Orientierungssatz
Zur Frage der BU einer Versicherten, die noch leichte Arbeiten, vorwiegend im Sitzen, in gleichmäßig temperierten Räumen vollschichtig verrichten kann.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 09.06.1977; Aktenzeichen L 10 J 416/77) |
SG Hildesheim (Entscheidung vom 15.12.1976; Aktenzeichen S 4 J 341/75) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 9. Juni 1977 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die im Jahr 1920 geborene Klägerin war als Näherin und Serviererin beschäftigt. Seit 1974 arbeitet sie nicht mehr. Wegen einer durchgemachten Lungen-Tuberkulose und wegen ihrer schwächlichen Konstitution kann sie nur noch leichte Arbeiten, vorwiegend im Sitzen, in gleichmäßig temperierten Räumen vollschichtig verrichten.
Im November 1974 beantragte die Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise Rente wegen Berufsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 29. Juli 1975 den Antrag ab. Klage und Berufung der Klägerin sind erfolglos geblieben (Urteile des Sozialgerichts Hildesheim vom 15. Dezember 1976 und des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 9. Juni 1977). In den Entscheidungsgründen des Berufungsgerichts ist ausgeführt: Die Klägerin könne noch als Kassiererin im Einzelhandel, Kontrolleurin in der Industrie, Wäscheausgeberin sowie Wäsche- und Arbeitskleidungsnachseherin arbeiten; diese Tätigkeiten seien ihr auch zumutbar. Die Revision sei wegen der Grundsatzfrage zuzulassen, ob die Erwägungen, die der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in BSGE 43, 75 angestellt habe, auch bei Versicherten in Betracht zu ziehen seien, die noch vollschichtig arbeiten könnten.
Mit der Revision trägt die Klägerin vor: Das Berufungsgericht habe gegen die §§ 1246, 1247 Reichsversicherungsordnung (RVO) verstoßen. Die Grundsätze des Großen Senats seien auch auf sie anzuwenden, obwohl sie noch vollschichtig einsatzfähig sei. Für sie sei der örtliche Arbeitsmarkt maßgebend. Ein Umzug könne ihr nicht zugemutet werden, weil sie ihren Ehemann und ihre 87 Jahre alte Mutter zu betreuen habe.
Sie beantragt,
die Urteile des Landesssozialgerichts Niedersachsen vom 9. Juni 1977 und des Sozialgerichts Hildesheim vom 15. Dezember 1976 sowie den Bescheid der Beklagten vom 29. Juli 1975 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 1. Dezember 1974 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise Rente wegen Berufsunfähigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen.
Für ihre Ausführungen wird auf ihren Schriftsatz vom 21. September 1977 Bezug genommen.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Die von der Klägerin vorgebrachten Gründe vermögen die Entscheidung des Berufungsgerichts nicht zu erschüttern.
Die Klägerin greift zunächst die Annahme des Berufungsgerichts an, einer Vollzeitarbeitskraft sei der Arbeitsmarkt grundsätzlich nicht verschlossen. Sie möchte die Rechtsauffassung des Großen Senats des BSG (aaO), daß einer Teilzeitarbeitskraft der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei, wenn ihr kein für sie in Betracht kommender Arbeitsplatz angeboten wird, auf diejenigen Versicherten übertragen, die zwar in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt sind, aber noch ganztags arbeiten können.
Eine solche Übertragung ist jedoch nicht angebracht; das hat das BSG in mehreren Entscheidungen bereits ausgesprochen. Ein Versicherter, der aus gesundheitlichen Gründen nur noch weniger als "vollschichtig" arbeiten kann, ist nach dem Beschluß des Großen Senats im Ergebnis schon dann berufs- bzw erwerbsunfähig, wenn ihm innerhalb eines Jahres kein für ihn in Betracht kommender Arbeitsplatz angeboten werden kann (Entscheidungssatz Nr 3: praktisch verschlossener Arbeitsmarkt). Die Entscheidung des Großen Senats gilt wegen der besonders gestalteten Verhältnisse auf dem Teilzeitarbeitsmarkt nur für "Teilzeit-Arbeiter". Die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten, der noch ganztags arbeiten kann, hängt nicht davon ab, ob das Vorhandensein von Arbeitsplätzen für die in Betracht kommenden bzw einem Facharbeiter zumutbaren Erwerbstätigkeiten festgestellt ist. Es wird davon ausgegangen, daß es solche Arbeitsplätze gibt (BSG, Urteile vom 27. Mai 1977 - 5 RJ 28/76 - SozR 2200 § 1246 Nr 19, vom 14. Juli 1977 - 4 RJ 27/76 -, vom 21. September 1977 - 4 RJ 131/76 -, vom 30. November 1977 - 4/5 RJ 20/77 - und vom 19. April 1978 - 4 RJ 55/77 -). Ausnahmen gelten lediglich für Versicherte, die entweder nicht unter den üblichen Arbeitsbedingungen arbeiten oder Arbeitsplätze wegen gesundheitlicher Behinderung nicht von der Wohnung aus aufsuchen können, unter Umständen auch dann, wenn die Tätigkeiten, die der Versicherte noch verrichten kann, nicht von Tarifverträgen erfaßt sind (Urteil vom 27. Mai 1977), etwa wenn es nur wenige solcher Arbeitsplätze gibt (vgl BSGE 31, 233, 234). Wenn es aber Arbeitsplätze gibt, begründet der Umstand, daß der Versicherte solche Plätze nicht erhält, keinesfalls seine Berufsunfähigkeit. Denn nicht die Rentenversicherung, sondern die Arbeitslosenversicherung trägt das Risiko, daß ein noch genügend leistungsfähiger Versicherter einen für ihn geeigneten, tatsächlich vorhandenen Arbeitsplatz (zB wegen der besonderen Schwierigkeiten einer Arbeitsvermittlung) nicht bekommen kann. Gelegentliche Kritik im Schrifttum (zB Wiegand, Der offene Arbeitsmarkt für Ganztagsbeschäftigungen, Soziale Sicherheit 1978, 13) ist zwar, insbesondere aus sozialen Gründen, durchaus ernst zu nehmen, kann den Senat aber nicht zu einer Änderung der Rechtsprechung veranlassen. Denn eine dem bisherigen System der Sozialen Sicherung eindeutig widersprechende Risikoverschiebung von der Arbeitslosenversicherung zur Rentenversicherung müßte dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben.
Ausnahmen im Sinne der geschilderten Rechtsprechung liegen im Fall der Klägerin nicht vor. Insbesondere sind auch die Tätigkeiten, die ihr das Berufungsgericht noch zumutet, in Tarifverträgen erfaßt, mindestens die der Kassiererin und der Kontrolleurin.
Aber auch mit dem Hinweis auf die Unzumutbarkeit eines Umzugs kann die Klägerin keinen Erfolg haben. Es ist zwar richtig, daß gesundheitliche Einschränkungen, die bei dem Versicherten selbst vorliegen und ihm zB einen Umzug wesentlich erschweren, bei der Prüfung der Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit mit zu berücksichtigen sind (BSG SozR Nr 21 zu § 1246 RVO; BSGE 21, 257, 258 f). Die Behauptung der Klägerin, Ehemann und Mutter seien so stark pflegebedürftig, daß ein Umzug der Familie nicht in Frage komme, ist aber ein neues Vorbringen, das in der Revisionsinstanz nicht berücksichtigt werden kann (BSGE 9, 266, 271; SozR Nr 9 zu § 163 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Daher kann hier auch nicht entschieden werden, ob Betreuungspflichten des Versicherten gegenüber Familienangehörigen noch in das Risiko der Rentenversicherung fallen, so daß sie eine Rente auslösen könnten, oder ob dadurch nicht "der geschlossene Kreis von Ursachen, auf denen die Berufsunfähigkeit eines Versicherten beruhen kann, gesprengt" würde (BSGE 21, 257, 259).
Die Revision war als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen