Entscheidungsstichwort (Thema)

Verweisbarkeit eines Facharbeiters bei Tätigkeit in Kolonne oder Akkord

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Einreihung in die Gruppe der gelernten Facharbeiter kann bei einem als Zimmerer ausgebildeten Versicherten nicht mit der Begründung abgelehnt werden, er habe in einer Kolonne gearbeitet und sei in dieser nicht als Vorarbeiter oder Polier oder sonst in herausgehobener Stellung eingesetzt worden, bzw er habe im Akkord gearbeitet.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 08.10.1976; Aktenzeichen L 9 J 1835/75 -2-)

SG Mannheim (Entscheidung vom 31.10.1975; Aktenzeichen S 3 J 23/74)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 8. Oktober 1976 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob dem Kläger eine Rente wegen Berufsunfähigkeit zusteht.

Der im Jahre 1943 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er ist in der Türkei als Zimmerer ausgebildet worden und war in seinem Heimatland als Zimmerer und im Bergbau tätig. Von Dezember 1968 bis Mai 1974 arbeitete er in der Bundesrepublik Deutschland mit Unterbrechungen als Zimmerer in einer Baukolonne. Während dieser Zeit sind für ihn 55 Monate Pflichtbeiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter erbracht worden. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) ist der Kläger durch die Folgen eines in der Bundesrepublik Deutschland erlittenen Arbeitsunfalls beim Gehen und Stehen behindert. Sitzende Tätigkeiten kann er vollschichtig verrichten.

Eine am 12. Juni 1974 beantragte Rentengewährung lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 30. September 1974 mit der Begründung ab, der Kläger sei noch nicht berufsunfähig. Das Sozialgericht (SG) Mannheim hat die gegen den Ablehnungsbescheid erhobene Klage mit Urteil vom 31. Oktober 1975 abgewiesen. Die vom Kläger dagegen eingelegte Berufung hat das LSG Baden-Württemberg mit Urteil vom 8. Oktober 1976 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger habe zwar in der Türkei eine Berufsausbildung als Zimmerer abgeschlossen, er sei jedoch in der Bundesrepublik nicht als Vorarbeiter oder Polier oder sonst in herausgehobener Stellung, sondern in einer Baukolonne als Zimmerer tätig gewesen. Er sei einer von vielen in einer Baukolonne tätigen Zimmerer und die Höhe seiner Einkünfte sei nicht die Folge der besonderen Qualifikation seiner Tätigkeit, sondern der von ihm geleisteten Überstunden gewesen. Deshalb könne er zu keiner höheren als der mittleren Gruppe der Arbeiterberufe zugeordnet werden. Ihm seien daher nicht nur alle Arbeiten der mittleren Leistungsgruppe, sondern auch jene der unteren Leistungsgruppe zuzumuten, abgesehen von Arbeiten völlig untergeordneter und niedrigerer Art. Deshalb sei er nicht berufsunfähig.

Auf die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des LSG hat der erkennende Senat mit Beschluß vom 30. März 1977 die Revision zugelassen.

Der Kläger hat Revision eingelegt und eine Verletzung des § 1246 Reichsversicherungsordnung (RVO) durch das Berufungsgericht gerügt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 8. Oktober 1976 aufzuheben und festzustellen, daß er seit Juli 1973 berufsunfähig ist.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers gegen das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 8. Oktober 1976 zurückzuweisen.

Die Beklagte ist der Ansicht, der Kläger sei zu Recht in die mittlere Gruppe der Arbeiterberufe eingeordnet worden. Von einem qualifizierten Facharbeiter unterscheide ihn schon die Tätigkeit in einer Kolonne. Damit habe er unter Anleitung eines Kolonnenführers zu arbeiten gehabt. Bei dieser Arbeitsweise hätten nicht die besonderen Fertigkeiten und Kenntnisse eines Zimmermanns im Vordergrund gestanden, sondern die eines Bauarbeiters schlechthin. Selbst wenn man aber von einer Facharbeitertätigkeit ausgehen würde, kämen für den Kläger Verweisungstätigkeiten in Betracht, wie Überwachungs- und Kontrolltätigkeiten, Bedienung von Apparaten und Maschinen, mechanisierte Produktionsarbeiten speziell in der holzverarbeitenden Industrie.

 

Entscheidungsgründe

Die durch Zulassung statthafte Revision des Klägers führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.

Nach den Feststellungen des LSG ist der Kläger in der Türkei als Zimmerer ausgebildet worden und in der Bundesrepublik Deutschland in einer Baukolonne als Zimmerer tätig gewesen. Es kann dahingestellt bleiben, ob aus diesen Feststellungen der Schluß gezogen werden muß, daß der Kläger in der Bundesrepublik als Facharbeiter tätig war, jedenfalls kann nach diesen Feststellungen die Einreihung der Tätigkeit des Klägers in die der Facharbeiter nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der Kläger sei in der Kolonne nicht als Vorarbeiter oder Polier oder sonst in herausgehobener Stellung eingesetzt gewesen. Diese Auffassung entspricht nicht der in § 1246 Abs. 2 RVO getroffenen Regelung und widerspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG). Wenn ein Handwerker in seinem erlernten Handwerksberuf Facharbeiten verrichtet hat, ist er als Facharbeiter tätig gewesen. Deshalb muß dann für diese Tätigkeit bei der Prüfung der Berufsunfähigkeit iS des § 1246 Abs 2 RVO auch von der Gruppe der Arbeiterberufe ausgegangen werden, deren Leitbild der Lehrberuf ist. Es kommt dann nicht darauf an, ob der Versicherte in einer Kolonne oder im Akkord gearbeitet hat, sondern lediglich darauf, ob er seinen erlernten Handwerksberuf ausgeübt hat. Voraussetzung für die Einstufung in die Gruppe der Facharbeiter ist nicht, daß er als solcher in herausgehobener Stellung eingesetzt worden ist. Dann wäre möglicherweise noch eine weitere Differenzierung vorzunehmen (vgl hierzu SozR 2200 § 1246 Nr 16).

Da es möglich ist, daß das LSG zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn es bei der Prüfung der Verweisbarkeit des Klägers von den dargelegten Grundsätzen ausgegangen wäre, mußte das Urteil des LSG aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen werden.

Eine abschließende Entscheidung durch den erkennenden Senat war nicht möglich, weil dem Senat zur Frage der Verweisbarkeit des Klägers noch Ermittlungen notwendig erscheinen. Wenn der Kläger in der Bundesrepublik Deutschland in seinem erlernten Handwerksberuf tätig gewesen ist, dann reichen nach der Rechtsprechung des BSG für die Feststellung der Verweisbarkeit oder der Nichtverweisbarkeit eines Facharbeiters allgemeine Formulierungen, die leicht zu formelhaften Begründungen werden können, nicht aus. Es müssen dann konkrete Feststellungen darüber getroffen werden, ob angelernte Arbeiten oder herausgehobene, ungelernte Tätigkeiten vorhanden oder nicht vorhanden sind, die unter Beachtung der Kenntnisse und Fähigkeiten des Klägers für eine Verweisung in Betracht kommen, wobei herausgehobene, ungelernte Tätigkeiten in der Regel nur anzunehmen sind, wenn sie wegen ihrer Qualität tariflich wie Tätigkeiten der übrigen Ausbildungsberufe (Angelernte) eingestuft sind (vgl SozR 2200 § 1246 Nrn 16, 21, 23; die Urteile des erkennenden Senats vom 31.Mai 1978 - 5 RJ 28/77 -, vom 29.Juni 1978 - 5 RJ 104/76 - und - 5 RJ 88/77 -, das Urteil des 1.Senats vom 15. März 1978 - 1/5 RJ 128/76 - und das Urteil des 4. Senats des BSG vom 19.April 1978 - 4 RJ 55/77 -).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1652950

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge