Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweiswürdigung. Zeugenaussagen in anderen Gerichtsverfahren. Versagungsgründe bei Opfern von Gewalttaten. Schlägerei. "unbillig"
Leitsatz (amtlich)
Entschädigungsausschließend nach OEG § 2 kann die leichtfertige (fahrlässige) Beteiligung des Geschädigten an einer Schlägerei sein.
Dem steht Art 69 Buchst e und f des Übereinkommens Nr 102 der Internationalen Arbeitsorganisation über die Mindestnormen der Sozialen Sicherheit nicht entgegen.
Orientierungssatz
1. Die in anderen Gerichtsverfahren gehörten Zeugen können grundsätzlich im Wege des Urkundenbeweises gewürdigt werden. Allerdings erübrigen solche Feststellungen eigene Ermittlungen nur, wenn der Amtsaufklärungspflicht genügt ist und die Beteiligten die Beweisaufnahme auch im sozialgerichtlichen Verfahren gelten lassen wollen. Sind sie damit nicht einverstanden, beantragen sie vielmehr die Einvernahme von Zeugen, ist eine neue Beweisaufnahme unter den entschädigungsrechtlichen Gesichtspunkten durchzuführen (vgl BSG 1976-05-20 8 RU 98/75 = Breith 1977, 25).
2. Zur Auslegung des Begriffs "unbillig" iS des OEG § 2 Abs 1 Alt 2.
Normenkette
OEG § 2 Abs 1 Fassung: 1976-05-11; IAOÜbk 102 Art 69 Buchst e; IAOÜbk 102 Art 69 Buchst f; SGB 1 § 5 Fassung: 1975-12-11; SGG § 128 Abs 1 S 1 Fassung: 1953-09-03; OEG § 2 Abs 1 Alt 2 Fassung: 1976-05-11; RVO § 192 Fassung: 1969-06-25; OEG § 2 Abs 1 Alt 1 Fassung: 1976-05-11
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 20.09.1979; Aktenzeichen L 2 V 102/79) |
SG Schleswig (Entscheidung vom 07.03.1979; Aktenzeichen S 7 VG 107/78) |
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt Versorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG) vom 11. Mai 1976 (BGBl I S 1181), geändert durch das Gesetz vom 10. August 1978 (BGBl I S 1217).
Der Kläger hatte an einer Musikveranstaltung in einem Zelt teilgenommen. Am Ende der Veranstaltung strebte er eilig dem Ausgang zu. Dabei will er über einen Balken gestolpert sein. Beim Hinstürzen stieß er die beiden vor ihm gehenden Personen, darunter O., auseinander. Hierauf kam es zwischen dem Kläger und O. zu einem Wortwechsel, wobei beide sich gegenseitig Prügel angeboten haben sollen. Jedenfalls hat sich der Kläger in dieser Richtung geäußert. Am Zeltausgang - so der Kläger - habe er O. gesagt, er wolle mit ihm nichts zu tun haben. Er habe ihn dann mit der Hand beiseitegeschoben. Nach dem Verlassen des Zeltes warf O. eine halbgefüllte Bierflasche nach dem Kläger. Dieser wurde am Kopf getroffen. Ein Glassplitter drang in das linke Auge und durchtrennte den Augapfel. Das Sehvermögen ist auf diesem Auge verloren.
Das Schöffengericht verurteilte O. wegen schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten und setzte die Strafe zur Bewährung aus.
Die Versorgungsverwaltung gab dem Antrag des Klägers, ihm Versorgung nach dem OEG zu gewähren, nicht statt (Bescheid vom 16. September 1977; Widerspruchsbescheid vom 8.Mai 1978). Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat ausgeführt, der Kläger habe die überwiegende Bedingung für die Schädigung selbst gesetzt. Das ergebe sich aus der Tatsache, daß der Kläger für sein Anrempeln infolge Stolperns kein entschuldigendes Wort gefunden habe, wohl aber auf O's Vorschlag, eine Schlägerei anzufangen, eingegangen sei und O. ziemlich heftig aus dem Zeltausgang herausgedrückt habe. Zudem sei eine Entschädigungsleistung nach dem OEG unbillig. Der Kläger habe nicht alles getan, um eine tätliche Auseinandersetzung zu vermeiden. Eine weitere Sachaufklärung sei nicht erforderlich gewesen, da es entscheidend auf das Verhalten des Klägers ankomme. Dieses stehe nach seinen eigenen Angaben fest.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger, das LSG habe zur Frage, ob er den Schaden wesentlich mitverursacht habe, die Sachaufklärungspflicht verletzt. Insbesondere sei der Zeuge G, der bereits im Berufungsverfahren benannt worden sei, nicht vernommen worden.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen Urteile sowie der zugrunde liegenden Verwaltungsbescheide zu verurteilen, ihm Versorgung nach dem OEG zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers hat Erfolg. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Der auf § 1 Abs 1 Satz 1 OEG gestützte Anspruch auf Versorgung ist grundsätzlich zu bejahen, da der Kläger infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Der Schädiger O. ist wegen schwerer Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten mit Bewährung verurteilt worden. Jedoch sind gem § 2 Abs 1 OEG Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren.
Das LSG hat solche Versagungsgründe als gegeben erachtet und Entschädigungsansprüche des Klägers nach dem OEG verneint. Dazu hat es die Rechtsansicht vertreten, der Kläger habe die Schädigung selbst verursacht. Dieser Tatbestand wäre erfüllt, wenn dem Verhalten des Klägers eine wesentliche Bedeutung im Sinne der im Versorgungsrecht geltenden Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung zukommen sollte. Diese Verursachungsnorm gilt auch im Recht der Opferentschädigung (vgl dazu das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des erkennenden Senats vom 7. November 1979 - 9 RVg 2/78 -). Danach ist eine Ursache wesentlich, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolgs im Verhältnis zu den übrigen Umständen mindestens annähernd gleichwertig ist (vgl BSGE 1, 72, 76, 157, 270; 33, 202, 204). Unter dieser Voraussetzung ist eine Mitursache Ursache im Rechtssinne. Demgegenüber ist der Gesetzgeber der Vorstellung des Bundesrats, für den Leistungsausschluß von dem im Versorgungsrecht geltenden Prinzip der wesentlichen Bedingung abzugehen, weil dies praktisch nur die Lösung "alles oder nichts" zulasse, und statt dessen auf den Grad des Mitverschuldens abzustellen, nicht gefolgt (vgl BR 7. Wahlperiode Drucks 87/76 = BT-Drucks 7/4804).
Die bisherigen tatsächlichen Feststellungen reichen nicht aus, um eine wesentliche Mitverursachung der Schädigung durch den Kläger annehmen zu können. Der Kläger macht zutreffend den Vorwurf der mangelnden Sachaufklärung (§ 103 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) geltend, indem er vorbringt, das LSG hätte den Sachverhalt von sich aus weiter aufklären und den Zeugen G vernehmen müssen. Dann hätte sich ergeben - so der Kläger -, daß O. zuerst Prügel angeboten und außerdem der Kläger den O. vom Zeltausgang nur weggedrückt habe. Damit bringt der Kläger zum Ausdruck, bei der Beweiswürdigung seien Tatsachen unbeachtet geblieben; das LSG habe nicht aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens entschieden (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG; vgl BSG SozR Nr 40 und 56 zu § 128 SGG). Diese beiden vom Kläger vorgebrachten Tatsachen waren von der Rechtsauffassung des LSG her, die für die Beurteilung des Verfahrensfehlers maßgebend ist (BSGE 2, 84, 87), rechtserheblich. Das Berufungsgericht sieht den Versagungsgrund in dem Verhalten des Klägers, das - so hebt es hervor - nach seinen Angaben feststehe und von deren Richtigkeit es ausgehe. Indes bleibt im Tatbestand des angefochtenen Urteils die Frage offen, wer von beiden dem anderen - Kläger oder O. - zuerst Prügel angeboten hatte. Die in den Entscheidungsgründen gebrauchte Formulierung "der Kläger habe diesem - gemeint O. - ebenfalls Prügel in Aussicht gestellt" läßt nicht mit der erforderlichen Klarheit erkennen, daß damit das LSG den Angaben des Klägers, O. habe sich zuerst auf diese Weise geäußert, gefolgt ist. Außerdem hält es das LSG für wesentlich, daß der Kläger den O. aus dem Zeltausgang gestoßen habe. Dies folgert das Berufungsgericht aus der Tatsache des Flaschenwurfes vor dem Zelt. Eine solche Schlußfolgerung ist nicht zwingend. Zudem ist das LSG bei Annahme dieses Sachverhalts im Gegensatz zu seiner Darstellung den Angaben des Klägers, die es seiner Entscheidung zugrundegelegt haben will, gerade nicht gefolgt. Der Kläger will nämlich O. nur "weggeschubst" und dabei geäußert haben, "er wolle mit O. nichts zu tun haben". Eine solche Verhaltensweise könnte geeignet sein, bis zu diesem Augenblick von einer bloß verbalen Auseinandersetzung auszugehen und die bisherige rechtliche Beurteilung des klägerischen "Tatbeitrages" aufzugeben. Jedenfalls kann aufgrund dessen nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, der Kläger habe eine wesentliche Bedingung für den Eintritt der Schädigung selbst gesetzt. Soweit er zuvor den O. belästigt hatte, könnte dieses - zumindest anfänglich unbeabsichtigte - Verhalten auch objektiv von geringem Gewicht gewesen sein und in keinem Verhältnis zur Aggressivität des O. gestanden haben. Auch wird bei der Gesamtwürdigung nicht unbeachtet bleiben dürfen, daß O. dem wesentlich älteren Kläger - der Kläger ist nahezu doppelt so alt - zuerst Prügel angeboten haben soll. Sollte sich dies als zutreffend erweisen, dann mag es auch als verständlich erscheinen, daß der Kläger eine Entschuldigung für das vorangegangene Zurseitestoßen - bedingt durch das angebliche Stolpern - unterließ. Ferner wird aufzuklären sein, weshalb O. dem Kläger beim Verlassen des Zeltes im Wege gestanden haben soll. Hiervon ausgehend müßte O. dem Kläger nicht nur gefolgt sein, sondern ihn - der in Eile war - sogar überholt haben. Daraus ließe sich auf die Absicht des O. schließen, dem Kläger in massiver Weise tätlich zu begegnen. Zudem könnte das Einschlagen des O. auf den nach dem Flaschenwurf verteidigungsunfähigen Kläger dessen besondere Aggressivität verdeutlichen. Schließlich scheint für die Frage der Mitverursachung besonders bedeutsam zu sein, was der Zeuge G im Strafverfahren über den Tathergang vor dem Zelt bekundet hat. Insbesondere gilt dies, wenn O. den Kläger erst mit der Flasche verletzte, als die vorausgegangene Auseinandersetzung zwischen beiden als bereits abgeschlossen zu beurteilen war. In diesem Zusammenhang wäre noch zu erörtern, ob die Verletzung den Kläger völlig unerwartet traf. So könnte O. den Kläger nach einem gewissen Intervall erneut angegriffen haben, nachdem für den Kläger und einen außenstehenden Beobachter der bis dahin verhältnismäßig harmlos verlaufene Zwist als beendet anzusehen war. Dann wäre der plötzliche Überfall, durch den der Kläger verletzt wurde, als selbständige, überragende Ursache der Schädigung zu werten.
Das Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) findet nur eine ausreichende und umfassende Berücksichtigung, wenn die beigezogenen Strafverfahrensakten verwertet werden. Dies ist nicht geschehen. Die in anderen Gerichtsverfahren gehörten Zeugen können grundsätzlich im Wege des Urkundenbeweises gewürdigt werden. Allerdings erübrigen solche Feststellungen eigene Ermittlungen nur, wenn der Amtsaufklärungspflicht genügt ist und die Beteiligten die Beweisaufnahme auch im sozialgerichtlichen Verfahren gelten lassen wollen. Sind sie damit nicht einverstanden, beantragen sie vielmehr die Einvernahme von Zeugen, wie seitens des Klägers im Berufungsverfahren geschehen, ist eine neue Beweisaufnahme unter den entschädigungsrechtlichen Gesichtspunkten durchzuführen (BSG SozSich 76, 312 = Breithaupt 1977 S 25). Eine solche wird das LSG nachzuholen haben.
Als weiteren Versagungsgrund führt das Berufungsgericht die zweite Alternative des § 2 Abs 1 OEG an. Danach steht Versorgung nicht zu, wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Diese Tatbestandsvoraussetzungen sieht das LSG als erfüllt an. Der Kläger habe nämlich - so das LSG - nicht alles Erforderliche getan, um die tätliche Auseinandersetzung zu vermeiden; er habe sich also nicht so verhalten, wie es die Allgemeinheit unter den besonderen Umständen erwarten durfte. Damit hat das Berufungsgericht den Maßstab des unbestimmten Rechtsbegriffs "unbillig" nicht zutreffend angewandt. Unter welchen Voraussetzungen eine solche Unbilligkeit anzunehmen ist, beantwortet sich nach dem Normzweck des Gesetzes. Danach werden Entschädigungsleistungen gewährt, weil die staatliche Gemeinschaft für die Folgen einer Gesundheitsschädigung einsteht, die durch eine Gewalttat verursacht wurde. Dies folgt aus dem rechtsstaatlichen Grundsatz, daß der Staat ein Monopol für die Verbrechensbekämpfung hat. Er ist für den Schutz der Bürger vor kriminellen Handlungen verantwortlich. Versagen seine Schutzvorkehrungen, hält sich die staatliche Gemeinschaft zur Hilfeleistung für verpflichtet. Die unschuldigen Opfer von Gewalttaten sind gegen die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Straftat weitgehend sicherzustellen (Begründung des Regierungsentwurfs zum OEG, BT-Drucks 7/2506, I, A, S 7 f, II, A, S 10). Demgemäß ist eine Opferentschädigung - weil unbillig - zu versagen, wenn Eigenarten des Einzelfalles eine staatliche Hilfe nach den Vorschriften des § 1 OEG iVm §§ 1, 9, 30 f, 38 f Bundesversorgungsgesetz -BVG- als sinnwidrig und damit als ungerecht bewerten lassen (Urteil des erkennenden Senats aaO).
Da der zweite Versagungsgrund "unbillig" unmittelbar an die erste Alternative des § 2 Abs 1 Satz 1 OEG der "Verursachung" anknüpft, wie die Wortfassung "insbesondere" verdeutlicht, kommt beiden Alternativen in der Gewichtigkeit eine zumindest annähernd gleichwertige Bedeutung zu, Infolgedessen sind Versorgungsleistungen nicht gerechtfertigt, wenn tatbezogene Umstände, so etwa ein Mitverschulden oder auch eine Selbstschädigung den gleichen Rang wie eine Mitverursachung erreicht haben. Bei diesen Gegebenheiten ist der Entschädigungszweck des Gesetzes, unschuldigen Opfern von Gewalttaten zu helfen, nicht mehr zu erfüllen. Vielmehr könnten dann die Wohltaten des Gesetzes sogar (auch) dem Täter zugute kommen. Mithin ist ein tatförderndes Verhalten nicht schlechthin in jedem Falle leistungsausschließend, sondern nur, wenn es schwer wiegt und vorwerfbar ist. Diese Voraussetzungen sind im allgemeinen gegeben, wenn sich der Geschädigte nach den besonderen Umständen des Falles leichtfertig (vgl Schoreit/Düsseldorf, Das OEG § 2 Abs 1 RdNr 19) an einer Schlägerei beteiligt. Dabei ist der Begriff der Beteiligung allerdings weit zu fassen; er erstreckt sich auch auf denjenigen, der ohne jeglichen tätlichen Angriff in feindseliger Weise bzw Absicht - etwa durch Zuruf oder Abhalten von Nothelfern - "mitmischt" (BSGE 34, 26, 27 f mwN.). Hierin rechnet also jede psychische oder physische Mitwirkung des in das Geschehen Mitverwickelten ("Leipziger Kommentar" zum StGB 9.Aufl § 227 RdNr 7). Jedoch hat es auf die Teilnehmerzahl des an einer gegensätzlichen Tätlichkeit ausartenden Streits nicht anzukommen. Unter Schlägerei ist nach der Rechtsprechung zu § 192 Reichsversicherungsordnung -RVO- aF auch die tätliche Auseinandersetzung unter mindestens zwei Personen zu verstehen (BSG SozR Nr 2 zu § 192 RVO; BSGE 34, 26 mwN). Nach dieser Vorschrift konnte Versicherten Krankengeld für eine Krankheit versagt werden, die sie sich vorsätzlich oder durch schuldhafte Beteiligung bei Schlägereien oder Raufhändeln zugezogen hatten. Für das Verständnis des § 192 RVO aF war von der gesetzgeberischen Überlegung auszugehen, daß zu Lasten der Solidargemeinschaft derjenige Versicherte keine Barleistungen aus Anlaß der Krankheit erhalten sollte, der die Krankheit hätte vermeiden können und müssen. Damit sollte das Risiko einer vorhersehbaren und vermeidbaren Gesundheitsschädigung von der Versichertengemeinschaft ferngehalten werden (BSGE 34, 27).
Dieser zu § 192 RVO aF entwickelte Grundgedanke ist bedenkenlos auf die Versagungstatbestände des § 2 Abs 1 OEG zu übertragen. Hier wie dort soll die jeweils zuständige Gemeinschaft von einer Haftung freigestellt bleiben, sofern für die Gesundheitsschädigung ein entsprechendes Maß an Selbstverschulden des Geschädigten verantwortlich ist. Der Geschädigte rechnet damit nicht - mehr - zu dem schutzwürdigen Personenkreis. Eine andere Beurteilung ist nicht deshalb angezeigt, weil der Verschuldensmaßstab des § 192 RVO geändert worden ist. Nach der seit dem 1. Januar 1972 geltenden Fassung des § 192 RVO gilt nur noch die vorsätzliche Zuziehung der Krankheit als Versagungsgrund. Die genannte Gesetzesänderung trat durch § 83 Nr 1 des Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte (KVLG) vom 10. August 1972 (BGBl I S 1433) ein. In der Begründung des Regierungsentwurfes (zu dem ursprünglich im Entwurf vorgesehenen § 75, nunmehr § 89) heißt es, die ursprüngliche Bestimmung widerspreche dem Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation über Mindestnormen der sozialen Sicherheit IAO Nr 102). Denn nach Art 69 Buchst e und f dieses Übereinkommens sei das Ruhen der Leistung nur gestattet, wenn der Versicherungsfall durch ein Verbrechen oder Vergehen oder vorsätzlich herbeigeführt worden sei. Die in § 192 Abs 1 RVO genannte schuldhafte Beteiligung an Schlägereien umfasse aber auch die fahrlässige Beteiligung und gehe somit über die Bestimmungen des Übereinkommens Nr 102 hinaus (BT-Drucks VI/3508 zu § 75 Nr 1 S 11). Das internationale Übereinkommen bezieht sich ausdrücklich auf den Bereich der sozialen Sicherung. Was unter sozialer Sicherung in diesem internationalrechtlichen Sinne zu verstehen ist, kann ua entnommen werden der Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zuwandern und abwandern (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft Nr L 149 und vom 5. Juli 1971 S 2). Die Verordnung erfaßt alle in der Rentenversicherung, Unfallversicherung, Krankenversicherung und Arbeitslosenversicherung pflichtversichert oder freiwillig versicherten Personen, sowie das Kindergeld. Der sachliche Geltungsbereich erstreckt sich jedoch nicht auf sonstige Sozialrechtsgebiete. So besagt die Verordnung Nr 1408/71 in Art 1 Buchst k, daß als Abkommen über die soziale Sicherheit jede zweiseitige oder mehrseitige Vereinbarung erfaßt wird, die Zweige oder Systeme der "sozialen Sicherheit" erfaßt. Im gleichen Sinne spricht Art 4 Abs 1 der genannten Verordnung - wie überdies auch Art 2 des Übereinkommens Nr 118 der IAO über die Gleichbehandlung von Inländern und Ausländern in der sozialen Sicherheit vom 28. Juni 1962 (BABl 1964 S 85) - von Zweigen der sozialen Sicherheit, "die folgende Leistungsarten betreffen". Als solche werden die oben Genannten aufgeführt. In Ergänzung hierzu schreibt Art 4 Abs 4 vor, daß die Verordnung weder auf Sozialhilfe noch auf Leistungen für Opfer des Krieges oder seiner Folgen noch auf Sondersysteme für Beamte oder Gleichgestellte anzuwenden ist. Damit ist einerseits der sachliche Geltungsbereich der "sozialen Sicherheit" abgegrenzt, andererseits aber klargestellt, daß darüber hinaus übernationale Vereinbarungen nicht getroffen sind. Mithin bleibt beispielsweise die Kriegsopferversorgung (KOV) aus den genannten zwischenstaatlichen Absprachen ausgenommen, obgleich sie nach innerstaatlichem Recht der "sozialen Sicherheit" oder der "sozialen Sicherung" zugeordnet werden mag (Übersicht über die soziale Sicherung der Bundesrepublik Deutschland, Stand Januar 1964, 5. Aufl, herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und verfaßt von Schewe, Nordhorn und Schenke; Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts Band I, 1965, S 35; Beschluß der Bundesregierung über die Durchführung der Sozialenquete vom 29. April 1964 in Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 5. Juni 1964 Nr 89, 817 f; Bogs, Verhandlungen des 43. Deutschen Juristentages (München 1960) Band II (Sitzungsberichte) G 5 f; G 61 (Leitsatz Nr 1); aA Friederichs JZ 1967 S 278 und 1970 S 39). Gleiches muß für das OEG gelten, das wie das Kriegsopferrecht Bestandteil des Rechts der sozialen Entschädigung iS des § 5 SGB - Allgemeiner Teil - SGB 1 - ist (Schoreit/ Düsseldorf Einleitung § 17 f, 21 f; vor § 1, Rdziff 1; Wolfgang Fr. Meyer, Soziales Entschädigungsrecht, Dissertation Bochum 1964 S 276 f; Rüfner, NJW 1976 S 1249). Selbst wenn also das Opferentschädigungsrecht Teil der sozialen Sicherung im binnenrechtlichen Sinne sein sollte, wird es von der hier in Rede stehenden internationalen Regelung nicht berührt. Dann ist auch kein Anlaß gegeben, den Verschuldensmaßstab abweichend von der hergebrachten Auffassung zu deuten. Infolgedessen ist nicht nur ein vorsätzliches Tun Versagungsgrund iS des § 2 Abs 1 OEG.
Das LSG wird nach dem oben Gesagten auch zur Mitschuld weitere Nachforschungen anzustellen haben.
Nach alldem kann das angefochtene Urteil keinen Bestand haben.
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen
BSGE, 95 |
Breith. 1981, 153 |