Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion
Leitsatz (amtlich)
Zur beruflichen Verweisbarkeit eines Melkermeisters.
Leitsatz (redaktionell)
Die sogenannte Gruppe des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion ist nur ein Beispiel für das Merkmal der "besonderen Anforderungen der bisherigen Berufstätigkeit" in RVO § 1246 Abs 2 S 2.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 19.08.1977; Aktenzeichen L 5 J 133/76) |
SG Schleswig (Entscheidung vom 16.01.1976; Aktenzeichen S 4 J 142/75) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 19. Juli 1977 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der 1926 geborene Kläger beansprucht Rente wegen Berufsunfähigkeit. Er hat von 1940 bis 1942 den Melkerberuf erlernt und war den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) zufolge bis 1954 als Melker, dann bis September 1974 als "Melkermeister" beschäftigt. Sein Leistungsvermögen reicht - insbesondere wegen erheblichen Übergewichts - nur noch für (vollschichtig) leichte, überwiegend im Sitzen zu verrichtende Tätigkeiten bei Fußwegen zum Arbeitsplatz bis zu einem Kilometer und/oder Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel aus. Den im August 1974 gestellten Rentenantrag des Klägers lehnte die Beklagte ab, weil keine Berufsunfähigkeit vorliege (Bescheid vom 13. Juni 1975).
Nachdem die Klage ohne Erfolg geblieben war (Urteil des Sozialgerichts - SG - Schleswig vom 16. Januar 1976), hat das Schleswig-Holsteinische LSG den Bescheid der Beklagten sowie das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, für die Zeit von September 1974 an Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Es hat im Urteil vom 19. Juli 1977 ausgeführt: Der Kläger sei im bisherigen Beruf des Melkers oder Melkermeisters nicht mehr einsatzfähig. Er könne auch keine zumutbare Verweisungstätigkeit ausüben. Auszugehen sei von einem beruflichen und wirtschaftlichen Status, der den Kläger deutlich aus dem Kreis sonstiger Facharbeiter heraushebe. Das ergebe die vom SG eingeholte Auskunft der Landwirtschaftskammer Schleswig-Holstein in Verbindung mit den glaubhaften Angaben des Klägers, der demzufolge 21 Jahre eine Herde von ca 120 Milchkühen betreut habe. Dabei seien ihm bis zu vier fachkundige Mitarbeiter unterstellt gewesen. Deshalb erscheine es gerechtfertigt, ihn der Gruppe der Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion zuzuordnen. Nach dem Urteil des 5. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. März 1977 - 5 RJ 98/76 - (inzwischen veröffentlicht in BSGE 43, 243 = SozR 2200 § 1246 Nr 16) beschränke dies die Verweisbarkeit auf Facharbeiterberufe. Eine solche Tätigkeit komme für den Kläger solange nicht in Betracht, als er nicht durch gezielte Ausbildung in Verbindung mit praktischer Berufserfahrung die Voraussetzungen einer für Facharbeiter vorgesehenen tariflichen Lohngruppe erfülle. Dem Kläger stehe die Berufsunfähigkeitsrente zu mit der Maßgabe, daß wegen des zwischenzeitlich durchgeführten Heilverfahrens für die Zeit vom 1. September 1974 bis zum 3. Februar 1975 Übergangsgeld zu gewähren sei.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision wendet sich die Beklagte gegen eine Ausweitung der bisherigen Dreigruppeneinteilung; sie bezweifelt, daß die Heraushebung des "Vorarbeiters mit Leitungsfunktion" geboten sei und der sozialen Wirklichkeit entspreche. Im übrigen habe sich das LSG nicht mit seinen kurzen Feststellungen begnügen dürfen, sondern weitere Ermittlungen anstellen müssen im Hinblick darauf, daß von einer Prüfung des Klägers als Melkermeister nichts bekannt sei; auch ein Vergleich des von der Landwirtschaftskammer angegebenen durchschnittlichen Arbeitseinkommens eines Melkers mit dem Arbeitsverdienst des Klägers sei unterblieben.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 19. Juli 1977 aufzuheben und den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die tarifliche Einstufung nicht für entscheidend und macht unter Beifügung von Zeugnisfotokopien geltend, über zwei Jahrzehnte eine mit besonderer Verantwortung und Selbständigkeit verbundene Meisterstellung ausgefüllt zu haben.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet; das angefochtene Urteil muß aufgehoben und der Rechtsstreit zurückverwiesen werden. Die Feststellungen des LSG genügen für eine abschließende Entscheidung nicht.
Das LSG hat, ohne daß insoweit von der Revision Einwendungen erhoben worden sind, den Kläger im Hinblick auf die medizinische Beurteilung des Leistungsvermögens für unfähig gehalten, den "Beruf als Melker bzw Melkermeister" noch auszuüben. Ob der Kläger berufsunfähig ist, hängt demnach davon ab, welche seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden "Tätigkeiten... ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können" (§ 1246 Abs 2 S 2 Reichsversicherungsordnung - RVO -). Ausgangspunkt dafür, welche sogenannten Verweisungsberufe für den Versicherten in Betracht kommen, ist dessen "bisheriger Beruf" (Hauptberuf); dieser muß zunächst ermittelt und dann nach vorgenannten Kriterien bewertet werden. Hierzu hat die Rechtsprechung des BSG aus Praktikabilitätsgründen ein - nicht starr anzuwendendes - Dreistufenschema entwickelt, das die Arbeiterberufe in eine obere Gruppe (anerkannte Ausbildungsberufe mit einer Ausbildungszeit von mindestens zwei Jahren, Leitberuf: Facharbeiter), eine mittlere Gruppe (anerkannte Ausbildungsberufe mit einer Regelausbildungszeit von weniger als zwei Jahren, Leitberuf: sonstiger Ausbildungsberuf) und die untere Gruppe der ungelernten Arbeiter unterteilt (zB BSGE 38, 153 = SozR 2200 § 1246 Nr 4; BSG 41, 129, 131 = SozR aaO Nr 11); grundsätzlich darf auf die nächstniedrigere Gruppe und unter bestimmten Voraussetzungen auf die untere Gruppe verwiesen werden (vgl ua SozR Nr 103 zu § 1246 RVO und SozR 2200 § 1246 Nrn 4, 17, 21).
Der 5. Senat des BSG hat nun mit dem bereits vom LSG erwähnten Urteil vom 30. März 1977 (BSGE 43, 243) das bisherige Schema insofern ergänzt, als er die Versicherten mit Leitungsfunktionen wie zB die des Meisters und Hilfsmeisters im "Arbeitsverhältnis" (im Sinne von Arbeiterverhältnis anstatt Angestelltenverhältnis), des Hilfspoliers und bestimmter Vorarbeiter, deren Berufstätigkeit infolge besonderer geistiger und persönlicher Anforderungen die des Facharbeiters in ihrer Qualität noch deutlich überragt, in einer besonderen Gruppe (Leitberuf: Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion) zusammengefaßt und die Verweisbarkeit von Angehörigen dieser Gruppe auf solche Tätigkeiten beschränkt, die tariflich wie Facharbeitertätigkeiten eingestuft sind; schlichte Vorarbeiter, die keine wesentlich anderen Arbeiten als die der Gruppe der Facharbeiter angehörenden Arbeitskollegen verrichten, sowie Vorarbeiter, die sich nur durch eine etwas herausgehobene Stellung innerhalb von Arbeitsgruppen Ungelernter oder Angelernter auszeichnen, fallen nicht in die genannte Gruppe.
Der erkennende Senat ist der vorbezeichneten Rechtsauffassung zwar mit dem zur Veröffentlichung vorgesehenen Urteil vom 19. Januar 1978 - 4 RJ 81/77 - im Ergebnis nicht entgegengetreten, hat aber Zweifel angemeldet, ob es insoweit einer eigenen neuen Gruppe von Arbeitern bedarf. Denn auch der Facharbeiter, der "Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion" geworden ist, bleibt Facharbeiter; insofern fehlt die berufssystematische Unterscheidungsmöglichkeit, die im Verhältnis zwischen den drei bisherigen Gruppen besteht (wegen der Bedenken gegen eine vierte Gruppe vgl insbesondere Schmeiduch in Mitt LVA Rheinprovinz 1978, S 322 ff, 324, 325). Dies bedeutet aber andererseits nicht, daß für einen im vorbeschriebenen Sinn qualifizierten Vorarbeiter keine anderen Verweisungsregeln gelten dürften als für sonstige Facharbeiter. Er kann vielmehr unter bestimmten Umständen aus dem Kreis der Facharbeiter so weit herausragen, daß ihm wegen der zu den "besonderen Anforderungen seiner Berufstätigkeit" im Sinne des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO gehörenden herausgehobenen Stellung im Betrieb (vgl hierzu Urteil des Senats vom 23.3.1977 - 4 RJ 29/76 - und Zweng/Scheerer, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 2. Aufl, 3. Lfg, § 1246 S 35) nur die Verweisung auf Facharbeitertätigkeiten zumutbar ist. Regelmäßig müssen dann jedoch die Weisungsbefugnisse nicht nur gegenüber Angelernten und Hilfsarbeitern, sondern gegenüber mehreren Facharbeitern sowie die Zugehörigkeit zur Spitzengruppe in der Lohnskala der Arbeiter verlangt werden (Urteil des Senats vom 19. Januar 1978 - 4 RJ 81/77 -). Der Senat hat diese enge Begrenzung für erforderlich gehalten, um zu verhindern, daß in einzelnen Bereichen, wo "Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion" möglicherweise häufiger anzutreffen sind - etwa Bauwirtschaft und Bergbau -, bevorzugt die Möglichkeit zu solcher Beschränkung der Verweisungsbreite besteht. Um eine ausgewogene Lösung herbeizuführen, hat der Senat ferner in jenem Urteil die "besonders hoch qualifizierten Facharbeiter" den "Vorarbeitern mit Vorgesetztenfunktion" gleichgestellt, jedoch hinzugefügt, die qualifizierte Tätigkeit müsse auch tatsächlich verrichtet werden; es genüge nicht, wenn für die Einstufung in erster Linie das Lebensalter oder die langjährige Betriebszugehörigkeit maßgebend sei.
Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, daß der Kläger als "Melkermeister" einen beruflichen Status erlangt habe, der ihn aus dem Kreis sonstiger Facharbeiter deutlich heraushebe; es hat den Kläger der Gruppe der "Vorarbeiter mit Vorgesetztenfunktion" zugeordnet und deshalb dessen Verweisbarkeit auf (andere) Facharbeiterberufe oder entsprechend tariflich eingestufte Tätigkeiten begrenzt. Die hierzu getroffenen Feststellungen reichen indessen für diese Beurteilung nicht aus und sind zudem teilweise verfahrensfehlerhaft zustande gekommen.
Zunächst stellt sich die Frage, welche Bedeutung der Berufsbezeichnung "Melkermeister" hier zukommt. Die - anscheinend erstmals - in der Revisionsinstanz vorgelegten Zeugnisse darf der Senat nicht berücksichtigen. Es bleibt auch offen, ob und unter welchen Voraussetzungen der Begriff "Melkermeister" als bestimmte berufliche Stellung zu verstehen ist, die durch Ablegung einer Prüfung erworben wird (vgl hierzu Molle, Wörterbuch der Berufs- und Berufstätigkeitsbezeichnungen, 1975, Grenzland-Verlag, S 524). Ermittlungen in dieser Richtung fehlen, hätten sich aber aufgedrängt, zumal der Kläger bis zur mündlichen Verhandlung in der Berufungsinstanz selbst nur vom Beruf des Melkers gesprochen hatte. Soweit das LSG im Anschluß an die Auskunft der Landwirtschaftskammer Schleswig-Holstein und den dort zugrunde gelegten durchschnittlichen schleswig-holsteinischen Lohnarbeitsbetrieb mit 50 Kühen ein wesentliches Merkmal für die tarifliche Einstufung des Klägers darin gesehen hat, daß dieser nach seinen glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung über 20 Jahre lang eine Herde von 120 Milchkühen betreut habe, läßt es offen, welcher Tarifgruppe der Kläger überhaupt angehört und ob er an der Spitze der Lohnskala der Arbeiter gestanden hat. Die Auskunft der Landwirtschaftskammer war für die Beweiswürdigung in dem hier interessierenden Zusammenhang ohnehin schwerlich geeignet, weil sich die Anfrage des SG lediglich auf das durchschnittliche Arbeitseinkommen eines gelernten Melkers gerichtet hatte. Mit Recht macht die Beklagte geltend, daß das LSG auch nicht dieses durchschnittliche Arbeitseinkommen mit demjenigen des Klägers verglichen hat; es kann also hieraus kein Anhaltspunkt für die tarifliche Eingruppierung des Klägers gewonnen werden. Ob der Kläger - was der Senat für rechtserheblich hält - gegenüber mehreren anderen Facharbeitern weisungsbefugt war, läßt sich den Feststellungen des LSG ebenfalls nicht entnehmen. Danach sind dem Kläger dessen Angaben zufolge "bis zu vier fachkundige Mitarbeiter zugeordnet gewesen". Es muß noch geprüft werden, wann und wieviel Arbeiter jeweils dem Kläger unterstellt waren und wie sich diese auf Facharbeiter (Melker), Angehörige sonstiger Ausbildungsberufe und ungelernte Arbeiter verteilt haben. Ferner wird zu ermitteln sein, worin sich die etwaige Unterstellung der Mitarbeiter geäußert hat, welche Weisungen der Kläger erteilen durfte, ob er für die Arbeit anderer Melker verantwortlich war und worin sich dies zeigte, inwieweit er selbst mitgearbeitet hat sowie welche Anordnungen ihm gegeben wurden. Dabei kann es auch von Bedeutung sein, wie der Kläger und wie seine Hilfskräfte entlohnt wurden, ob der Arbeitsverdienst des Klägers wesentlich höher war als der seiner Mitarbeiter und bejahendenfalls, ob dies in einer herausgehobenen Stellung des Klägers oder einer vermehrten Arbeitsleistung begründet war. Erst nach den vorbezeichneten Ermittlungen - etwa nach Vernehmung früherer Arbeitgeber und Arbeitskollegen - wird sich feststellen lassen, ob der Kläger eine Spitzenstellung als Arbeiter innehatte und deshalb nur auf andere Facharbeitertätigkeiten oder Tätigkeiten verwiesen werden kann, die wegen ihrer Qualitätsmerkmale Facharbeitertätigkeiten gleichstehen, was in der Regel in der tariflichen Einstufung zum Ausdruck kommt (vgl BSGE 43, 243 und Urteile des 5. Senats vom 22. September 1977 - 5 RJ 96/76 - sowie des erkennenden Senats vom 19. Januar 1978 - 4 RJ 81/77 -). Bejahendenfalls dürfte es sich empfehlen, einen berufskundigen Sachverständigen zuzuziehen wegen der sich dann stellenden Frage, welche zum bisherigen Berufskreis gehörenden Tätigkeiten im Hinblick auf die durch hohe Qualifikation erworbenen Fähigkeiten in Betracht kommen (etwa auch als Angestellter in mit Landwirtschaft und Viehzucht befaßten Organisationen). Ergibt sich dagegen, daß der Kläger nur als "schlichter" Facharbeiter einzugruppieren ist, so besteht eine - vom LSG bisher ebenfalls nicht geprüfte - Verweisbarkeit auch auf sonstige Ausbildungsberufe und solche Tätigkeiten der unteren Gruppe, die sich durch besondere Qualifikationsmerkmale aus dem Kreis der übrigen ungelernten Tätigkeiten hervorheben, wofür wiederum die tarifliche Einstufung in der Regel ein wichtiges Indiz ist.
Die hernach noch erforderlichen Ermittlungen muß das Berufungsgericht als Tatsacheninstanz anstellen. Der Rechtsstreit war deshalb zurückzuverweisen. Sollte das LSG wiederum zu dem Ergebnis kommen, daß der Kläger berufsunfähig ist, wäre nicht nur klarstellend durch die Entscheidungsgründe, sondern bereits - dem Antrag folgend - im Urteilstenor auszusprechen, daß für die Zeit vom 1. September 1974 bis zum 3. Februar 1975 Übergangsgeld zu gewähren ist.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen