Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Berufsunfähigkeit bei eingeschränkter Vollschichtarbeit. Berufsunfähigkeit. verschlossener Arbeitsmarkt. Vollzeit-Arbeitskräfte. Risikoverteilung RV und ArblV
Leitsatz (redaktionell)
Kann ein Elektromonteur zwar nicht mehr ständig mittelschwere und schwere Arbeiten und solche Arbeiten verrichten, die mit Heben und Tragen verbunden oder im Akkord oder am Fließband zu leisten sind, kann er aber noch Tätigkeiten als Fachverkäufer mit Kundenberatung als Magazinverwalter mit Kontrollarbeiten, als Mitarbeiter in einem Handwerksbetrieb ua vollschichtig ausüben, so bewirken die Einschränkungen hinsichtlich der Schwere der Arbeit noch keine Berufsunfähigkeit.
Orientierungssatz
Der Beschluß des Großen Senats des BSG vom 1976-12-10 GS 2/75 gilt wegen der besonders gestalteten Verhältnisse auf dem Teilzeitarbeitsmarkt nur für Teilzeit-Arbeiter. Die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten, der noch ganztags arbeiten kann, hängt nicht davon ab, ob das Vorhandensein von Arbeitsplätzen für die in Betracht kommenden bzw einem Facharbeiter zumutbaren Erwerbstätigkeiten festgestellt ist. Es wird davon ausgegangen, daß es solche Arbeitsplätze gibt (vgl BSG vom 1977-11-30 4/5 RJ 20/77).
Wenn es aber Arbeitsplätze gibt, begründet der Umstand, daß der Versicherte solche Plätze nicht erhält, keinesfalls seine BU. Denn nicht die RV, sondern die ArblV trägt das Risiko, daß ein noch genügend leistungsfähiger Versicherter einen für ihn geeigneten, tatsächlich vorhandenen Arbeitsplatz (zB wegen der besonderen Schwierigkeiten einer Arbeitsvermittlung) nicht bekommen kann.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 25.04.1977; Aktenzeichen L 2 J 186/76) |
SG Speyer (Entscheidung vom 20.01.1976; Aktenzeichen S 7 J 543/75) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 25. April 1977 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der im Jahr 1922 geborene Kläger ist gelernter Elektromechaniker mit den zusätzlichen Kenntnissen eines Starkstromelektrikers. Er arbeitete bis zum Jahr 1975 in diesen Berufen. Seinen im September 1975 gestellten Antrag auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 23. Oktober 1975 ab. Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteile vom 20. Oktober 1976 und vom 25. April 1977). Das Landessozialgericht (LSG) hat ausgeführt: Aufgrund des Gutachtens des Orthopäden Dr. S von April 1976 stehe fest, daß der Kläger zwar wegen gesundheitlicher Einschränkungen mittelschwere Arbeiten und solche Arbeiten, die mit Heben oder Tragen verbunden oder im Akkord oder am Fließband zu leisten seien, nicht mehr, andere Arbeiten aber weiterhin verrichten könne. Der Kläger sei in der Lage, als Fachverkäufer in einer Elektrogroßhandlung, als Verkäufer in der Elektro- und Installationsabteilung eines Kaufhauses, als Mitarbeiter in einem Handwerksbetrieb zur Führung der Stundenzettel, der Fahrtenausweise und der Materialkartei sowie als Magazinverwalter mit Kontrollaufgaben tätig zu sein oder unter Werkstattbedingungen an Kleingeräten, zB Bügeleisen, Staubsaugern, Haartrocknern, Ventilatoröfen und Rasierapparaten, Reparaturen vorzunehmen. Einem Facharbeiter als Vollzeitarbeitskraft sei der Arbeitsmarkt grundsätzlich nicht verschlossen. Es stelle sich allerdings die Frage, ob die Rechtsprechung des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) zur Teilzeitarbeit (BSGE 43, 75) entsprechend auf "vollschichtig einsatzfähige, aber leistungsgeminderte und im erlernten Beruf nicht mehr umfassend brauchbare Facharbeiter (sogenannte Nullfälle in Ansehung des geschützten Berufs)" anzuwenden sei.
Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verkennung des § 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und die kritiklose Übernahme des von Dr. S erstatteten Gutachtens. Er beantragt sinngemäß,
die Urteile des LSG vom 25. April 1977 und des Sozialgerichts vom 20. Oktober 1976 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. Oktober 1975 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben zutreffend entschieden, daß der Bescheid der Beklagten vom 23. Oktober 1975 rechtmäßig ist. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit.
Der Senat ist an die Feststellung des Berufungsgerichts über die Leistungsfähigkeit des Klägers gebunden, da in bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe nicht vorgebracht sind (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Was der Kläger über die kritiklose Übernahme des Gutachtens vorträgt, stellt keine zulässige Verfahrensrüge dar. Er hat damit keine Tatsachen bezeichnet, die einen Verfahrensmangel ergeben (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG). Er hätte vielmehr darlegen müssen, warum das Berufungsgericht sich zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen, und weiter, zu welchen Ergebnissen die Ermittlungen geführt hätten, oder - wenn er meint, das Berufungsgericht habe die Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten - zu welchem Ergebnis eine ordnungsmäßige Beweiswürdigung hätte führen müssen (BSG SozR Nr 28 zu § 164 SGG aF; Meyer-Ladewig, SGG, Anm 12 zu § 164).
In sachlich-rechtlicher Hinsicht greift der Kläger die Annahme des Berufungsgerichts an, einer Vollzeitarbeitskraft sei der Arbeitsmarkt grundsätzlich nicht verschlossen. Er möchte die Rechtsauffassung des Großen Senats des BSG (aaO), daß einer Teilzeitarbeitskraft der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen sei, wenn ihr kein für sie in Betracht kommender Arbeitsplatz angeboten wird, auf diejenigen Versicherten übertragen, die zwar in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt sind, aber noch ganztags arbeiten können. Eine solche Übertragung ist jedoch nicht angebracht; das hat das BSG in mehreren Entscheidungen bereits ausgesprochen. Ein Versicherter, der aus gesundheitlichen Gründen nur noch weniger als "vollschichtig" arbeiten kann, ist nach dem Beschluß des Großen Senats des BSG vom 10. Dezember 1976 (BSGE 43, 75, 82, 83 = SozR 2200 § 1246 Nr 13) im Ergebnis schon dann berufs- bzw. erwerbsunfähig, wenn ihm innerhalb eines Jahres kein für ihn in Betracht kommender Arbeitsplatz angeboten werden kann (Entscheidungssatz Nr 3: praktisch verschlossener Arbeitsmarkt). Die Entscheidung des Großen Senats gilt wegen der besonders gestalteten Verhältnisse auf dem Teilzeitarbeitsmarkt nur für "Teilzeit-Arbeiter". Die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten, der noch ganztags arbeiten kann, hängt nicht davon ab, ob das Vorhandensein von Arbeitsplätzen für die in Betracht kommenden bzw. einem Facharbeiter zumutbaren Erwerbstätigkeiten festgestellt ist. Es wird davon ausgegangen, daß es solche Arbeitsplätze gibt (BSG, Urteile vom 27. Mai 1977 - 5 RJ 28/76 - SozR 2200 § 1246 Nr 19, vom 14. Juli 1977 - 4 RJ 27/76 -, vom 21. September 1977 - 4 RJ 131/76 - und vom 30. November 1977 - 4/5 RJ 20/77 -). Ausnahmen gelten lediglich für Versicherte, die nicht unter den üblichen Arbeitsbedingungen arbeiten oder Arbeitsplätze wegen gesundheitlicher Behinderung nicht von der Wohnung aus aufsuchen können, unter Umständen auch dann, wenn die Tätigkeiten, die der Versicherte noch verrichten kann, nicht von Tarifverträgen erfaßt sind (Urteil vom 27. Mai 1977), etwa wenn es nur wenige solcher Arbeitsplätze gibt (vgl BSGE 31, 233, 234). Wenn es aber Arbeitsplätze gibt, begründet der Umstand, daß der Versicherte solche Plätze nicht erhält, keinesfalls seine Berufsunfähigkeit. Denn nicht die Rentenversicherung, sondern die Arbeitslosenversicherung trägt das Risiko, daß ein noch genügend leistungsfähiger Versicherter einen für ihn geeigneten, tatsächlich vorhandenen Arbeitsplatz (zB wegen der besonderen Schwierigkeiten einer Arbeitsvermittlung) nicht bekommen kann.
Gelegentliche Kritik im Schrifttum (zB Wiegand, Der offene Arbeitsmarkt für Ganztagsbeschäftigungen, Soziale Sicherheit 1978, 13) ist zwar, insbesondere aus sozialen Gründen, durchaus ernst zu nehmen, kann den Senat aber nicht zu einer Änderung der Rechtsprechung veranlassen. Denn eine weitere, dem bisherigen System der Sozialen Sicherung eindeutig widersprechende Risikoverschiebung von der Arbeitslosenversicherung zur Rentenversicherung müßte dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben.
Da nach den Feststellungen des Berufungsgerichts eine der erwähnten Ausnahmen bei dem Kläger nicht vorliegt, ist dieser nicht berufsunfähig. Seine Revision war als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen