 RVO hat die Beklagte, wenn der nach den §§ 571 bis 576 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist, diesen im Rahmen des § 575 RVO nach billigem Ermessen festzustellen. Hierbei ist außer den Fähigkeiten, der Ausbildung und der Lebensstellung des Verletzten seine Erwerbstätigkeit zur Zeit des Arbeitsunfalles oder, soweit er nicht gegen Entgelt tätig war, eine gleichartige oder vergleichbare Erwerbstätigkeit zu berücksichtigen.
§ 577 RVO findet, entgegen der Auffassung von Haase/Koch (Die Unfallversicherung, 1963, Anm. 4 b zu § 571 RVO) auch auf einen - wie im Falle der Klägerin - nach § 575 RVO festgestellten JAV Anwendung (so auch Lauterbach, aaO, Anm. 5 b zu § 571 RVO; Miesbach/Baumer, Die gesetzliche Unfallversicherung, Stand März 1974, Anm. 2 zu § 575 RVO). Zwar ist zuzugeben, daß § 577 RVO von einem berechneten JAV spricht, während nach § 575 Abs. 1 RVO dem JAV lediglich der jeweilige Ortslohn zugrunde gelegt wird; diese Vorschrift betrifft aber ebenfalls die Berechnung des JAV. Überdies verweist § 577 RVO ausdrücklich ohne Einschränkung auf die Vorschriften der §§ 571-576 RVO, bezieht also nach seinem eindeutigen, unmißverständlichen Wortlaut § 575 RVO mit ein (Lauterbach aaO; so wohl auch Brackmann, aaO, S. 576 f).
Die Beurteilung der Frage, ob der nach §§ 571-576 RVO berechnete JAV in erheblichem Maße unbillig ist, liegt nicht im Ermessen des Versicherungsträgers. Dieser hat insoweit auch keinen beschränkt nachprüfbaren Beurteilungsspielraum (BSG 7, 269, 277; 32, 169, 173; Brackmann, aaO, S. 576 h; Lauterbach, aaO., Anm. 5 zu § 577 RVO; Podzun, aaO, Kennzahl 440, S. 22 e). Das Gericht kann vielmehr die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Wertung, ob ein nach den §§ 571-576 RVO ermittelter JAV in erheblichem Maße unbillig ist, selbst vollziehen (BSG 32, aaO; Podzun, aaO).
Zwar hat der Gemeinsame Senat in seinem Beschluß vom 19. Oktober 1971 (DÖV 1972, 712 ff) die Ansicht vertreten, die Entscheidung der Behörde gemäß § 131 Abs. 1 Satz 1 Abgabenordnung (AO) darüber, ob die Einziehung der Steuer nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre, sei von den Gerichten nach den für die Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen geltenden Grundsätzen zu prüfen. Dabei bestimme der Maßstab der Billigkeit Inhalt und Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens. § 131 AO sei eine sogenannte Koppelungsvorschrift, bei der der Begriff "unbillig" nicht losgelöst davon gewürdigt werden könne, daß er ein "Können" der Behörde zur Folge habe. Bei einer solchen Vorschrift könne nicht aufgrund dogmatischer Überlegungen von vornherein gesagt werden, ob sie in den Bereich der Ermessensbetätigung oder der Rechtsanwendung gehöre; dies sei vielmehr nur nach dem Sinn und Zweck der jeweiligen Bestimmung zu entscheiden. Hieraus und vor allem aus der Entstehungsgeschichte des § 131 AO ergebe sich, daß die Vorschrift vom Gesetzgeber als Ermessensvorschrift konzipiert und somit auch als solche angesehen werden müsse.
Dieser Rechtsauffassung des Gemeinsamen Senats hat sich der 5. Senat des BSG in seinen Urteilen vom 26. September 1972 (BSG 34, 269, 270 ff) sowie vom 29. Januar 1975 - 5 RKnU 12/74 - unveröffentlicht - für § 602 RVO bzw. § 628 RVO mit folgender Begründung angeschlossen: Der Gesetzgeber habe in § 602 RVO ausdrücklich eine "Kann-" und somit Ermessensleistung der Berufsgenossenschaften vorgesehen. Wolle man annehmen, daß der Begriff "Härtefall" ein unbestimmter, von den Gerichten voll überprüfbarer und zu konkretisierender Rechtsbegriff sei, so bleibe für ein Ermessen der Berufsgenossenschaften kein Raum. Es sei daher davon auszugehen, daß in § 602 RVO zwischen dem Begriff "Härtefall" und dem das Ermessen ausdrückende "Können" eine unlösbare Verbindung bestehe. Der Gesetzgeber habe eine Kannleistung vorgesehen, um die Möglichkeit zu eröffnen, in Härtefällen eine Leistung zu gewähren, so daß angenommen werden müsse, daß der Begriff "Härtefall" in den Ermessenbereich hineinrage und somit zugleich Inhalt und Grenzen der pflichtgemäßen Ermessensausübung bestimme (BSG 34, 269, 270, 271).
Demgegenüber vertritt der 9. Senat des BSG (BSG 36, 143, 144) den Standpunkt, ob die "besondere Härte" im Sinne des § 89 BVG als unbestimmter Rechtsbegriff zu werten sei oder - wie der Gemeinsame Senat zu § 131 AO sowie der 5. Senat des BSG zu § 602 RVO entschieden hätten - lediglich Inhalt und Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens bestimme, berühre die bisherige Rechtsprechung der für die KOV zuständigen Senate des BSG zu § 89 BVG im Ergebnis nicht; denn der BMA habe die vom BSG zum Begriff der "besonderen Härte" aus dem BVG abgeleiteten Beurteilungsmaßstäbe als "Rechtsgrundsätze" für die Ermessensausübung in seinem Rundschreiben vom 21. Oktober 1968 anerkannt.
Der erkennende Senat teilt die Auffassung des 2. Senats in dessen Urteil vom 16. Dezember 1970 (BSG 32, 169, 173), der die Kontroverse hinsichtlich der Auslegung des § 131 AO bereits vor der Entscheidung des Gemeinsamen Senats gesehen und dazu die Ansicht vertreten hat, dieser komme schon wegen der zwischen einem Härteerlaß nach § 131 AO und der Feststellung des JAV nach billigem Ermessen nach § 577 RVO nach Form, Inhalt und Zweck bestehenden unterschiedlichen Regelungen keine Bedeutung zu. Auch sei wegen der Gewährleistung eines möglichst lückenlos gerichtlichen Schutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) der Auslegung der Vorzug zu geben, welche die volle Nachprüfbarkeit ermögliche (vgl. die vom 2. Senat aaO S. 173 zitierten Entscheidungen: BVerfG 15, 275, 281; BVerwG 21, 184, 187; 26, 65, 74; 31, 149, 152; BFH 90, 461, 466). Diese Ansicht des 2. Senats wird von dem erkennenden Senat auch deswegen geteilt, weil § 131 Abs. 1 AO sich an die Eingriffsverwaltung richtet, während es sich bei § 577 RVO - wie allgemein in der gesetzlichen Unfallversicherung - um eine Vorschrift der Leistungsverwaltung handelt, die ganz speziell für den einzelnen Fall bestimmt, wie zu verfahren ist, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen, also nicht eine so generalisierende Regelung trifft wie § 131 AO (vgl. Müller-Helle in NJW 1973, 1063).
Mit Rücksicht darauf, daß der Gemeinsame Senat selbst erklärt hat, daß nicht für alle Vorschriften, in denen eine Verbindung zwischen einem unbestimmten Begriff und einem "Können" der Behörde hergestellt ist, von vornherein aufgrund dogmatischer Überlegungen gesagt werden kann, ob sie in den Bereich der Ermessensbetätigung oder der Rechtsanwendung gehören, vielmehr auf Sinn und Zweck der jeweiligen Bestimmungen abzustellen sei (vgl. Gemeinsamer Senat aaO), weicht der erkennende Senat nicht von der Entscheidung des Gemeinsamen Senats ab. Sein Rechtsstandpunkt steht deshalb auch nicht zu den genannten Entscheidungen des 5. Senats im Widerspruch, zumal sich weder der Wortlaut noch der Sinn und der Zweck des § 577 RVO mit denen der Vorschriften des § 602 RVO sowie § 628 RVO deckt. Eine "Unbilligkeit" bei der Feststellung des JAV i. S. des § 577 RVO ist dann gegeben, wenn der ermittelte JAV in einem offensichtlichen und erheblichen Widerspruch zu den tatsächlichen Verhältnissen steht (Brackmann, aaO., S. 572 l zu § 566 RVO aF; Schroeder-Printzen in SozSich 1963, 77, 79, ebenfalls zu § 566 RVO aF; so wohl auch Miesbach/Baumer, aaO, Anm. 4 zu § 577 RVO). Bei der Prüfung der Unbilligkeit dürfen außerdem die nach § 577 Satz 2 RVO bei der Feststellung des JAV zu beachtenden Gesichtspunkte - nämlich Fähigkeiten, Ausbildung, Lebensstellung des Verletzten, seine oder eine vergleichbare Tätigkeit - nicht unberücksichtigt bleiben (BSG 32, 169, 173; 36, 209, 221; BSG in SozR Nr. 2 zu § 577 RVO, Bl. Aa 3). Vielmehr kann die Frage der Unbilligkeit nur nach den besonderen Umständen des Einzelfalles entschieden werden (Brackmann, aaO, S. 576 f; Lauterbach, aaO, Anm. 3 zu § 577 RVO; Miesbach/Baumer, aaO, Anm. 6 zu § 577 RVO). Dabei ist jedoch zu beachten, daß die Vorschrift des § 577 RVO - wie bereits § 566 RVO aF - nur in Ausnahmefällen und mit Zurückhaltung anzuwenden ist (Brackmann, aaO, S. 576 f; Podzun, aaO; vgl. Begründung zum Gesetz vom 9.2.1942, AN 1942, 199, 200 zu Art. 1 Nr. 5 und Art. 2 § 4 am Ende; Jantz in AN 1942, 209, 215 oben). Denn sonst würden die §§ 571-576 RVO die ihnen zukommende Bedeutung verlieren (Brackmann, aaO, S. 576 f).
Der Senat verkennt nicht, daß die Grenze, ab wann ein JAV im o. a. Sinne nach § 577 RVO in erheblichem Maße unbillig ist, oft sehr schwierig zu ziehen ist. Dennoch ist der Senat unter Berücksichtigung der genannten Anhalts- und Beurteilungsgesichtspunkte der Auffassung, daß eine Unbilligkeit in erheblichem Maße nach § 577 RVO dann vorliegen könnte, wenn die als Fürsorgerin ausgebildete und examinierte Klägerin in der Kirchengemeinde eine verantwortungsvolle ehrenamtliche Tätigkeit - sei es auf fürsorgerischem oder erzieherischem Gebiet, z. B. als Leiterin des Kindergottesdienstes - ausgeübt und dieser Tätigkeit einen nicht unerheblichen Teil der ihr zur Verfügung stehenden Zeit gewidmet hätte.
In dieser Richtung haben indessen weder die Beklagte noch die Vorinstanzen Ermittlungen angestellt, obwohl im Klageverfahren vorgetragen worden ist, die Klägerin sei von der Kirchengemeinde u. a. deshalb in das Presbyterium gewählt worden, weil sie mit ihrer Berufsausbildung als Fürsorgerin über besondere Kenntnisse und Erfahrung verfüge und deshalb die Arbeit des Diakonieausschusses der Kirchengemeinde geleitet und Fürsorgearbeit ehrenamtlich ausgeübt habe (SG-Akten Bl. 2). Die Feststellung der Art, der Bedeutung sowie des zeitlichen Umfangs der Presbytertätigkeit der Klägerin ist jedoch für die Beantwortung der Frage unerläßlich, ob der von der Beklagten festgestellte JAV gerade unter Berücksichtigung der in § 577 Satz 2 RVO aufgeführten Kriterien - insbesondere der Ausbildung und der durch die frühere berufliche Beschäftigung erworbenen theoretischen und praktischen Fähigkeiten - in erheblichem Maße unbillig ist.
Das LSG wird daher zu ermitteln haben, welche Tätigkeiten die Klägerin seit 1968 als Presbyterin im einzelnen für die evangelische Kirchengemeinde O verrichtet und wieviel Zeit (Stundenzahl in der Woche oder im Monat) sie dafür aufgewendet hat. Anhand der gewonnenen Erkenntnisse wird das Berufungsgericht sodann zu entscheiden haben, ob im Falle der Klägerin die Zugrundelegung des Mindest-JAV in erheblichem Maße unbillig und dieser deshalb angemessen zu erhöhen ist.
Da die notwendigen Ermittlungen nicht von dem Revisionsgericht angestellt werden können, war der Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG an dieses zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen