Leitsatz (amtlich)
1. Zur Bedeutung des SGG § 161 Abs 4.
2. Lehnt ein Träger der gesetzlichen Rentenversicherung während eines Rechtsstreits die Vorlage von Übersetzungen der in den Verwaltungsakten enthaltenen fremdsprachigen Schriftstücke ab, so rechtfertigt dieser Umstand allein nicht eine Entscheidung zum Nachteil des Versicherungsträgers nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast.
Normenkette
SGG § 61 Abs 1 Fassung: 1953-09-03, § 103 Fassung: 1974-07-30, § 161 Abs 4 Fassung: 1974-07-30; GVG § 184 Fassung: 1975-05-09
Verfahrensgang
SG Augsburg (Entscheidung vom 27.03.1979; Aktenzeichen S 8 Ar It 853/78) |
Tatbestand
I
Streitig ist die Rechtmäßigkeit der Entziehung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU-Rente). Im Revisionsverfahren geht es speziell um die Frage, ob der beklagte Versicherungsträger von in seinen Verwaltungsakten enthaltenen fremdsprachigen Schriftstücken nach Klageerhebung Übersetzungen in die deutsche Sprache vorzulegen hat.
Der damals im Gebiet der B D wohnhaften und beschäftigten Klägerin wurde im wesentlichen wegen einer chronischen Lumbalgie infolge Wirbelgleitens durch Bescheid der Landesversicherungsanstalt (LVA) Württemberg vom 8. September 1972 für die Zeit ab 1. März 1972 BU-Rente bewilligt. Deren Zahlung übernahm nach der Rückkehr der Klägerin in ihre italienische Heimat die Beklagte. Sie veranlaßte im November eine Nachuntersuchung der Klägerin. Hierüber wurde der Beklagten von der Dienststelle C des I N d P S (I) das Gutachten vom 25. Februar 1978 sowie später ein weiteres Gutachten vom 6. Juni 1978 mit einem Röntgenbefundbericht vom 16. Dezember 1977 und einem Befundbericht des Prof. Dr. M vom 19. Dezember 1977 übersandt. Die Klägerin ihrerseits legte ein Attest des Prof. Dr. M (ohne Datum) vor. Sämtliche Schriftstücke waren in italienischer Sprache abgefaßt.
Aufgrund einer Stellungnahme ihres Medizinalreferenten, wonach sich die Beweglichkeit der Wirbelsäule gebessert habe und die Berufsunfähigkeit weggefallen sei, entzog die Beklagte der Klägerin nach deren Anhörung durch Bescheid vom 3. Juli 1978 die BU-Rente mit Ablauf des Monats August 1978.
Die Klägerin erhob Klage beim Sozialgericht (SG) Augsburg.
Dieses ersuchte die Beklagte um Vorlage von Übersetzungen der in italienischer Sprache abgefaßten Gutachten und Befundberichte. Dies lehnte die Beklagte "aus grundsätzlichen Erwägungen" ab; es sei Sache des SG, die Übersetzung zu veranlassen.
Mit Urteil vom 27. März 1979 hat das SG den Bescheid der Beklagten vom 3. Juli 1978 aufgehoben. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt:
Es habe nicht überprüft werden könne, ob die im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen den Erfordernissen des § 1286 Abs 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) entsprächen. Ob eine Leidensverbesserung eingetreten sei, könne nur ausnahmsweise allein nach Lage der Akten entschieden werden. Dann aber müsse eine besondere Sorgfalt bei der Auswertung fremdsprachiger Unterlagen obwalten. Diese Sorgfalt beginne bereits bei der umfassenden Übersetzung der vorliegenden medizinischen Unterlagen. Ohne derartige Übersetzungen sei dem Gericht eine Überprüfung nicht möglich. Denn die Gerichtssprache sei deutsch. Kenntnisse einer Fremdsprache könnten vom Gericht nicht erwartet werden. Vielmehr müsse die Beklagte in deutscher Sprache die Richtigkeit ihrer Entscheidungen nachweisen. Nicht hingegen könne sie dem Gericht die Auswahl der zu übersetzenden Schriftstücke überlassen. Im Verfahren vor dem SG als einem besonderen Verwaltungsgericht gehöre die Vorlage der Akten zum Vorbringen der Beklagten. Deswegen könne das Gericht eine vollständige Übersetzung der ihm vorgelegten Akten verlangen. Die Beklagte habe dies definitiv abgelehnt. Sie habe deswegen in Anbetracht der Verletzung ihrer unverzichtbaren Mitwirkungspflicht nach allgemeinen Beweislastregeln verurteilt werden müssen.
Das SG hat wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache die Sprungrevision zugelassen. Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel mit Zustimmung der Klägerin eingelegt. Zur Begründung trägt sie vor:
Das erstinstanzliche Verfahren weise Mängel auf. Das SG habe die Amtsermittlungspflicht nach § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und die Rechtsregeln über die objektive Beweislast verletzt. Es habe ferner dadurch gegen § 103 Satz 2 SGG verstoßen, daß es Umfang und Grenzen ihrer - der Beklagten - Mitwirkungspflicht zu weit gezogen habe. Angesichts der Steigerung der bei ihr als Verbindungsstelle zu Italien anfallenden Geschäftsvorgänge habe sie sich im Interesse der Versicherten zu der vom SG beanstandeten Lösung entschlossen, durch einen behördeninternen Übersetzungsdienst und ggf durch Einschaltung des Übersetzungsdienstes beim Sekretariat der Verwaltungskommission für die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer in Brüssel nur noch im Bedarfsfalle und in Zweifelsfällen Aktenteile übersetzen zu lassen. Das liege im Rahmen des ihr zustehenden Organisationsermessens und verstoße nicht gegen zwingende Normen des Verwaltungsverfahrensrechts. Davon abgesehen dürfe ein solcher Mangel des Verwaltungsverfahrens für sich allein nicht zur Aufhebung des angefochtenen Verwaltungsaktes führen. Im übrigen stelle das angefochtene Urteil im Ergebnis nichts anderes dar als eine unzulässige Zurückverweisung an die Verwaltung. Zwar habe das SG durch ein isoliertes Aufhebungsurteil den Bescheid vom 3. Juli 1978 beseitigt. Letztlich werde die Verwaltung hierdurch jedoch gezwungen, die begehrten Übersetzungen nachzuholen. Anderenfalls laufe sie Gefahr, daß ein neuer Entziehungsbescheid wiederum aufgehoben und sie damit zur Weiterzahlung der Rente aufgrund des ursprünglichen Bewilligungsbescheides verpflichtet werde, ohne daß die Rechtmäßigkeit des Entziehungsbescheides in sachlicher Hinsicht überprüft werde. Schließlich könnten die Hilfserwägungen des SG zur Mitwirkungspflicht und zu den Folgen ihrer Verletzung sowie zur objektiven Beweislast nicht durchzugreifen. Es sei schon zweifelhaft, ob sie - die Beklagte - bezüglich der geforderten Übersetzungen überhaupt zur Mitwirkung verpflichtet sei. Das SG könne die Übersetzungen selbst veranlassen. Dies sei auch zweckmäßiger. Im übrigen entbinde eine Verletzung der Mitwirkungspflicht eines Beteiligten das Gericht nicht von der Pflicht, die noch möglichen Ermittlungen selbst anzustellen. Erst nach Ausschöpfung aller zu Gebote stehenden Erkenntnisquellen könne der Grundsatz der objektiven Beweislast eingreifen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 27. März 1979 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und meint insbesondere, der Beklagten könne und müsse zur Vermeidung von Fehlerquellen eine Übersetzung fremdsprachiger Schriftstücke zugemutet werden.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 SGG erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die vom SG zugelassene und mit Zustimmung der Klägerin eingelegte Sprungrevision der Beklagten ist zulässig und im Sinne einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG begründet.
Die Beteiligten streiten in der Sache um die Rechtmäßigkeit des Bescheides der Beklagten vom 3. Juli 1978. Hierdurch ist der Klägerin die bis dahin gewährte BU-Rente mit Ablauf des Monats August 1978 entzogen worden. Rechtsgrundlage hierfür ist § 1286 Abs 1 Satz 1 RVO. Danach wird, wenn der Empfänger einer Rente wegen Berufsunfähigkeit oder wegen Erwerbsunfähigkeit infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr berufsunfähig ist, die Rente entzogen.
Ob die Voraussetzungen für eine Entziehung der Rente der Klägerin erfüllt sind, kann der Senat nicht abschließend entscheiden. Hierzu bedarf es weiterer tatsächlicher Feststellungen. Das SG hat sie, nachdem die Beklagte eine Übersetzung der in ihren Akten enthaltenen fremdsprachigen Schriftstücke in die deutsche Sprache abgelehnt hatte, nicht vorgenommen. Das ist rechtsfehlerhaft gewesen.
Dabei ist es dem Senat allerdings verwehrt, der von der Beklagten erhobenen Rüge einer Verletzung des § 103 SGG nachzugehen. Dem steht § 161 Abs 4 SGG entgegen. Hiernach kann die Sprungrevision nicht auf Mängel des Verfahrens gestützt werden.
Was unter "Mängeln des Verfahrens" im Sinne des § 161 Abs 4 SGG zu verstehen ist, ist durch die Rechtsprechung weitgehend geklärt worden. Zunächst sind darunter nur solche des gerichtlichen Verfahrens zu verstehen. Mängel des Verwaltungsverfahrens fallen nicht unter § 161 Abs 4 SGG; auf sie kann die Sprungrevision gestützt werden (so für den Fall einer Verletzung des § 34 des Sozialgesetzbuchs, Erstes Buch, Allgemeiner Teil - SGB 1 - Urteil des Bundessozialgerichts -BSG- vom 1. März 1979 - 6 RKa 17/77 -; insoweit in SozR 1200 § 34 Nr 8 nicht abgedruckt). Ferner gehören zu den Mängeln des Verfahrens nur solche, die das eigentliche "Prozedieren" des erstinstanzlichen Gerichts betreffen. Von ihnen zu unterscheiden sind diejenigen Verstöße gegen das Prozeßrecht, die sich lediglich als prozessuale Konsequenz aus der (fehlerhaften) materiell-rechtlichen Beurteilung des Erstgerichts ergeben. Auch auf sie kann die Sprungrevision gestützt werden (so für den Fall des Erlasses eines Prozeßurteils statt eines Sachurteils wegen fehlerhafter Verneinung der Voraussetzungen des § 42 Abs 2 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO -; BVerwG Buchholz 310 § 134 VwGO Nr 20 = NJW 1979, 1421; vgl auch Baumbach-Lauterbach-Albers-Hartmann, Zivilprozeßordnung, 38. Aufl 1980, § 566a Anm 2, unter Hinweis auf RG JW 1932, 1016). Schließlich bezieht sich § 161 Abs 4 SGG - wie das Reichsgericht (RG) zu der ihm entsprechenden Vorschrift des § 566a Abs 3 (seit Neufassung der Vorschrift durch das Gesetz zur Änderung des Rechts der Revision in Zivilsachen vom 8. Juli 1975 - BGBl I S 1863 -: § 566a Abs 3 Satz 2) der Zivilprozeßordnung (ZPO) ausgesprochen hat - nicht auf Verfahrensmängel, die in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten sind. Derartige Mängel können demnach auch mit der Sprungrevision geltend gemacht werden (so für die Voraussetzungen einer Feststellungsklage RGZ 151, 65, 66; für die Zulässigkeit des Rechtsweges RGZ 154, 144, 147; vgl auch Zeihe SGb 1979, 429 f).
Für den Fall, daß die Sprungrevision auf nicht von Amts wegen zu beachtende Mängel des gerichtlichen Verfahrens gestützt wird, werden Bedeutung und Wirkung des § 161 Abs 4 SGG bzw der ihm entsprechenden Vorschriften anderer Verfahrensordnungen - wenn überhaupt - unterschiedlich bewertet. Klinger (Verwaltungsgerichtsordnung, 2. Aufl 1964 § 134 Anm D 3) sieht in § 134 Abs 3 Satz 1 VwGO offenbar eine der Voraussetzungen, von denen das Gesetz die Zulässigkeit der Sprungrevision abhängig macht, mit der Folge, daß die auf Verfahrensmängel gestützte Sprungrevision als unzulässig verworfen werden muß. Ähnlicher Auffassung scheint der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GemSOGB) zu sein; nach seinem Beschluß vom 16. März 1976 (SozR 1500 § 161 Nr 18 S 38 unten) kann im Falle der Sprungrevision eine Begründetheit der Revision nur die Folge einer abweichenden Würdigung materiell-rechtlicher Fragen sein. Peters-Sautter-Wollf (Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, § 161, Anm II 1, S III/80-34/55-) entnehmen dem § 161 Abs 4 SGG lediglich, daß bei Verfahrensmängeln die Sprungrevision nicht zugelassen werden darf; darauf, daß dies sich schon aus § 161 Abs 2 Satz 1 SGG ergibt, wird nicht eingegangen. Rohwer-Kahlmann (Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, § 161, Anm 77) und Meyer-Ladewig (Sozialgerichtsgesetz, 1977, § 161 Anm 10, S 712) beschränken sich neben einem Hinweis auf die Besonderheiten bei von Amts wegen zu beachtenden Verfahrensmängeln im wesentlichen auf die Wiedergabe des Textes des § 161 Abs 4 SGG; die Rechtsfolgen für den Fall, daß eine Sprungrevision auf andere Mängel des Verfahrens gestützt wird, bleiben unerörtert. Für den Zivilprozeß hingegen ist diese Frage vom RG entschieden worden. Nach seinem Urteil vom 24. November 1938 (RGZ 158, 318, 319 f) wird durch § 566a Abs 3 (jetzt Satz 2) ZPO keine Prozeßvoraussetzung der Revision, sondern ein Erfordernis ihrer sachlichen Begründetheit geschaffen. Wird daher in der durch § 554 Abs 3 ZPO vorgeschriebenen Form die Sprungrevision lediglich mit der Behauptung eines Verfahrensverstoßes begründet, auf den sie nach § 566a Abs 3 ZPO nicht gestützt werden kann, so ist sie gleichwohl zulässig und nicht ohne jede Sachprüfung zu verwerfen. Der geltend gemachte Revisionsgrund ist nur ungeeignet, der Revision zum Erfolg zu verhelfen. Wird sie auf die Verletzung von Normen des Verfahrensrechts gestützt, so ist sie sachlich unbegründet. Dieser Auffassung haben sich Grunsky (in Stein-Jonas, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 20. Aufl 1977, § 566a, Randnote 10) und Baumbach-Lauterbach-Albers-Hartmann (aaO) angeschlossen.
Der Senat neigt zu der Ansicht, daß die vom RG zu § 566a Abs 3 (jetzt Satz 2) ZPO entwickelten Grundsätze auch für § 161 Abs 4 SGG zu gelten haben. Dies bedarf hier jedoch keiner abschließenden Entscheidung. Denn die Frage, ob aufgrund des § 161 Abs 4 SGG eine auf Mängel des Verfahrens gestützte Sprungrevision unzulässig oder aber dem Revisionsgericht lediglich eine sachliche Überprüfung der geltend gemachten Verfahrensmängel verwehrt ist, stellt sich nur dann, wenn die Sprungrevision ausschließlich auf nicht von Amts wegen zu beachtende Verfahrensmängel gestützt wird. Hingegen ist sie unerheblich, wenn prozeßordnungsgemäß (vgl § 164 Abs 2 Satz 3 SGG) zugleich ein von Amts wegen zu berücksichtigender Verfahrensmangel geltend gemacht oder die Verletzung sachlichen Rechts gerügt wird. In diesem Fall kann § 161 Abs 4 SGG lediglich zur Folge haben, daß das Revisionsgericht über die Rüge solcher Verfahrensmängel, die nicht von Amts wegen zu berücksichtigen sind, nicht sachlich entscheiden muß. Hingegen kann es nicht die Revision insoweit verwerfen und im übrigen über sie sachlich entscheiden. Über ein Rechtsmittel, soweit es nicht verschiedene prozessuale Ansprüche betrifft, kann nur einheitlich entweder durch Prozeßurteil oder durch Sachurteil entschieden werden.
Das gilt auch im vorliegenden Fall. Die Beklagte hat ihre Sprungrevision nicht nur auf (nicht von Amts wegen zu beachtende) Verfahrensmängel gestützt. Sie hat auch die Verletzung sachlichen Rechts gerügt. Nach ihrem Revisionsvorbringen hat das SG nicht nur gegen § 103 SGG verstoßen, sondern auch die "Rechtsregeln über die objektive Beweislast" verletzt. Der Grundsatz der objektiven Beweislast gehört dem materiellen Recht an (Meyer-Ladewig, aaO, § 103, Anm 19). Zwar steht er insofern in engem Zusammenhang mit dem Verfahrensrecht, als seine Anwendung erst dann in Betracht kommt, wenn trotz Ausschöpfung aller Mittel zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 103 SGG) die Ungewißheit über eine unter den Beteiligten streitige Tatsache nicht hat beseitigt werden können (vgl BSGE 19, 52, 53; 30, 121, 123 = SozR Nr 83 zu § 128 SGG). Die Frage der Beweislastverteilung als solche kann jedoch nicht schlechthin der Verfahrensordnung entnommen werden. Sie ist vielmehr dem jeweils maßgebenden materiellen Recht zu entnehmen (BSGE 6, 70, 73). Insofern handelt es sich um eine "materielle Beweislast" im Gegensatz zu der dem sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich fremden prozessualen "Beweisführungslast" (vgl BSGE 19, 52, 53).
Hat somit die Beklagte ihre Sprungrevision auch auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützt, so kommt eine Verwerfung der Revision nicht in Betracht. Aufgrund des § 161 Abs 4 SGG ist es dem Senat lediglich verwehrt, über die Rüge einer Verletzung des § 103 SGG sachlich zu entscheiden. Sie betrifft einen Verfahrensmangel, der nicht von Amts wegen zu berücksichtigen ist. Zu den von Amts wegen zu beachtenden Verfahrensmängeln gehören Verstöße gegen prozeßrechtliche Grundsätze, welche im öffentlichen Interesse zu beachten sind und deren Befolgung dem Belieben der Beteiligten entzogen ist; dabei ist unerheblich, ob der Mangel nur das Revisionsverfahren oder schon das Klageverfahren oder Berufungsverfahren betrifft (BSGE 2, 225, 227 und 245, 253 f; 25, 235, 236). Dazu rechnen ua die Unzulässigkeit des Rechtsweges (BSGE 2, 23, 26; 8, 3, 9; 11, 63, 64; 25, 235, 236 mwN), die Unzulässigkeit der Klage oder Berufung (BSGE 16, 21, 23; 19, 164, 166), das Fehlen des Rechtsschutzbedürfnisses (BSG SozR 2200 § 352 Nr 2 S 6 mwN) oder das Unterlassen einer notwendigen Beiladung (vgl zuletzt Urteil des BSG vom 30. Januar 1980 - 12 RK 58/78 - mwN). Verletzungen des § 103 SGG gehören nicht hierher. Zwar kommt dem darin festgelegten Grundsatz der Amtsermittelungspflicht eine erhebliche Bedeutung für das sozialgerichtliche Verfahren zu. Gleichwohl sind Verletzungen dieses Grundsatzes nur auf ausdrückliche Rüge des Beschwerten zu berücksichtigen und damit im Verfahren der Sprungrevision gemäß § 161 Abs 4 SGG unbeachtlich.
Hingegen greift die von der Beklagten erhobene Sachrüge einer Verletzung des Grundsatzes der objektiven Beweislast durch. Das SG hat den Anwendungsbereich dieses Grundsatzes verkannt.
Nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast sind die Folgen der objektiven Beweislosigkeit oder des Nichtfestgestelltseins einer Tatsache von demjenigen Beteiligten zu tragen, der aus dieser Tatsache ein Recht herleiten will. Welcher Beteiligte dies ist, wie also die objektive Beweislast sich verteilt, ist der für den Rechtsstreit erheblichen Norm des materiellen Rechts zu entnehmen (vgl BSGE 6, 70, 72 f; 15, 112, 114; 19, 52, 53; 30, 121, 123 = SozR Nr 83 zu § 128 SGG). Insofern hat das SG zutreffend erkannt, daß im vorliegenden Fall bei Anwendbarkeit des Grundsatzes der objektiven Beweislast diese die Beklagte treffen würde. Sie leitet daraus, daß sich der Gesundheitszustand der Klägerin angeblich gebessert hat, auf der Grundlage des § 1286 Abs 1 Satz 1 RVO ihre Berechtigung zur Entziehung der der Klägerin bewilligten BU-Rente her. Nicht gefolgt werden kann dem SG aber darin, daß der Grundsatz der objektiven Beweislast vorliegend bereits Anwendung finden kann. Dies ist nach ständiger Rechtsprechung des BSG erst nach Ausschöpfung aller verfügbaren Erkenntnisquellen (vgl BSGE SozR 2200 § 317 Nr 2 S 2) der Fall. Der Grundsatz der objektiven Beweislast enthebt den Tatrichter nicht seiner insbesondere durch §§ 103 und 128 Abs 1 SGG begründeten Pflicht zur eingehenden Erforschung des Sachverhalts und zur sorgfältigen Würdigung der erhobenen Beweise unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalles. Die Frage der Beweislastverteilung stellt sich erst dann, wenn es nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhaltes nicht gelungen ist, die bestehende Ungewißheit über eine unter den Beteiligten streitige Tatsache zu beseitigen (BSGE 19, 52, 53; 27, 40, 42; 30, 121, 123 = SozR Nr 83 zu § 128 SGG).
Im vorliegenden Fall hat das SG nicht alle Möglichkeiten zur Sachaufklärung ausgeschöpft. Es hat sich zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 3. Juli 1978 außerstande gesehen, weil dies nur nach Übersetzung der in den Verwaltungsakten der Beklagten befindlichen fremdsprachigen Schriftstücke möglich sei und die Beklagte eine Vorlage von Übersetzungen verweigert habe. Daß das SG die Übersetzung der fremdsprachigen Schriftstücke für erforderlich gehalten hat, hält sich im Rahmen des ihm nach § 128 Abs 1 Satz 1 SGG zustehenden Rechtes der freien Überzeugungsbildung und ist im Revisionsverfahren nicht nachzuprüfen. Dann aber hat das SG nicht alle Möglichkeiten erschöpft, um in den Besitz von Übersetzungen zu gelangen. Diese können nicht nur von dem Sprachendienst der Beklagten gefertigt werden. Vielmehr kommen hierfür auch gerichtlich bestellte Dolmetscher und Übersetzer für die italienische Sprache, Übersetzungsbüros, Fremdsprachendienste und ähnliche Einrichtungen in Betracht. Das SG hat, nachdem die Beklagte die Vorlage von Übersetzungen verweigert hatte, keine dieser in Betracht kommenden Personen oder Institutionen mit der Übersetzung der fremdsprachigen Schriftstücke beauftragt.
Dies hätte es jedoch aufgrund seiner Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen tun müssen. Vorher ist für eine abschließende Sachentscheidung und Heranziehung des Grundsatzes der objektiven Beweislast kein Raum.
Daran ändert nichts, daß die Gerichtssprache deutsch ist (§ 61 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 184 des Gerichtsverfassungsgesetzes - GVG - ). Letztere Vorschrift bezieht sich nach ihrem Wortsinn und Zweck nur auf die Verhandlung und die Schriftsätze der Parteien bei Gericht sowie auf die Verhandlung des Gerichts und seine Urteile, Beschlüsse und Verfügungen. Hingegen schließt sie die Vorlage und Verwendung sonstiger Urkunden, die in einer fremden Sprache abgefaßt sind, nicht aus (RGZ 162, 282, 288). Allerdings kann das Gericht die Beibringung einer Übersetzung dieser Urkunden verlangen (§ 142 Abs 3 ZPO). Dies kann jedoch nicht erzwungen werden. Anders als im zivilgerichtlichen Verfahren (vgl Baumbach-Lauterbach- Albers-Hartmann, aaO, § 142 Anm 3) kann die Nichtbeibringung der Übersetzung auch nicht dazu führen, daß die Urkunde unberücksichtigt bleibt. Vielmehr ist in diesem Fall gemäß § 103 SGG das Gericht gehalten, von sich aus die Übersetzung zu veranlassen.
Das angefochtene Urteil beruht somit auf einer unrichtigen Anwendung des Grundsatzes der objektiven Beweislast. Schon aus diesem Grunde ist es aufzuheben. Auf die von der Beklagten erhobene weitere Rüge, das SG habe unzulässigerweise die Sache an die Verwaltung zurückverwiesen, braucht nicht mehr eingegangen zu werden.
Der Senat kann nicht abschließend entscheiden. Hierzu bedarf es weiterer Feststellungen zu der Frage, ob die Klägerin nicht mehr berufsunfähig und daher die Entziehung ihrer Rente gerechtfertigt ist. Diese Feststellungen liegen auf tatsächlichem Gebiet. Sie sind vom SG nachzuholen. Zu diesem Zweck ist der Rechtsstreit an das SG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Dieses wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 1665996 |
Breith. 1981, 180 |