Leitsatz (amtlich)
Gerät ein Kraftfahrer durch unternehmensfremde Tätigkeit in einen Zustand unüberwindlicher Übermüdung und kann er deswegen nicht mehr verkehrssicher fahren, so verliert er den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
Normenkette
RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 26. Oktober 1955 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger betreibt eine Autovermietung in Kirchenlamitz (Ofr.). Am 14. August 1952 fuhr er sieben junge Leute des Rhönradsportvereins Schwarzenbach (Saale) in einem VW-Kleinomnibus zu Vorführungen nach dem 40 bis 50 km entfernten Ort Pressath. Nachdem er um 17,30 Uhr dort angekommen war, tankte er und ließ einen Reifen wechseln; dann ging er mit seinem Bekannten D, den er in dem VW-Bus mitgenommen hatte, zum Baden. Nach dem Abendessen - zwischen 20,00 und 21,00 Uhr - brachte der Kläger zunächst die Sportgruppe zum Festzelt; dann fuhr er mit L und zwei Mädchen, die er in Pressath kennengelernt hatte, nach dem nahegelegenen Grafenwörth. Nachdem sie dort Wein getrunken hatten, kehrten die vier gegen 22,30 Uhr nach Pressath zurück, um sich auf einem Festplatz u.a. mit Blumenschießen und Biertrinken zu vergnügen. Gegen 1,00 Uhr nachts brachte der Kläger zusammen mit L die beiden Mädchen in ihre außerhalb von Pressath gelegene Wohnung, gegen 2,00 Uhr holte er die Sportler zur Rückfahrt ab. Während das Gepäck eingeladen wurde, schlief der Kläger ein; er konnte nur mit Mühe geweckt werden. Unterwegs geriet er mehrmals hart an den Rand der Fahrbahn, so daß einmal der Fahrgast Sch ins Steuerrad und ein anderes Mal L zur Handbremse greifen mußte. Bei einem Zwischenhalt trank der Kläger wieder Bier. Als später Nebel aufkam, weigerte er sich wegen der schlechten Sicht zunächst weiterzufahren; auf Drängen des Führers der Sportgruppe setzte er nach einstündiger Pause die Fahrt fort. Wenige Kilometer vor dem Ziel Schwarzenbach streifte der VW-Bus auf abschüssiger Straße einen links am Fahrbahnrand stehenden Baum und fuhr auf den nächsten Baum auf. Alle Fahrgäste wurden verletzt. Der Kläger trug eine leichte Gehirnerschütterung und Knochenbrüche am Arm und Schultergelenk davon; ein Teil des linken Ringfingers mußte amputiert werden. Die um 6,00 Uhr - 1 1/2 Stunden nach dem Unfall - bei ihm entnommene Blutprobe ergab einen Alkoholgehalt von 0,56 0 / 00 .
Durch Bescheid vom 24. April 1953 lehnte die Beklagte es ab, den Kläger aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu entschädigen, weil er infolge Übermüdung und Alkoholgenusses fahruntüchtig gewesen sei und der Unfall deshalb nicht im Zusammenhang mit dem Unternehmen stehe.
Auf die Berufung des Klägers hat das Oberversicherungsamt (OVA.) Nürnberg durch Urteil vom 14. Juli 1953 den Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, dem Kläger für die durch den Unfall vom 15. August 1952 verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit Entschädigung zu leisten, und zwar vorläufig durch Zahlung von 100,- DM. Zur Begründung seiner Entscheidung hat das OVA. ausgeführt: Es sei nicht erwiesen, daß der Kläger infolge übermäßigen Alkoholgenusses außerstande gewesen sei, den VW-Bus verkehrssicher zu steuern. Vielmehr sei der Unfall auf Übermüdung zurückzuführen, die nicht auf Alkoholgenuß, sondern auf anderen Umständen beruhe. Durch Übermüdung werde der Zusammenhang mit dem Unternehmen nicht gelöst.
Hiergegen hat die Beklagte form- und fristgerecht Rekurs eingelegt. Nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist das Rechtsmittel als (weitere) Berufung auf das Bayerische Landessozialgericht (LSG.) übergegangen. In dieser Instanz hat der Kläger behauptet: Es sei ursprünglich beabsichtigt gewesen, die Rückfahrt erst am Morgen des 15. August anzutreten; bei Einhaltung dieses Planes hätte er Gelegenheit gehabt, sich vorher in seinem Wagen auszuruhen. Im übrigen habe seine Übermüdung mit seiner Betriebstätigkeit im Zusammenhang gestanden, und der Unfall sei nicht auf die Übermüdung, sondern auf technische Fehler seines Fahrzeuges zurückzuführen.
Nach Vernehmung einiger Mitglieder der Sportgruppe als Zeugen hat das LSG. am 26. Oktober 1955 das Urteil des OVA. Nürnberg aufgehoben und die Klage abgewiesen. In tatsächlicher Hinsicht hat es festgestellt, daß verabredet gewesen sei, die Rückfahrt nicht erst nach einer Übernachtung in Pressath, sondern noch in der Nacht zum 15. August durchzuführen, weil die Sportler in der Frühe dieses Tages ihrer Arbeit hätten nachgehen müssen. Ferner hat es als erwiesen angesehen, daß der Unfall nicht auf einen technischen Mangel des Fahrzeugs, sondern allein auf die unüberwindliche Übermüdung des Klägers, die ihn in einen halbschlafähnlichen Zustand versetzt habe, zurückzuführen sei. Aus dem festgestellten Sachverhalt hat das LSG. gefolgert, der Kläger sei infolge unüberwindlicher Übermüdung, hervorgerufen durch überwiegend eigenwirtschaftliche Verrichtungen, wie Alkoholgenuß und sonstige Vergnügungen, nicht in der Lage gewesen, sein Kraftfahrzeug verkehrssicher zu steuern. Somit sei der für die Anerkennung eines Entschädigungsanspruchs unerlässliche innere Zusammenhang mit der versicherten Arbeitstätigkeit gelöst gewesen. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der von ihm entschiedenen Rechtsfrage hat das LSG. die Revision zugelassen.
Das Urteil ist dem Kläger am 1. Dezember 1955 zugestellt worden. Er hat hiergegen am 30. Dezember 1955 Revision eingelegt und diese am 30. Januar 1956 begründet. Unter Hinweis auf eine Entscheidung des Reichsversicherungsamts (RVA.) vom 31. Oktober 1941 (I a 512/407) vertritt er die Auffassung, daß unüberwindliche Übermüdung - im Unterschied zur Trunkenheit - nicht zur Lösung vom Betrieb führe; dies müsse schon deshalb gelten, weil es sehr schwierig festzustellen sei, wann die Ermüdung ein Ausmaß erreicht habe, das Fahruntüchtigkeit zur Folge habe. Der Kläger bestreitet, daß er unüberwindlich übermüdet gewesen sei. Ferner meint er, das Beweisergebnis rechtfertige nicht den Schluß, daß seine Übermüdung überwiegend durch eigenwirtschaftliche Tätigkeit verursacht worden sei.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG. aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm für die durch den Unfall vom 15. August 1952 verursachte Minderung der Erwerbsfähigkeit Entschädigung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie führt aus: Eine Arbeit im Sinne des § 542 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) könne nicht verrichten, wer psychisch und physisch dazu nicht in der Lage sei. Auf den Grund der Arbeitsunfähigkeit komme es nur insofern an, als zwischen betrieblichen und betriebsfremden Einflüssen auf die Arbeitsfähigkeit zu unterscheiden sei. Die Feststellungen, die das LSG. hinsichtlich der Übermüdung des Klägers und deren Ursachen getroffen habe, seien nur mit Verfahrensrügen angreifbar. Solche Rügen habe die Revision nicht erhoben, jedenfalls nicht in der durch § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG vorgeschriebenen Form.
Die vom LSG. zugelassene Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Das LSG. ist mit Recht davon ausgegangen, daß der Begriff des Arbeitsunfalles nach § 542 RVO einen ursächlichen Zusammenhang des schädigenden Ereignisses mit der versicherten Tätigkeit erfordert. Dies ist in der Rechtsprechung und im Schrifttum allgemein anerkannt und wird auch von der Revision nicht in Zweifel gezogen. Den ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit hat das LSG. in dem hier zu entscheidenden Fall verneint, weil der Unfall auf unüberwindliche Übermüdung des Klägers zurückzuführen sei, die überwiegend auf betriebsfremden Umständen beruhe. Dieser Rechtsauffassung des Vorderrichters ist der Senat beigetreten.
Das RVA. hat in seiner neueren Rechtsprechung den Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit als gelöst angesehen, wenn der Versicherte nicht die Fähigkeiten besitzt, die für die jeweils in Betracht kommenden Verrichtungen erforderlich sind (vgl. EuM. 46 S. 405). Für einen Kraftfahrer bedeutet dies, daß der Versicherungsschutz entfällt, wenn der Versicherte nicht mehr in der Lage ist, verkehrssicher zu fahren; denn bei den erhöhten Anforderungen des modernen Straßenverkehrs ist die mangelnde Fähigkeit, verkehrssicher zu fahren, der Fahrunfähigkeit gleichzustellen. Der vom RVA. a.a.O. aufgestellte Grundsatz hat in der Rechtsprechung und im Schrifttum der letzten Jahre weitgehend Zustimmung gefunden (vgl. z.B. Bayer. LVAmt in Breithaupt 1952 S. 654; Hess. LSG. in Breithaupt 1955 S. 477; LSG. Celle in Breithaupt 1955 S. 931; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 4. Aufl., Bd. II S. 489; Wagner, Der Arbeitsunfall, 3. Aufl., S. 150 f.; Sperling in BG. 1956 S.116; u.A. z.B. LSG. Baden-Württemberg in Breithaupt 1954 S. 897; Klink in WzS. 1956 S. 166). Auch der erkennende Senat hat sich dieser Rechtsmeinung hinsichtlich angetrunkener Kraftfahrer angeschlossen. Er hat in einem Urteil vom 30. Mai 1956 einem Kraftfahrer, der sich aus unternehmensfremden Gründen durch Alkoholgenuß in den Zustand der Fahruntüchtigkeit versetzt hatte, den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung versagt (NJW. 1956 S. 1574).
Was für die Fahruntüchtigkeit infolge Trunkenheit gilt, trifft nach der Ansicht des Senats auch auf die Fahruntüchtigkeit infolge unüberwindlicher Übermüdung zu. Der Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit eines Kraftfahrers hängt von seiner Fähigkeit ab, verkehrssicher zu fahren; ob das Fehlen dieser Fähigkeit im Einzelfall auf Trunkenheit oder Übermüdung beruht, macht für die rechtliche Beurteilung des Zusammenhangs keinen Unterschied. Die gegenteilige, in der Entscheidung des RVA. vom 31. Oktober 1941 zum Ausdruck gekommene Auffassung überzeugt nicht. Es mag zwar weniger Schwierigkeiten bereiten, den Grad der Alkoholbeeinflussung zu ermitteln und deren Wirkung auf die Fahrfähigkeit zu beurteilen, als den Grad der Übermüdung und ihren Einfluß auf die Fahrfähigkeit festzustellen. Solche Beweisschwierigkeiten im allgemeinen verbieten jedoch nicht, den Zusammenhang zwischen Unfall und versicherter Arbeitstätigkeit in den Fällen zu verneinen, in denen - wie in dem hier zu entscheidenden Rechtsstreit - einwandfrei feststeht, daß der Kraftfahrer infolge Übermüdung nicht in der Lage war, verkehrssicher zu fahren. Ebensowenig steht § 542 Abs. 2 RVO, auf den das RVA. a.a.O. hingewiesen hat, der vom Senat vertretenen Auffassung entgegen. Diese Vorschrift, nach der verbotswidriges Handeln die Annahme eines Arbeitsunfalles nicht ausschließt, setzt einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Unfall und versicherter Arbeitstätigkeit voraus. Im vorliegenden Falle besteht ein solcher Zusammenhang jedoch nicht, weil der Kläger nicht mehr in der Lage war, die versicherte Tätigkeit auszuüben. Indes würde die Fahrunfähigkeit den Zusammenhang mit der versicherten Arbeitstätigkeit nicht beeinträchtigen, wenn die sie verursachende Übermüdung ausschließlich oder wesentlich auf Umstände des Betriebs, z.B. auf stundenlange anstrengende Tätigkeit im Betrieb zurückzuführen wäre. Deshalb hat es der Vorderrichter beim Ausschluß des Versicherungsschutzes durch Übermüdung mit Recht auf die betriebsfremden Umstände als Ursache der Übermüdung abgestellt.
Unter diesen somit zu billigenden Rechtssatz hat der Vorderrichter die von ihm festgestellten Tatsachen in rechtlich bedenkenfreier Weise subsumiert. Bei der Prüfung dieses Fragebereichs mußte das Vorbringen der Revision, der Kläger sei nicht unüberwindlich übermüdet gewesen, unbeachtet bleiben; denn das LSG. hat das Gegenteil festgestellt. Diese Feststellung liegt auf dem Gebiet des Tatsächlichen und bindet infolgedessen das Bundessozialgericht (§ 163 SGG). Sie könnte nur mit zulässigen und begründeten Revisionsgründen angegriffen werden; solche Gründe hat die Revision jedoch nicht vorgebracht.
Unbegründet ist auch die Rüge, das Beweisergebnis rechtfertige nicht den Schluß, daß die Übermüdung des Klägers überwiegend durch eigenwirtschaftliche, also betriebsfremde Tätigkeit herbeigeführt worden sei. Aus dem Vorbringen der Revision geht nicht eindeutig hervor, ob sich dieser Angriff gegen die Beweiswürdigung des LSG. richtet oder ob die Einordnung der festgestellten Tatsachen unter den vom LSG. aufgestellten Rechtssatz beanstandet wird. In der Würdigung des Beweises war das LSG. frei. Insoweit unterläge seine Entscheidung der Nachprüfung im Revisionsverfahren nur, wenn unter Beachtung der Erfordernisse des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG behauptet worden wäre, der Vorderrichter habe sein Recht zur freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten; eine solche Rüge hat die Revision jedoch nicht erhoben. Es ist auch nicht ersichtlich, daß das LSG. aus den von ihm festgestellten Tatsachen einen rechtlich angreifbaren Schluß gezogen hätte. Die Übermüdung des Klägers würde allerdings nicht auf betriebsfremden Umständen beruhen, sich vielmehr gerade aus der Eigenart seines Automietunternehmens ergeben, wenn er von der Ankunft in Pressath bis zur Rückfahrt sich lediglich in Bereitschaft gehalten hätte und dabei einer natürlichen und normalen Ermüdung ausgesetzt gewesen wäre. Der Kläger hat sich jedoch nach den Feststellungen des LSG. nicht in diesem Sinne passiv verhalten, sondern sich während der letzten fünf Stunden vor Antritt der Rückfahrt mit einem Bekannten und zwei Mädchen in ausgiebigem Maße in Schankstätten und auf einem Festplatz vergnügt, Alkohol in nicht unerheblicher Menge getrunken und die Mädchen nach Hause gebracht. Dadurch hat er die normale Ermüdung verstärkt und beschleunigt. Nach diesen Feststellungen des LSG. waren unternehmensfremde Betätigungen des Klägers für die während der Rückfahrt aufgetretene unüberwindliche Übermüdung ausschlaggebend; die vorangegangene betriebliche Tätigkeit war demgegenüber keine wesentlich mitwirkende Ursache der Übermüdung.
Ein zur Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung berechtigender Arbeitsunfall liegt demnach nicht vor. Die Revision des Klägers war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen