Entscheidungsstichwort (Thema)
Mangelnde Sachaufklärung bei Verwertung von Aktenlagegutachten. Vorwegnahme der Beweiswürdigung
Orientierungssatz
1. Stützt sich ein Sachverständigengutachten (Aktenlagegutachten) auf Befunde, die eine Ärztekommission ohne ausreichende Spezialerfahrung und Praxis erhoben hatte, um den medizinischen Fragenkomplex zu klären, so verletzt das Gericht seine Aufklärungspflicht gemäß § 103 SGG, wenn es nicht eine Untersuchung und Begutachtung durch einen Arzt des fraglichen Fachgebiets veranlaßt.
2. Es liegt eine unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung vor, wenn das Gericht davon ausgeht, die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs mit schädigenden Kriegsereignissen sei wegen des Zeitablaufs und des Alters des Klägers selbst dann zu verneinen, wenn psychische Auffälligkeiten festzustellen wären.
Normenkette
SGG § 103 Fassung: 1974-07-30, § 128 Abs 1 S 1 Fassung: 1953-09-03; BVG § 1 Abs 1; BVG § 1 Abs 3 S 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 12.12.1980; Aktenzeichen L 8 V 378/79) |
SG Stuttgart (Entscheidung vom 28.07.1978; Aktenzeichen S 16 V 1759/77) |
Tatbestand
Der in Polen lebende Kläger begehrt Teilversorgung. Er hatte am ersten Weltkrieg teilgenommen und dabei im Oktober 1916 durch eine Minenexplosion eine Kopfverletzung erlitten. Nach einem militärärztlichen Zeugnis aus dem Jahre 1917 waren eine ausgedehnte Schädelnarbe und Herzschwäche als Kriegsdienstbeschädigung festgestellt und die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit 20 vH bewertet worden. Der Kläger ist im Juni 1917 wegen Kriegsunbrauchbarkeit aus dem Heeresdienst entlassen worden. Er hatte bis Dezember 1918 Versorgungsrente nach einer MdE um 20 vH (= 9 M) sowie eine Kriegszulage von monatlich 15 M bezogen. Von 1926 bis 1939 ist dem Kläger vom polnischen Staat eine Kriegsinvalidenrente zuerkannt worden. Seit 1963 gewährt ihm die polnische Invalidenversicherung eine Altersrente. Grundlage hierfür war ein Gutachten der polnischen Bezirksärztekommission aus dem Jahre 1964. Darin ist der Kläger wegen des allgemeinen Gesundheitszustandes in die zweite Invalidengruppe, jedoch im Zusammenhang mit dem Militärdienst in die dritte Invalidengruppe eingereiht worden. Als dem Militärdienst zurechenbare Leiden sind darin eine Narbe an der Stirn mit Knochendefekt, "die Schwindelanfälle und Kopfschmerzen verursache", festgehalten. Diese auf den Militärdienst zurückgeführten Gesundheitsstörungen waren bereits in dem im Jahre 1934 ausgestellten Invalidenbuch Nr 3078 eingetragen gewesen. Insoweit wird auf eine Entscheidung der Ärzte-Militärkommission bei dem Bezirkskommando O vom 30. Oktober 1925 Bezug genommen.
Die Versorgungsverwaltung lehnte eine Teilversorgung ab (Bescheid vom 16. Juni 1976; Widerspruchsbescheid vom 16. Januar 1977). Sie stützt sich bei ihrer ablehnenden Entscheidung auf die vom Versorgungsamt veranlaßte Untersuchung der polnischen Bezirksärztekommission von 18. November 1975, an der ein Chirurg und ein Internist beteiligt waren, sowie auf eine ärztliche Stellungnahme nach Aktenlage. Danach sind die durch den Kriegsdienst verursachten Gesundheitsstörungen "Narben auf der Stirn mit oberflächigem Knochendefekt, am rechten Oberarm, der rechten Brustseite und am linken Unterschenkel ohne Funktionsbehinderung" mit einer MdE um unter 25 vH zu bewerten.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Der vom Erstgericht gehörte Sachverständige, ein Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, hat in seinem Aktenlagegutachten ua ausgeführt, eine Hirnverletzung sei generell auch dann nicht ausgeschlossen, wenn der innere Teil der Schädelkapsel (die sogenannte Tabula interna) nicht verletzt worden sei. Jedoch seien - so meint der Sachverständige - weitere psychische und neurologische Ausfallerscheinungen nicht nachzuweisen.
Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen. Es hat ua ausgeführt: Die Ursache der im Gutachten vom Jahre 1964 erwähnten Gesundheitsstörungen bleibe offen. Möglicherweise seien bei dem seinerzeitigen Alter des Klägers von 69 Jahren Altersabbaufaktoren verantwortlich gewesen. Jedenfalls sei der Kausalzusammenhang mit der über 45 Jahre zurückliegenden Verwundung nicht wahrscheinlich, zumal entsprechende ärztliche Befunde als Brückensymptome fehlten. Die Anordnung einer nervenfachärztlichen Untersuchung entsprechend dem in der Berufungsinstanz gestellten Hilfsantrag des Klägers sei nicht sachdienlich. Selbst wenn heute psychische Auffälligkeiten feststellbar wären, seien diese wegen des Zeitablaufes und des Alters des Klägers nicht mit Wahrscheinlichkeit auf das schädigende Ereignis zurückzuführen.
Der Kläger rügt mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision als wesentlichen Verfahrensmangel eine unzureichende Sachaufklärung (§ 103 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Die im Jahre 1916 erlittene Kopfverletzung hätte zu bleibenden Gesundheitsstörungen geführt. Dies hätte das LSG entsprechend dem Antrag des Klägers durch ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten aufklären müssen. Die unterlassene Beweiserhebung hätte weitere Schädigungsfolgen in einem rentenberechtigenden Grad ergeben.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und den Beklagten unter
Abänderung des Urteils des SG sowie der zugrundeliegenden
Bescheide zu verurteilen, dem Kläger ab Antragstellung
sowie für die davorliegende Zeit der nicht erhaltenen
Versorgung Beschädigtenrente zu gewähren.
Der Beklagte hat sich dem Revisionsvorbringen des Klägers angeschlossen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers hat Erfolg. Wie zutreffend gerügt, hat das LSG den Sachverhalt über die tatsächlichen Voraussetzungen für die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen nicht hinreichend von Amts wegen aufgeklärt und damit § 103 SGG verletzt. Infolgedessen ist das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Nach dem hier maßgeblichen Rechtsstandpunkt des LSG war es erheblich, ob psychische Ausfallerscheinungen bestehen und bejahendenfalls diese mit Wahrscheinlichkeit ursächlich auf das schädigende Ereignis (Minenexplosion im Oktober 1916) zu beziehen sind (§ 1 Abs 3 Satz 1 Bundesversorgungsgesetz -BVG-). Wenn das Berufungsgericht seine insoweit ablehnende Entscheidung auf ein im Klageverfahren nach Aktenlage erstelltes Sachverständigengutachten eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie stützt, bilden diese Tatsachenfeststellungen keine ausreichende Entscheidungsgrundlage. Der Sachverständige hatte zwar eine "gedeckte Hirnverletzung" nicht von vornherein ausgeschlossen, jedoch die Meinung vertreten, psychische und neurologische Ausfallerscheinungen seien nicht nachweisbar. Dagegen wendet sich der Kläger zu Recht. Das Sachverständigengutachten stützt sich auf Befunde, die die polnische Ärztekommission im Auftrag der Versorgungsbehörde im Jahre 1975 sowie die polnische Bezirksärztekommission im Jahre 1964 erhoben hatten. Die Mitglieder beider Kommissionen hatten auf dem Gebiet der Neurologie und Psychiatrie nicht erkennbar die Spezialerfahrung und Praxis, um den medizinischen Fragenkomplex einwandfrei abzuklären. Dieser Unzulänglichkeit hätte das Berufungsgericht Rechnung tragen müssen. Eine Untersuchung und Begutachtung durch einen Arzt des fraglichen Fachgebietes erscheint unumgänglich (BSG SozR Nr 14 zu § 103 SGG; Nr 28 zu § 164 SGG).
Ferner rügt der Kläger zutreffend eine unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung (BSG KOV 75, 159). Das LSG hätte bei dem derzeitigen Sachstand nicht davon ausgehen dürfen, die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs mit schädigenden Ereignissen des Kriegsdienstes sei wegen des Zeitablaufs und des Alters des Klägers selbst dann zu verneinen, wenn psychische Auffälligkeiten festzustellen wären. Damit spricht das LSG, ohne dies stichhaltig belegt zu haben, den - noch zu erhebenden - Befunden sowie den gegebenenfalls vorhandenen Ausfallerscheinungen von vornherein jeglichen Aussagewert in bezug auf den wahrscheinlichen schädigungsbedingten Ursachenzusammenhang ab. Darauf durfte das Berufungsgericht nicht abheben. Selbst wenn im Einzelfall den Ermittlungen gewisse Erschwernisse entgegenstehen, rechtfertigt dies nicht, von der Einholung eines Sachverständigengutachtens abzusehen. Überdies sind Unterlagen vorhanden, die unter Umständen auf Brückensymptome hinweisen könnten. So hatte die Militärärztekommission beim Bezirkskommando O nach einer entsprechenden Eintragung im Invalidenbuch bereits am 30. Oktober 1925 eine "vertiefte Narbe an der Stirn mit Knochendefekt, die Schwindelanfälle mit Kopfschmerzen verursacht", festgestellt. Möglicherweise beruht darauf die von 1926 bis 1939 vom polnischen Staat gewährte Kriegsinvalidenrente. Beachtenswert sind ebenfalls die der Bezirksärztekommission gegenüber im Jahre 1964 gemachten anamnestischen Angaben über Kopfschmerzen und Gleichgewichtsstörungen. Schließlich hatte diese polnische Ärztekommission den im Zusammenhang mit dem Militärdienst erlittenen Gesundheitsstörungen besondere Bedeutung beigemessen und deswegen den Kläger von der zweiten in die dritte Invalidengruppe schon für die Zeit vor Dezember 1956 eingestuft. Auch hatte der in der ersten Instanz zugezogene Sachverständige bei der Art der Verwundung eine "gedeckte Hirnverletzung" nicht auszuschließen vermocht.
Das Berufungsurteil beruht auf den aufgezeigten Verfahrensmängeln. Die unterlassene Beweiserhebung hätte ergeben können, daß weitere Gesundheitsstörungen nach § 1 BVG anzuerkennen sind und damit die Schädigungsfolgen insgesamt, also unter Einschluß der bereits anerkannten, die Erwerbsfähigkeit des Klägers in einem für die Teilversorgung berechtigenden Grad mindern.
Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.
Fundstellen