Entscheidungsstichwort (Thema)

Entziehung der Bergmannsrente. Änderung der Verhältnisse

 

Orientierungssatz

1. Wesentlich für das Tatbestandsmerkmal "Änderung in den Verhältnissen" iS des RKG § 86 Abs 1 ist, ob der Versicherte im Zeitpunkt der Rentengewährung schon in der Lage war, die Verweisungstätigkeit sofort oder jedenfalls nach kurzer Einarbeitung und Einweisung zu verrichten.

2. Die Tätigkeit eines Kraftwagenfahrers nach der Lohngruppe 07 der bis zum 1980-05-01 gültig gewesenen Lohnordnung für den rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau ist der nach der Lohngruppe 09 zu bewertenden Tätigkeit eines früheren Lehrhauers im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig.

 

Normenkette

RKG § 45 Abs 2 Fassung: 1957-05-21, § 86 Abs 1 S 1 Fassung: 1957-05-21

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 23.10.1979; Aktenzeichen L 6 Kn 13/79)

SG Gießen (Entscheidung vom 14.03.1979; Aktenzeichen S 6 Kn 13/78)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte die dem Kläger gewährte Bergmannsrente entziehen durfte.

Die Beklagte gewährte dem Kläger, der bis 1960 als Lehrhauer und danach bis 1963 als Wäschearbeiter knappschaftlich versichert war, mit Bescheid vom 26. März 1964 die Bergmannsrente wegen verminderter bergmännischer Berufsfähigkeit nach § 45 Abs 1 Nr 1 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) mit Wirkung vom 1. August 1962. Sie entzog diese Rente durch Bescheid vom 24. Mai 1977 mit Wirkung vom 1. Juli 1977, nachdem der Kläger am 5. August 1964 den Führerschein der Klasse 3 erworben hatte und seit dem 4. September 1965 als Kraftfahrer mit dem Ausfahren von Möbeln beschäftigt war. Der Widerspruch hatte keinen Erfolg.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 14. März 1979 den Rentenentziehungsbescheid und den ihn bestätigenden Widerspruchsbescheid aufgehoben und die Beklagte zur Weitergewährung der Bergmannsrente verurteilt. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 23. Oktober 1979 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen des § 86 Abs 1 Satz 1 RKG für die Rentenentziehung lägen nicht vor. In dem Gesundheitszustand des Klägers sei seit der Rentenbewilligung keine Besserung eingetreten. Eine die Rentenentziehung rechtfertigende Änderung der Verhältnisse liege auch nicht darin, daß der Kläger den Führerschein der Klasse 3 erworben habe und als Kraftfahrer tätig sei. Die Fähigkeit zur Verrichtung der Tätigkeit eines Kraftwagenführers über Tage schließe die verminderte bergmännische Berufsfähigkeit nicht aus. Es handele sich dabei im Vergleich zu der früheren Tätigkeit des Klägers als Lehrhauer nicht um eine im wesentlichen gleichwertige Arbeit, weil der Kläger trotz seiner langjährigen Erfahrungen als Kraftfahrer keinerlei berufliche Qualifikation mitbringe. Er sei - da er den Führerschein der Klasse 2 nicht besitze - weder einem Berufskraftfahrer gleichzusetzen noch habe er Kenntnisse und Fähigkeiten, die über das Steuern eines Kraftwagens hinausgingen. Die Rentenentziehung sei auch nicht nach § 86 Abs 2 RKG gerechtfertigt, denn das Entgelt des Klägers aus seiner jetzigen Tätigkeit entspreche nicht der maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom erkennenden Senat zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, der Kläger habe durch den Erwerb des Führerscheins der Klasse 3 und durch die Tätigkeit als Kraftfahrer neue Kenntnisse und Fähigkeiten erworben, die ihn in die Lage versetzten, in einem knappschaftlichen Betrieb die Tätigkeit eines Kraftfahrers auszuüben. Er sei daher nicht vermindert bergmännisch berufsfähig, denn bei der Tätigkeit eines Kraftfahrers handele es sich im Verhältnis zu der Tätigkeit eines Lehrhauers um eine im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertige Arbeit von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten iS des § 45 Abs 2 RKG.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts sowie das

Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und

die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zu verwerfen.

Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Beklagten sei unbegründet.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige und begründete Revision der Beklagten führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht. Die festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.

Nach den Tatsachenfeststellungen des LSG ist seit der Rentenfeststellung in den Verhältnissen des Klägers insofern eine Änderung iS des § 86 Abs 1 RKG eingetreten, als der Kläger den Führerschein der Klasse 3 erworben und bis zur Rentenentziehung viele Jahre als Kraftfahrer außerhalb des Bergbaus gearbeitet hat. Er hat dadurch Kenntnisse und Fähigkeiten erworben, die er im Zeitpunkt der Rentengewährung noch nicht besaß und die die Nutzung der ihm verbliebenen Erwerbsfähigkeit erhöhen, weil er nunmehr in der Lage ist, die Tätigkeit eines Kraftfahrers jedenfalls außerhalb des Bergbaus auszuüben. Zwar handelt es sich nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats im allgemeinen nur dann um "neue" Kenntnisse und Fähigkeiten, wenn sie nicht schon kurzfristig, sondern erst in einer Einarbeitung und Einweisung von mindestens drei Monaten erworben werden (vgl SozR 2600 § 86 Nr 7 mwN). Es kann dahingestellt bleiben, wie lange der Kläger gebraucht hat und wie lange ein Lehrhauer im allgemeinen braucht, um den Führerschein der Klasse 3 zu erwerben und den Beruf eines Kraftfahrers vollwertig auszuüben. Nach der zitierten Rechtsprechung des erkennenden Senats ist nicht in jedem Fall entscheidend, in welchem Zeitraum die zur Ausübung einer bestimmten Tätigkeit erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten erworben werden. Wesentlich für das Tatbestandsmerkmal "Änderung in den Verhältnissen" iS des § 86 Abs 1 RKG ist vielmehr, ob der Versicherte im Zeitpunkt der Rentengewährung schon in der Lage war, die Verweisungstätigkeit sofort oder jedenfalls nach kurzer Einarbeitung und Einweisung zu verrichten. Es bedarf keiner näheren Begründung und ist unter den Beteiligten auch nicht streitig, daß der Kläger im Zeitpunkt der Rentengewährung noch nicht in der Lage war, die Tätigkeit eines Kraftfahrers auszuüben. Weder besaß er die erforderliche Erlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs (Führerschein) noch hatte er die entsprechenden Fähigkeiten und beruflichen Erfahrungen. Er konnte sie auch nicht in einer kurzfristigen Einarbeitung und Einweisung erwerben. Der Kläger konnte also im Zeitpunkt der Rentengewährung nicht auf die Tätigkeit eines Kraftwagenfahrers in einem knappschaftlichen Betrieb verwiesen werden. Geht man davon aus, daß er im Zeitpunkt der Rentenentziehung zur Ausübung dieser Tätigkeit in der Lage war, so muß das notwendigerweise auf dem Erwerb neuer Kenntnisse und Fähigkeiten und damit auf einer Änderung der Verhältnisse beruhen.

Nicht geklärt ist jedoch, ob der Kläger infolge einer solchen Änderung in den Verhältnissen nicht mehr vermindert bergmännisch berufsfähig iS des § 45 Abs 2 RKG ist. Zweifellos ist die Tätigkeit eines Kraftwagenfahrers nach der Lohngruppe 07 der bis zum 1. Mai 1980 gültig gewesenen Lohnordnung für den rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau der nach der Lohngruppe 09 zu bewertenden Tätigkeit eines früheren Lehrhauers (vgl BSG SozR 2600 § 45 Nr 5) im wesentlichen wirtschaftlich gleichwertig, denn die Lohndifferenz beträgt weniger als 12,5 vH (vgl hierzu BSG SozR 2600 § 45 Nr 16). Ob es sich dabei aber um eine Tätigkeit von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten iS des § 45 Abs 2 RKG handelt, bedarf der näheren Prüfung und weiterer Tatsachenfeststellungen. Dabei ist zu beachten, daß die Tätigkeit eines Kraftwagenfahrers, wie sie seit dem 1. Mai 1980 in der Lohngruppe 08 enthalten ist, für den Kläger schon deshalb nicht in Betracht kommt, weil sie den Besitz des Führerscheins der Klasse 2 voraussetzt. Das gleiche gilt für den Kraftwagenfahrer 1 der neuen Lohnordnung, soweit sie - zB bei Zügen mit mehr als drei Achsen - ebenfalls den Besitz des Führerscheins der Klasse 2 erfordern. In Betracht kommt also lediglich das Fahren von Personenkraftwagen und das Fahren von Lastwagen mit einem Gesamtgewicht bis zu 7,5 t. Es bedarf der näheren Prüfung und Feststellung, in welchem Umfang es solche Tätigkeiten in knappschaftlichen Betrieben gibt und welche Anforderungen sie - über den Besitz des Führerscheins der Klasse 3 hinaus - an die Kenntnisse und Fähigkeiten stellen. Dabei wird der Frage Beachtung zu schenken sein, ob nicht die Zahl der Fahrer für Personenkraftwagen in knappschaftlichen Betrieben besonders gering ist und ob nicht - insbesondere bei Cheffahrern - Kenntnisse und Fähigkeiten verlangt werden, die der Kläger nicht besitzt. Auch die Zahl der Stellen für Kraftwagenfahrer auf Lastkraftwagen bis zu 7,5 t Gesamtgewicht könnte für eine Verweisung zu gering sein. Zwar ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) bei der Fähigkeit zur Verrichtung einer in einem Tarifvertrag enthaltenen Vollzeittätigkeit im allgemeinen davon auszugehen, daß der Arbeitsmarkt nicht verschlossen ist (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nrn 19 und 30). Scheiden jedoch von einer in einem Tarifvertrag enthaltenen Tätigkeit wegen fehlender gesundheitlicher oder beruflicher Fähigkeit in nicht unerheblicher Zahl Einzeltätigkeiten aus, so besteht Veranlassung zur Prüfung, in welchem Umfang auf dem Arbeitsmarkt - besetzt oder unbesetzt - Arbeitsstellen vorhanden sind, deren Anforderungen der Versicherte gerecht wird (vgl hierzu BSG SozR 2600 § 45 Nr 19).

Darüber hinaus steht nicht fest, welcher Art die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten sind; insbesondere ob mit der Tätigkeit eines Kraftfahrers in knappschaftlichen Betrieben die Wartung und Pflege des Fahrzeugs verbunden ist und ob die Kenntnis des zu befördernden Materials und der Betriebsorganisation notwendig ist. Erst wenn die dazu erforderlichen detaillierten Feststellungen getroffen sind, läßt sich entscheiden, ob es sich für einen Lehrhauer um eine Tätigkeit von Personen mit ähnlicher Ausbildung sowie gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten iS des § 45 Abs 2 RKG handelt. Für dieses Tatbestandsmerkmal kommt es nicht auf einen Vergleich der Kenntnisse und Fähigkeiten eines Lehrhauers einerseits und der vom Kläger ausgeübten Tätigkeit eines Kraftwagenfahrers außerhalb des Bergbaus andererseits an, denn zu vergleichen ist die Qualität der Tätigkeit eines Lehrhauers mit der eines Kraftwagenfahrers in einem knappschaftlichen Betrieb. Übersteigen die danach erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten eines Kraftwagenfahrers in einem knappschaftlichen Betrieb diejenigen, die der Kläger für seine jetzige Tätigkeit benötigt, so wird auch zu prüfen sein, ob der Kläger nach kurzer Einarbeitung und Einweisung zur Verrichtung der Tätigkeit eines Kraftwagenfahrers in einem knappschaftlichen Betrieb fähig ist.

Der Senat hat auf die danach begründete Revision der Beklagten das angefochtene Urteil aufgehoben und den Rechtsstreit zur Nachholung der erforderlichen Tatsachenfeststellungen an das LSG zurückverwiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657527

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