Leitsatz (amtlich)
Liegen die Voraussetzungen des VuVO § 1 vor, so ist auch für die Anrechnung einer Ausfallzeit nach RKG § 57 Nr 1 (RVO § 1259 Abs 1 Nr 1) nicht der Urkundenbeweis zu fordern, sondern es genügt die Glaubhaftmachung der die Arbeitsunfähigkeit verursachenden Krankheit.
Normenkette
RKG § 57 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09; VuVO § 1 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1960-03-03, § 11 Abs. 3 Fassung: 1960-03-03
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. März 1968 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten über die Höhe des dem Kläger von der Beklagten gewährten Knappschaftsruhegeldes.
Die Beklagte gewährte dem Kläger, der sich bis 1921 in Schlesien aufhielt und seitdem im Gebiet der jetzigen Bundesrepublik Deutschland wohnt, mit Bescheid vom 29. November 1965 das Knappschaftsruhegeld vom 1. Oktober 1965 an. Der Kläger machte mit dem Widerspruch gegen diesen Bescheid geltend, er sei von Januar 1917 bis Januar 1920 in Schlesien arbeitsunfähig krank gewesen, wie sich aus einem eingereichten Urteil des Preußischen Oberversicherungsamts Dortmund vom 2. Dezember 1927 ergebe. Ihm sei diese Zeit als Ausfallzeit anzurechnen. Der Widerspruch des Klägers wurde von der Widerspruchsstelle der Beklagten am 2. Februar 1966 zurückgewiesen.
Das mit der Klage angerufene Sozialgericht (SG) vernahm die Zeugen A und S G. Das SG hat die Beklagte am 21. November 1966 verurteilt, die Zeit vom 9. Januar 1917 bis zur Wiederaufnahme der Arbeit nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit als Ausfallzeit nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen anzuerkennen und darüber einen Bescheid zu erteilen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) am 19. März 1968 das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt, nach § 57 Nr. 1 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) könne eine Ausfallzeit nur dann anerkannt werden, wenn die Arbeitsunfähigkeit in Nachweisen bescheinigt sei. Das sei nicht der Fall. Insbesondere enthalte das vom Kläger eingereichte Urteil des Preußischen Oberversicherungsamts Dortmund vom 2. Dezember 1927 nicht den Nachweis der Arbeitsunfähigkeit.
Der Kläger gehöre nicht zu dem vom Fremdrentengesetz (FRG) erfaßten Personenkreis, so daß die Beweiserleichterung des § 4 FRG nicht anzuwenden sei. Auch eine entsprechende Anwendung sei nicht geboten. Der Kläger befinde sich in keinem größeren Beweisnotstand als ein Versicherter, der eine solche Ausfallzeit im Bundesgebiet zurückgelegt habe und dessen Versicherungsunterlagen beim Versicherungsträger vernichtet worden seien. Die Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) vom 3. März 1960 differenziere nicht zwischen solchen Tatsachen, die außerhalb oder innerhalb der Bundesrepublik Deutschland oder des Landes Berlin eingetreten seien. Es könne dahingestellt bleiben, wie zu entscheiden wäre, wenn der Kläger glaubhaft gemacht hätte, daß eine Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit vernichtet oder nicht erreichbar sei. Der Kläger habe eine derartige Behauptung selbst nicht aufgestellt.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, die Glaubhaftmachung der Arbeitsunfähigkeit müsse genügen. Das ergebe sich aus § 4 FRG, der entsprechend anzuwenden sei, weil es sich um eine Zeit außerhalb der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Berlin handele. Die Entscheidung des LSG führe zu einer Ungleichbehandlung von Einheimischen und Vertriebenen bei gleichem Tatbestand.
Der Kläger beantragt,
die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Dortmund vom 21. November 1966 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig. Darüber hinaus ist sie der Ansicht, eine Ausfallzeit könne für einen Zeitraum von fast drei Jahren nicht gewährt werden, weil der Kläger für eine so lange Zeit nicht Krankengeld bezogen haben könne. Die Ausfallzeit wegen Arbeitsunfähigkeit könne längstens bis zur gesetzlichen oder satzungsmäßigen Bezugsdauer von Krankengeld angerechnet werden.
II
Die zulässige Revision des Klägers ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen wird.
Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus. Die Rüge des Klägers, das LSG habe zu Unrecht den vollen Urkundenbeweis gefordert und die Glaubhaftmachung nicht genügen lassen, ist begründet.
Der § 4 FRG ist im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Der Kläger gehört nicht zu dem in § 1 FRG genannten Personenkreis. Man könnte allerdings daran denken, den § 4 auch auf Ausfalltatbestände derjenigen Personen anzuwenden, bei denen der Ausfalltatbestand eine Versicherungszeit unterbricht, die nach den §§ 17, 15 FRG den deutschen Versicherungszeiten gleichgestellt sind. Solche Beitragszeiten hat der Kläger aber nicht zurückgelegt. Auch die vom Kläger in Schlesien in der Zeit bis 1921 zurückgelegten Versicherungszeiten sind nicht nach den §§ 17, 15 FRG, sondern unmittelbar nach § 1250 Abs. 1 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) anrechenbar. Die Beklagte hat diese in den verlorengegangenen Versicherungskarten 1 und 2 enthaltenen Beiträge deshalb mit Recht auch nicht nach dem FRG, sondern nach der VuVO erneuert. Die vom Kläger angestrebte entsprechende Anwendung des § 4 FRG scheidet ebenfalls aus, weil eine andere, unmittelbar anwendbare Vorschrift die Glaubhaftmachung genügen läßt.
Da das Karten- oder Kontenarchiv der Landesversicherungsanstalt (LVA) Schlesien, die nach § 1423 RVO aF für die Aufbewahrung der Versicherungsunterlagen zuständig war, nicht erreichbar ist und die Versicherungsunterlagen fehlen, genügt nach § 1 Abs. 1 Satz 1 VuVO für die Feststellung der rechtserheblichen Tatsachen, zu deren Nachweis Versicherungsunterlagen dienen, daß diese Tatsachen glaubhaft gemacht sind. Die Glaubhaftmachung genügt also dann, wenn die nicht erreichbaren Versicherungsunterlagen dem Nachweis der Arbeitsunfähigkeit dienen. Zwar weisen die Versicherungskarten in erster Linie die Beitragszeiten aus. Sie dienen aber nicht ausschließlich dem Nachweis der Beitragszeiten. Nach § 1419 Abs. 3 RVO in der damals geltenden ursprünglichen Fassung vom 19. Juli 1911 (RGBl S. 509) waren bei der Aufrechnung der Versicherungskarten auch die nachgewiesenen Krankheitszeiten einzutragen. Die aufgerechnete Versicherungskarte diente also auch dem Nachweis der durch Krankheit bedingten Arbeitsunfähigkeitszeiten, die nach dem damaligen Recht (§ 1279 RVO) für die Erfüllung der Wartezeit von Bedeutung waren. Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 VuVO genügt also die Glaubhaftmachung der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit, wenn und soweit dem nicht die Beweismitteleinschränkung des § 57 Nr. 1 RKG entgegensteht.
Die Gründe, die zur Beweismitteleinschränkung des § 57 Nr. 1 RKG geführt haben, mögen zwar dafür sprechen, daß diese Beweismitteleinschränkung auch dann gelten soll, wenn nach anderen Vorschriften die Glaubhaftmachung genügt (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 7. Aufl. 1970, S. 700 d IV; Verbands-Komm. zur RVO, 6. Aufl. 1958/68, Anm. 10 zu § 1259; Schimanski, Knappschaftsversicherungsgesetz, 1970, Anm. 5 zu § 57). Der Gesetzgeber hat die Beweismittel deshalb auf Urkunden beschränkt, weil ihm andere Beweismittel ungeeignet erschienen, zuverlässig etwas über weit in der Vergangenheit liegende Tatbestände auszusagen. Diese Ungeeignetheit anderer Beweismittel bleibt zwar auch dann bestehen, wenn der Gesetzgeber für Tatbestände, für die sonst der normale Beweis genügt, durch die Möglichkeit der Glaubhaftmachung eine Beweiserleichterung geschaffen hat. Andererseits ist aber zu bedenken, daß § 1 Abs. 1 VuVO gerade davon ausgeht und voraussetzt, daß die Urkunden nicht mehr vorhanden sind, die dazu bestimmt und am besten geeignet sind, die rechtserheblichen Tatsachen zu beweisen. Wenn also § 1 Abs. 1 VuVO die Glaubhaftmachung gerade wegen des Verlustes der Urkunde zuläßt, so muß das auch für die Fälle des § 57 Nr. 1 RKG gelten. Für dieses Ergebnis spricht auch eine weitere Überlegung. Nach § 11 Abs.1 VuVO können Versicherungsunterlagen auch außerhalb des Leistungsfeststellungsverfahrens wiederhergestellt werden. Bei der Wiederherstellung der Versicherungsunterlagen sind die nach § 1 VuVO glaubhaft gemachten rechtserheblichen Tatsachen einzutragen, zu deren Nachweis die Versicherungsunterlagen dienen. Da bei der Eintragung der Krankheitszeiten nicht schon eine Wertung als Ausfallzeit vorgenommen wird, kann hier die Beweismitteleinschränkung des § 57 Nr. 1 RKG keinesfalls gelten. Wird aber bei der Erneuerung der Versicherungsunterlagen nach § 11 VuVO die glaubhaft gemachte Zeit der Arbeitsunfähigkeit eingetragen, so ist der Versicherungsträger bei der Leistungsfeststellung nach § 11 Abs. 3 VuVO an die Eintragung gebunden. Er wird daher bei der Leistungsfeststellung nicht umhin können, die eingetragene Krankheitszeit auch nach § 57 Nr. 1 RKG als Ausfallzeit zu werten, denn die Zeit der Arbeitsunfähigkeit ist in diesem Falle in einer dem Beweis dienenden Urkunde bescheinigt. Wenn nach § 57 Nr. 1 RKG im allgemeinen auch neu hergestellte Urkunden nicht genügen werden, so kann das doch nicht für die wiederhergestellten Versicherungsunterlagen gelten, die ja gerade dem Ersatz der verlorengegangenen Unterlagen dienen. Es kann aber zu keinem unterschiedlichen Ergebnis führen, ob die Zeit der Arbeitsunfähigkeit unmittelbar bei der Leistungsfeststellung oder aber bei der Erneuerung der Versicherungsunterlagen glaubhaft gemacht wird, die jeweils dem Nachweis bei einer gesonderten Leistungsfeststellung dienen.
Im Gegensatz zu der vom LSG vertretenen Ansicht ist für die Anwendung des § 1 VuVO nicht die Glaubhaftmachung erforderlich, daß im konkreten Fall eine Versicherungsunterlage verlorengegangen ist, in der die Zeit der Arbeitsunfähigkeit eingetragen war. Nach § 1 VuVO kommt es vielmehr nur darauf an, daß die Versicherungsunterlagen allgemein vernichtet oder nicht erreichbar sind und ihrem Charakter nach der Eintragung der rechtserheblichen Tatsache dienen. Sind diese Voraussetzungen - wie im vorliegenden Fall - erfüllt, so braucht nicht glaubhaft gemacht zu werden, daß die Versicherungsunterlagen eine entsprechende Eintragung enthielten, vielmehr genügt die Glaubhaftmachung der rechtserheblichen Tatsache. Das ist im vorliegenden Fall die zur Arbeitsunfähigkeit führende Erkrankung.
Ist danach die Rüge des Klägers begründet, das LSG habe zu Unrecht den vollen Urkundenbeweis gefordert und die Glaubhaftmachung nicht genügen lassen, so ist die Revision des Klägers auch begründet. Die Frage, ob eine Tatsache überwiegend wahrscheinlich ist oder nicht, gehört zum Komplex der Beweiswürdigung, der dem Tatsachengericht obliegt. Da nach dem angefochtenen Urteil nicht feststeht, ob die Arbeitsunfähigkeit des Klägers in der streitigen Zeit überwiegend wahrscheinlich ist, muß das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur Nachholung dieser Feststellung zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen