Entscheidungsstichwort (Thema)

Berücksichtigung des Berufsbetroffenseins nach Berufsaufgabe

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Beschädigte kann den Anspruch auf Höherbewertung seiner Minderung der Erwerbsfähigkeit wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins nach BVG § 30 Abs 2 S 2 Buchst b im Wege der Zugunstenregelung gemäß KOV-VfG § 40 Abs 1 auch dann noch wirksam geltend machen, wenn er infolge Erreichens einer gesetzlichen Altersgrenze bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist.

2. Die Erreichung einer gesetzlich vorgesehenen Altersgrenze ist für sich allein grundsätzlich keine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS von BVG § 62, welche für die Höherbewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit nach BVG § 30 Abs 2 S 2 Buchst b maßgeblich waren.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der erkennende Senat pflichtet im Grundsatz der vom 8. Senat vertretenen Auffassung (vergleiche BSG 1972-07-28 8 RV 65/72 = SozR Nr 60 zu § 30 BVG) bei, wonach eine höhere Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit nach BVG § 30 Abs 2 Buchst b  nicht bereits daran scheitert, daß der Beschädigte seinen bisher nur mit besonderer Energie ausgeübten Beruf wegen fortschreitenden Alters oder aus schädigungsunabhängigen Gründen aufgegeben hat. Die Berufsaufgabe führt im allgemeinen nicht zu einer wesentlichen Änderung in bezug auf das anerkannte Berufsbetroffensein.

2. Stellt ein Beschädigter, dem vor seinen Eintritt in den Ruhestand nicht die nach BVG § 30 Abs 2 erhöhte Minderung der Erwerbsfähigkeit zuerkannt war, erst nach diesem Zeitpunkt Antrag auf diese Erhöhung, so steht eine solche Antragstellung der Entscheidung über den Anspruch auf Erhöhung im Rahmen des KOV-VfG § 40 nicht entgegen. Ergibt die Überprüfung, daß der Beschädigte vor seine Berufsaufgabe nach BVG § 30 Abs 2 Buchst b beruflich betroffen war, so sind - da sich an einer Minderung der Erwerbsfähigkeit-Erhöhung durch die Berufsaufgabe nicht ändert - die Voraussetzungen für die Erteilung eine Zugunstenbescheides gegeben.

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 2 S. 2 Buchst. b Fassung: 1966-12-28, § 62 Abs. 1 Fassung: 1966-12-28; KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27; BVG § 30 Abs. 2 S. 2 Buchst. a, c

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 22. Februar 1972 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der Kläger begehrt eine Erhöhung der bei ihm festgesetzten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins.

Der am 17. September 1897 geborene Kläger erlernte nach Besuch der Volksschule das Handwerk eines Töpfers und Ofensetzers und war nach Ablegung der Meisterprüfung von 1927 bis 1939 in E als Ofensetzer selbständig tätig. Nach dem Kriege arbeitete er bis Ende 1962 in abhängiger Beschäftigung als Ofensetzer, und zwar bis 1949 in R, danach bei verschiedenen Firmen in der Bundesrepublik.

Im Bescheid vom 4. Mai 1951 hat der Beklagte beim Kläger eine MdE um 50 v.H. wegen folgender Kriegsschäden festgesetzt:

"Ältere tuberkulöse Herdbildung im rechten Ober- und Spitzenfeld. Lungenstecksplitter links. Chronische Bronchitis. Fest verheilter Schlüsselbeinbruch links. Narbe am rechten Oberschenkel und Fuß. Narbe nach Schußverletzung der Achillessehne mit geringgradiger Bewegungseinschränkung."

Auf den Antrag des Klägers vom 24. Juli 1964 prüfte der Beklagte, ob die Voraussetzungen für eine Erhöhung der MdE nach § 30 Abs. 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) im Wege der Zugunstenregelung gegeben seien. Er lehnte dies im Bescheid vom 17. Oktober 1966 unter Berufung auf die Bindungswirkung des Bescheides vom 4. Mai 1951 ab, weil eine besondere berufliche Betroffenheit nie vorgelegen habe und auch heute nicht vorliege. Nach erfolglosem Widerspruch hob das Sozialgericht (SG) Köln diesen Bescheid im Urteil vom 4. Januar 1968 auf, weil der Beklagte ermessenswidrig nicht ausreichend geprüft habe, ob der Kläger für seine Tätigkeit nach dem Kriege etwa eine erhöhte Tatkraft und Energie habe aufwenden müssen. Dieses Urteil wurde rechtskräftig.

Der Beklagte hörte daraufhin einen Lungenfacharzt und den Staatlichen Gewerbearzt. Im Bescheid vom 30. September 1968 lehnte er u.a. die Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG erneut ab, weil die vom SG aufgeworfene Frage eines erhöhten Energieaufwandes des Klägers während seiner abhängigen Beschäftigung nach dem Kriege zu verneinen sei. Durch Bescheid vom 25. Februar 1969 wurde der Widerspruch des Klägers zurückgewiesen.

Auf seine Klage hin hob das SG Köln im Urteil vom 12. November 1970 die beiden vorgenannten Bescheide auf. Auf Grund der vom SG gehörten Sachverständigenäußerungen kam es zu dem Ergebnis, daß der Kläger bei seinen Arbeiten nach dem Kriege wegen der anerkannten Schädigungsfolgen eine besondere Energie habe aufwenden müssen. Dieser Umstand sei bei der Feststellung der Höhe seiner MdE im Bescheid vom 4. Mai 1951 noch nicht berücksichtigt worden; die festgesetzte MdE von 50 v.H. würdige nur den rein medizinischen Gehalt der anerkannten Schädigungsfolgen. Infolgedessen sei dieser Bescheid objektiv falsch, da mindestens ab 1. April 1956 von Amts wegen die besondere berufliche Betroffenheit mitbewertet werden müsse. Der Beklagte habe also nach § 40 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) eine neue Entscheidung zu treffen, auch zur Frage der rückwirkenden Erhöhung der MdE, die nach Auffassung des SG jedenfalls für vier Jahre einzuräumen sei. Diese rückwirkend zu erhöhende MdE müsse dem Kläger mit Rücksicht auf § 62 Abs. 3 BVG auch über das 65. Lebensjahr hinaus belassen bleiben.

Auf die zugelassene Berufung des Beklagten hat das LSG durch Urteil vom 22. Februar 1972 unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils die Klage abgewiesen. Das LSG ließ die Frage offen, ob der Kläger durch die Art der Schädigungsfolgen zur Zeit des Bescheides vom 4. Mai 1951 oder später beruflich besonders betroffen gewesen ist. Da dem Kläger nämlich die Erhöhung der MdE allenfalls wegen besonderer Anstrengungen in seinem Beruf gem. § 30 Abs. 2 Buchst. b BVG zugebilligt werden dürfe, könne sein Antrag schon deswegen keinen Erfolg haben, weil er diesen Beruf bei Antragstellung am 24. Juli 1964 aus Altersgründen bereits aufgegeben hatte und demzufolge auch nicht mehr diese Anstrengungen zu erbringen habe. Anders als bei den Tatbeständen des § 30 Abs. 2 Buchst. a und c wirkten im Falle des Buchst. b bei Aufgabe der beruflichen Tätigkeit die rentenerhöhenden wirtschaftlichen Nachteile nicht mehr weiter. Insoweit läge eine wesentliche Änderung der Verhältnisse i.S. von § 62 BVG vor. Eine fehlerhafte Ermessensausübung liege auch nicht darin, daß der Beklagte in den angegriffenen Bescheiden eine Rückwirkung in die Zeit der Berufstätigkeit des Klägers nicht vorgenommen habe.

Die Revision hat das LSG zugelassen.

Gegen das am 12. April 1972 zugestellte Urteil hat der Kläger am 8. Mai 1972 die Revision eingelegt und nach Verlängerung der Begründungsfrist am 11. Juli 1972 begründet. Er ist der Auffassung, daß die mit dem 1. Neuordnungsgesetz zum BVG (1. NOG) eingeführte Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 Buchst. b BVG dem Beschädigten auch nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben belassen bleiben müsse. Es sei nicht einzusehen, weshalb insoweit zwischen den Tatbeständen des § 30 Abs. 2 Buchst. a und c einerseits und Buchst. b andererseits ein Unterschied bestehen solle. Das Ausscheiden aus dem Berufsleben stelle in bezug auf die Verhältnisse, die für die Feststellung des Anspruchs maßgebend gewesen sind, keine wesentliche Änderung i.S. von § 62 BVG dar. Eine berufliche Behinderung entfalle nämlich nicht deswegen, weil sich wegen Aufgabe des Berufs die wirtschaftlichen Verhältnisse des Anspruchsberechtigten noch verschlechterten. Im übrigen müsse dem Kläger auch in analoger Anwendung des § 62 Abs. 3 BVG die Anerkennung der besonderen beruflichen Betroffenheit über das 65. Lebensjahr hinaus erhalten bleiben. Die Erreichung der Altersgrenze sei ebenso ein tatsächlicher Faktor wie die Änderung der Gesundheitsverhältnisse. Beides sei daher bei sonst gleichen Verhältnissen i.S. von § 62 Abs. 3 BVG auch gleich zu werten.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Bescheide vom 30. September 1968 und vom 25. Februar 1969 insoweit aufzuheben, als sie eine berufliche Betroffenheit des Klägers nach § 30 Abs. 2 BVG ablehnen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Nach seiner Auffassung kann die Frage einer Neufeststellung nach § 62 BVG in Fällen dieser Art dahinstehen; denn zu einer Anerkennung des beruflichen Betroffenseins des Klägers sei es vorliegend gar nicht gekommen. Hierfür sei erforderlich, daß das berufliche Betroffensein in den Zeitabschnitten fortbestehe, für die eine Höherbewertung der MdE begehrt werde. Grundsätzlich sei dies zwar auch für die Zeit nach Ausscheiden aus dem Berufsleben möglich, wenn nämlich der frühere Schaden in diese Zeit hinein fortwirke. Dies sei im Falle des Klägers jedoch nicht der Fall, weil er nunmehr jedenfalls eine außergewöhnliche Tatkraft nicht mehr aufzubringen habe. Eine besondere Berufsbetroffenheit des Klägers nach § 30 Abs. 2 Buchst. a oder c BVG komme nicht in Betracht. Weil die besondere Berufsbetroffenheit des Klägers bisher nicht anerkannt worden sei, stütze auch § 62 Abs. 3 BVG in analoger Anwendung seinen Anspruch nicht.

II

Die zugelassene Revision ist vom Kläger form- und fristgerecht eingelegt. Sie ist auch begründet; denn das LSG durfte nicht mit der von ihm gegebenen Begründung die Klage abweisen.

Der Kläger wendet sich gegen die Festsetzung seiner MdE auf 50 v.H. in dem bindend gewordenen Bescheid vom 4. Mai 1951. Mit dem Begehren auf eine Höherbewertung der MdE wegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins nach § 30 Abs. 2 BVG verfolgt er den Erlaß einer positiven Zugunstenregelung nach Maßgabe des § 40 Abs. 1 VerwVG. Nach dieser Vorschrift kann die Versorgungsbehörde zugunsten des Berechtigten jederzeit einen neuen Bescheid erteilen. Es ist ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), daß die Verwaltung diese, die Bindungswirkung unanfechtbar gewordener Verwaltungsakte durchbrechende Regelung bei Meidung eines Ermessensfehlgebrauchs vorzunehmen hat, wenn der frühere Bescheid unrichtig ist. Für eine andere Ausübung ihres Ermessens steht der Verwaltung in Fällen dieser Art eine Wahlmöglichkeit nicht mehr zur Verfügung (vgl. BSG in SozR Nrn. 3, 10, 12 zu § 40 VerwVG). Sind hiernach die Voraussetzungen für einen positiven Bescheid gem. § 40 VerwVG gegeben, so steht es ferner im Ermessen der Verwaltung, ob und in welchem Umfang sie der Neuregelung nach Lage des Falles Rückwirkung beimessen will. Sie muß aber auch von diesem Teil ihres Ermessens Gebrauch machen, um eine Nachprüfung von dessen pflichtgemäßer Ausübung zu eröffnen (vgl. BSG in SozR Nrn. 6 und 10 zu § 40 VerwVG; vgl. auch Nr. 8 der Verwaltungsvorschriften zu § 40 VerwVG). In dem gerichtlichen Verfahren über einen solcherart erlassenen (positiven oder negativen) Zugunstenbescheid steht sodann die Rechtmäßigkeit des früheren Bescheides der gerichtlichen Nachprüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht offen (vgl. BSG in SozR Nr. 12 zu § 40 VerwVG). Auch bei der Frage der Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 BVG ist bei der Anfechtung einer (abgelehnten) Zugunstenregelung nach § 40 Abs. 1 VerwVG die Frage, inwieweit der Beschädigte tatsächlich beruflich besonders betroffen ist, sachlich-rechtlich zu entscheiden (vgl. BSG in SozR Nr. 14 zu § 40 VerwVG).

Bei dem vom Kläger angefochtenen Bescheid des Beklagten vom 30. September 1968 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Februar 1969 handelt es sich, soweit er die Frage der Höherbewertung der MdE des Klägers nach § 30 Abs. 2 BVG betrifft, um einen negativen Zugunstenbescheid i.S. von § 40 Abs. 1 VerwVG. Dies ergibt sich aus seinem Inhalt und seiner Begründung (vgl. BSG in SozR Nr. 12 zu § 40 VerwVG). Entgegen der Auffassung des Klägers hält der Beklagte die in seinem Bescheid vom 4. Mai 1951 vorgenommene, nur auf der medizinischen Beurteilung der beim Kläger anerkannten Schädigungsfolgen beruhende Festsetzung der MdE des Klägers mit 50 v.H. für zutreffend, weil der Kläger beruflich im Sinne von § 30 Abs. 2 BVG nicht besonders betroffen sei.

Das LSG mußte demnach die notwendigen Feststellungen treffen, die für eine rechtliche Bewertung dieser Auffassung des Beklagten und seiner Verwaltungsentscheidung erforderlich sind. Es ging zu Unrecht davon aus, daß diese Sachaufklärung und rechtliche Würdigung deswegen überflüssig sei, weil der Kläger seinen Antrag auf Erlaß der genannten Zugunstenentscheidung erst zu einem Zeitpunkt gestellt hat, als er altershalber bereits aus dem Arbeitsleben ausgeschieden war. Wenn nämlich der Bescheid vom 4. Mai 1951 unrichtig war, dann bleibt er es solange, bis er richtiggestellt wird. Eine solche Richtigstellung kann nach § 40 Abs. 1 VerwVG "jederzeit" erfolgen.

Die Höhe der MdE eines Beschädigten, die wiederum der Maßstab für die Höhe seiner Versorgungsbezüge ist (vgl. §§ 31, 32 BVG), richtet sich nach seiner körperlichen und psychischen Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben (§ 30 Abs. 1 BVG) sowie danach, ob er durch die Art der Schädigungsfolgen in seinem Beruf besonders betroffen ist (§ 30 Abs. 2 BVG). Hierbei handelt es sich zwar um zwei unterschiedliche Beurteilungsmaßstäbe; sie ergeben jedoch nicht zwei verschiedene MdE-Werte, sondern dienen lediglich als Bemessungsfaktoren für eine einheitliche MdE; nur eine solche kennt § 30 BVG (vgl. BSG 22, 82; BSG in SozR Nr. 20 und 46 zu § 30 BVG). Für die Feststellung der Höhe der MdE aus diesen beiden Faktoren sind grundsätzlich diejenigen Verhältnisse maßgebend, wie sie unmittelbar nach der Schädigung vorliegen. Das gilt allerdings dann nicht, wenn in den der Entscheidung über die Festsetzung der MdE maßgeblichen Verhältnissen eine wesentliche Änderung eintritt, also wenn z.B. die gesundheitlichen Schädigungen sich verschlimmert oder gebessert haben oder wenn eine besondere berufliche Betroffenheit entfällt, etwa weil besondere wirtschaftliche Erfolge im Beruf einen bislang vorhandenen Minderverdienst nachhaltig ausgleichen. Ein solcher Fall liegt aber nicht schon dann vor, wenn der Beschädigte den Beruf, in welchem er durch seine Schädigungsfolgen besonders betroffen war, wegen Erreichung einer allgemein anerkannten und sogar gesetzlich geregelten Altersgrenze aufgegeben hat.

Das LSG geht zwar davon aus, daß in Fällen der besonderen beruflichen Betroffenheit nach Buchstaben a oder c des § 30 Abs. 2 BVG diese auch in den Zeitraum nach Aufgabe des Berufs aus Altersgründen fortwirkt, verneint dies aber für den Fall des Buchstaben b dieser Vorschrift. Seine Überlegungen sind jedoch zu vordergründig. Es ist zwar richtig, daß nach dieser Regelung dem Beschädigten auch dann ein Ausgleich in Form der angemessenen Erhöhung seiner MdE zugebilligt wird, wenn er nur durch besondere Tatkraft und Anspannung seiner Kräfte den Eintritt eines durch seine körperliche Beeinträchtigung im Beruf sonst entstehenden Minderverdienstes vermeiden, er also nur durch besonderen Kraft- und Energieaufwand einem sozialen Abstieg ausweichen kann (vgl. BSG 13, 20; BSG in SozR Nrn. 39 und 49 zu § 30 BVG). Bei erster Betrachtung könnte es sich hier also anbieten zu folgern, daß eine besondere Berufsbetroffenheit stets und sogleich entfällt, wenn mit der Aufgabe der Berufstätigkeit auch jener besondere Kraft- und Energieaufwand von dem Beschädigten nicht mehr verlangt wird. Diese Ansicht verkennt jedoch den Zusammenhang und den Sinngehalt der Regelung in § 30 Abs. 2 BVG.

Wie der erkennende Senat schon mehrfach entschieden hat (vgl. SozR Nr. 48 zu § 30 BVG mit weiteren Nachweisen), dürfen die in § 30 Abs. 2 BVG aufgezählten Einzelfälle nicht für sich allein betrachtet werden; die in Buchst. a bis c genannten Tatbestände erläutern vielmehr nur beispielhaft den in Satz 1 allgemein zum Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebers, eine Höherbewertung der MdE unter den dort genannten Voraussetzungen vorzunehmen. Wenn danach, wie es auch in der Rechtsprechung herausgearbeitet wurde, der Ausgleich für über die Benachteiligung im allgemeinen Erwerbsleben hinausgehende Beeinträchtigungen nur zugebilligt werden kann, sofern jene nachhaltig und von Dauer sind, so ergibt sich daraus auch das Prinzip einer Statik der einmal festgestellten MdE, es sei denn, es träten wesentliche Änderungen in den zugrunde liegenden Verhältnissen ein, insbesondere also, wenn die eingetretenen Nachteile einer besonderen beruflichen Schädigung wieder ausgeglichen werden (vgl. BSG in SozR Nr. 17 zu § 30 BVG). Im Urteil vom 28. Juli 1972 hat der 8. Senat des BSG (SozR Nr. 60 zu § 30 BVG) entschieden, daß eine höhere Bewertung der MdE nach § 30 Abs. 2 Buchst. b BVG nicht bereits daran scheitert, daß der Beschädigte seinen bisher nur mit besonderer Energie ausgeübten Beruf aus schädigungsunabhängigen Gründen aufgegeben hat. Die Berufsaufgabe wegen fortschreitenden Alters oder aus schädigungsunabhängigen Gründen führt nach Auffassung des 8. Senats im allgemeinen nicht zu einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse in bezug auf das anerkannte Berufsbetroffensein. Wer seinen Beruf nur unter Aufbietung außergewöhnlicher Energie ausüben kann, beweist nach Meinung des 8. Senats, daß er ihn i.S. von § 30 Abs. 2 Buchst. a BVG an sich nicht ausüben kann. Folglich kann es für die Frage des fortwirkenden beruflichen Betroffenseins nach Meinung des 8. Senats auf die Aufgabe dieser - eigentlich gar nicht zumutbaren - Beschäftigung aus welchen Gründen auch immer nicht mehr ankommen. Dieser Auffassung ist im Grundsatz beizupflichten, gerade im Hinblick auf die generelle Regelung des § 30 Abs. 2 Satz 1 BVG. Letztlich geht sie auf die Erwägung zurück, die der 11. Senat des BSG schon im Urteil vom 25. April 1961 (BSG 14, 172 = SozR Nr. 11 zu § 62 BVG) herausgestellt hat, nämlich daß der "Erfolg" einer schädigungsbedingten beruflichen Beeinträchtigung nicht dadurch verändert wird, daß er später auch von einer anderen Bedingung ausgelöst worden wäre in der Weise, daß der Beschädigte z.B. aus Altersgründen den Beruf später nicht mehr ausüben kann.

Man kann auch nicht davon ausgehen, daß der Gesetzgeber beabsichtigt hat, die in einem Fall wie diesem einmal entstandene berufliche Beeinträchtigung mit der Aufgabe des Berufs durch Eintritt in den Ruhestand aus der rentenerhöhenden MdE-Bewertung wieder herauszunehmen. Dies wird u.a. am Gesetzeswortlaut des § 30 Abs. 2 idF des 3. NOG deutlich, wenn dort von dem Beruf die Rede ist, den der Beschädigte ausgeübt "hat", und dabei wegen des Grundes der Beendigung jener Berufstätigkeit keine Unterscheidung getroffen wird. Selbst wenn man diese Formulierung als Gesetzesänderung ansehen muß (vgl. BSG in SozR Nr. 48 zu § 30 BVG), kann die damit verfolgte gesetzgeberische Absicht bei der Auslegung dieser Vorschrift in ihren früheren Fassungen nicht unbeachtet bleiben. Ein Indiz für die Absichten des Gesetzgebers mag es auch sein, wenn er in § 31 Abs. 1 Satz 2 BVG bestimmt hat, daß sich die Grundrente für Schwerbeschädigte mit Vollendung des 65. Lebensjahres um einen festen Betrag erhöht. Auch und gerade auf die Grundrente wirkt sich aber die höhere MdE wegen besonderer Berufsbetroffenheit aus. Der Senat sieht auch in der Regelung des § 62 Abs. 3 BVG eine Bestätigung seiner Auffassung durch den Gesetzgeber, ohne daß es darauf ankommt, ob die Voraussetzungen dieser Vorschrift im konkreten Fall gegeben sind. In Übereinstimmung mit Vorberg (vgl. VersorgB. 1973, 15 ff ist der Senat der Meinung, daß sich aus der Regelung des § 62 Abs. 1 BVG jedenfalls nicht ohne weiteres ableiten läßt, die Erreichung einer bestimmten Altersgrenze bilde stets bereits für sich gesehen eine wesentliche Änderung der für die Feststellung eines besonderen beruflichen Betroffenseins maßgeblichen Verhältnisse. Sieht man dabei - wie dargelegt - in den Tatbeständen des § 30 Abs. 2 Buchst. a bis c BVG nur beispielhafte Anwendungsformen für einen einheitlichen Begriff des beruflichen Betroffenseins, dann müssen auch die jeweiligen Rechtsfolgen hieraus einheitlich sein. Vorberg (aaO) weist im übrigen mit Recht darauf hin, daß sich auch bei rein wirtschaftlicher Betrachtungsweise selbst in Fällen des Buchst. b des § 30 Abs. 2 BVG die Frage des realen Schadens nicht nur am Fortbestand eines besonderen "Energieaufwandes" messen läßt. Welche Nachteile der Beschädigte allein deswegen erleidet, weil er auch bei Vermeidung eines Abgleitens im Beruf am beruflichen Wettbewerb nicht mehr so teilnehmen kann wie ein Gesunder, wird sich vielfach praktisch gar nicht feststellen lassen (vgl. auch Meyer in KOV 1972 S. 1 ff).

Auch die aus der jahre- oder jahrzehntelangen beruflichen Überlastung resultierenden Verschleißfolgen gehen nicht schlagartig mit der Aufgabe des Berufs verloren, sondern bleiben oder wirken jedenfalls auch über das Tätigkeitsende hinaus fort. Sie stellen daher ebenfalls eine Form der besonderen beruflichen Beeinträchtigung dar, wobei dahinstehen kann, ob man sie als Folgewirkung aus erhöhtem Kraft- und Energieaufwand noch unter die Regelung des § 30 Abs. 2 Buchst. b BVG unterordnen oder als einen eigenständigen Tatbestand der besonderen beruflichen Betroffenheit ansehen will.

Schließlich würde man bei der vom Beklagten vertretenen Handhabung des § 62 BVG die betroffenen Beschädigten sogar häufig noch dafür benachteiligen, daß sie durch besonderen Leistungs- und Energieaufwand während ihres Arbeitslebens das Abgleiten im Beruf oder gar seine vorzeitige Aufgabe verhindert haben. Sie tragen nämlich u.U. durch eine dadurch erworbene höhere Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung zur finanziellen Entlastung der Versorgungsverwaltung bei; denn wegen der Anrechnungsregel des § 33 BVG ermäßigt sich in diesen Fällen im Rentenalter die Höhe des Anspruchs auf Ausgleichsrente entsprechend. Auch unter diesem Gesichtspunkt kann es nicht als gerecht angesehen werden, dem genannten Personenkreis den Rentenanspruch lediglich wegen Erreichens der gesetzlichen Altersgrenze um ein weiteres zu verkürzen und damit seinen während des Arbeitslebens, zumal unter besonderer Opferlage, erworbenen und ihm ausdrücklich zugebilligten sozialen Besitzstand zu schmälern.

Nach allem hätte das LSG die Berechtigung des vom Kläger begehrten und vom Beklagten abgelehnten Zugunstenbescheides unter allen sachlichen und rechtlichen Gesichtspunkten nachprüfen müssen. Stände dem Kläger die höhere MdE nach § 30 Abs. 2 BVG zu und wäre ihm diese schon zu Zeiten seiner Berufstätigkeit zugebilligt worden, so könnte sie ihm allein wegen Eintritts in den Ruhestand nicht nach § 62 BVG wieder entzogen werden. Infolgedessen steht die erst nach diesem Zeitpunkt erfolgte Antragstellung der Entscheidung über diesen Anspruch im Rahmen des § 40 VerwVG auch nicht entgegen, weil insoweit auf die Richtigkeit bzw. Unrichtigkeit des früheren Bescheides (vom 4. Mai 1951) abzustellen ist.

Weil das LSG zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 BVG keine eigenen Feststellungen getroffen hat, konnte der Senat nicht abschließend entscheiden. Das LSG wird diese Feststellungen nachzuholen haben. Sofern sie dazu führen, die Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 Buchst. b BVG im Falle des Klägers zu bejahen, kann die Berufung des Beklagten keinen Erfolg haben. Sodann wird der Beklagte nach pflichtgemäßem Ermessen darüber zu befinden haben, ob und in welchem Umfang er seinem Zugunstenbescheid Rückwirkung beilegen will.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1669426

BSGE, 21

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