Leitsatz (amtlich)
1. Die Invalidenrente eines späterblindeten Elektrikers, welcher nach seiner Erblindung die Ausbildung für den gehobenen Verwaltungsdienst mit Erfolg abgeschlossen hat und als Verwaltungsinspektor im Staatsdienst angestellt ist, kann wegen Erwerbs neuer Kenntnisse und Fähigkeiten entzogen werden, wenn er seinen Dienst im wesentlichen vollwertig verrichtet.
In schwebenden Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist ArVNG Art 2 § 6 nicht anzuwenden.
3. Wird gegen einen Rentenentziehungsbescheid eine Klage auf Aufhebung des Bescheids und Verurteilung zur Weiterzahlung der Rente erhoben, so haben die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, falls sie die Rentenentziehung Bestätigten, auch darüber zu befinden, ob die Rente nicht von einem späteren Zeitpunkt ab wieder zu gewähren ist, weil in der Zeit zwischen der Rentenentziehung und dem Schluß der letzten mündlichen (Tatsachen-) Verhandlung die Voraussetzungen der Wiedergewährung erfüllt sind.
Normenkette
RVO § 1293 Fassung: 1949-03-22, § 1254 Fassung: 1949-06-17; ArVNG Art. 2 § 44 Fassung: 1957-02-23, § 6 Fassung: 1957-02-23; SGG § 123 Fassung: 1953-09-03, § 54 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig vom 7. Februar 1956 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der im Jahre 1917 geborene Kläger erlernte nach dem Besuch einer Mittelschule das Elektrikerhandwerk. Anschließend wurde er Berufssoldat. Infolge einer im Jahre 1942 erlittenen Granatsplitterverletzung erblindete er auf beiden Augen. Auf seine Anträge wurden ihm Invalidenrente und Versorgungsrente gewährt. Nach seiner Entlassung aus dem Lazarett besuchte er von 1943 bis 1945 die Heeresfachschule für Verwaltung, die er mit dem Abschlußzeugnis II verließ. Da er nach der Kapitulation im Verwaltungsdienst kein Unterkommen fand, erlernte er im Jahre 1947 das Bürstenmacherhandwerk, welches er bis zum Jahre 1950 selbständig ausübte. Im Mai 1950 wurde er nach einer psychologischen Eignungsprüfung von der Landesregierung Schleswig-Holstein in den Vorbereitungsdienst für die gehobene Verwaltungslaufbahn aufgenommen, den er erfolgreich abschloß. Zusätzlich ist er noch in Blindenstenographie und Blindenmaschinenschreiben ausgebildet. Seit 1953 ist der Kläger als Sachbearbeiter - und zwar zunächst als ap. Regierungsinspektor - bei der Hauptfürsorgestelle für Schwerbeschädigte beim Minister für Arbeit, Soziales und Vertriebene des Landes Schleswig-Holstein beschäftigt. Seine Tätigkeit besteht in der Betreuung der ihm zugewiesenen Schwerbeschädigten, die mündlich oder schriftlich mit Anliegen an die Hauptfürsorgestelle herantreten. Es ist ihm, wie auch den übrigen Sachbearbeitern, eine Schreibkraft zugeteilt, die allerdings zusätzlich noch damit beauftragt ist, ihm die zu bearbeitenden Vorgänge vorzulesen. Hiervon abgesehen versieht er seinen Dienst vollwertig. Seine Übernahme als Beamter auf Lebenszeit erfolgte am 1. Juli 1955.
Durch Bescheid vom 5. April 1954 entzog die Beklagte die Invalidenrente mit Wirkung vom 1. Mai 1954, weil der Kläger sich neue Kenntnisse und Fähigkeiten angeeignet habe, die ihn in die Lage versetzten, auf dem allgemeinen Arbeitsfeld mehr als die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen. Die Versorgungsrente erhält er weiter.
Das Sozialgericht (SG.) Schleswig hob diesen Bescheid auf und verurteilte die Beklagte zur Weiterzahlung der Invalidenrente.
Das Landessozialgericht (LSG.) hob das Urteil des SG. auf und wies die Klage ab. Der Kläger sei durch den Erwerb neuer Kenntnisse und Fähigkeiten als Verwaltungsinspektor nunmehr wieder in der Lage, die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen.
Gegen das ihm am 26. April 1956 zugestellte Urteil hat der Kläger durch seinen Prozeßbevollmächtigten, Assessor K. im Bund der Kriegsblinden Deutschlands e. V., mit Schriftsatz vom 12. Mai 1956 am 13. Mai 1956 Revision eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 12. Juni 1956 am 14. Juni 1956 begründet. Er ist der Auffassung, daß er weiterhin invalide sei.
Er beantragt,
1. das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen,
2. die Beklagte zu verurteilen, ihm die entstandenen Kosten zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Der zulässigen Revision mußte der Erfolg versagt bleiben.
Wie die Beklagte und die Vorinstanzen zu Recht angenommen haben, war der Kläger nach seiner Verwundung zunächst invalide. Demgemäß wurde ihm die Invalidenrente auch gewährt. Streit besteht lediglich darüber, ob die Beklagte diese Rente wieder entziehen durfte. Nach § 1293 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) a. F. kann die Invalidenrente entzogen werden, wenn der Berechtigte infolge einer wesentlichen Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr invalide ist. Wie schon das Reichsversicherungsamt in ständiger Rechtsprechung angenommen hat, liegt eine Änderung der Verhältnisse in diesem Sinne nicht nur dann vor, wenn sich der körperliche oder geistige Zustand des Versicherten ändert, sondern - ohne daß dies der Fall ist - auch dann, wenn der Versicherte neue Kenntnisse und Fähigkeiten, die seine Erwerbsfähigkeit erhöhen, erwirbt (vgl. AN. 06, 278; 09, 477; 28, 238; 37, 278); denn jegliche Erhöhung der Erwerbsfähigkeit, gleich aus welchem Grunde sie eintritt, ist insoweit von Bedeutung. Der eigentliche Zweck der Invalidenversicherung ist nicht, den Versicherten gegen den Verlust der Fähigkeiten, die er nach seiner ursprünglichen Ausbildung und seinem ursprünglichen Berufe besaß, zu versichern, sondern ihn gegen den Verlust der Fähigkeit zu versichern, auf dem allgemeinen Arbeitsfeld einen gewissen Betrag verdienen zu können, der sich nach dem Durchschnittslohn gleichartiger Personen in derselben Gegend richtet (vgl. dazu RVA. AN. 06, 278). Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsauffassung an. Wie das LSG. ohne Rechtsirrtum annimmt, hat der Kläger durch seine erfolgreich abgeschlossene Ausbildung und seine anschließende Tätigkeit bei der Hauptfürsorgestelle neue Kenntnisse und Fähigkeiten, durch welche sich seine Erwerbsfähigkeit in diesem Sinne wesentlich erhöht hat, erworben. Hierüber besteht auch kein Streit. Allerdings können neue Kenntnisse und Fähigkeiten nur dann eine Rentenentziehung rechtfertigen, wenn der Versicherte infolge des Erwerbs dieser neuen Kenntnisse und Fähigkeiten wieder in die Lage versetzt ist, durch Verwertung seiner Arbeitskraft die für ihn maßgebliche gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen. Da der Kläger ausschließlich als Elektriker versichert war, kann bei der Beurteilung dieser Frage auch nur von dieser Tätigkeit ausgegangen werden. Wie das LSG. festgestellt hat und wie auch der Kläger nicht verkennt, verdient er die für ihn maßgebliche gesetzliche Lohnhälfte und zwar ausschließlich durch Verwertung seiner Arbeitskraft, da er eine unselbständige Arbeit verrichtet. Hierbei ist es ohne Bedeutung, daß es sich um eine nicht versicherungspflichtige Tätigkeit handelt; denn entscheidend ist allein, ob der Versicherte mit seinen neuen Kenntnissen und Fertigkeiten die gesetzliche Lohnhälfte durch Verwertung seiner Arbeitskraft zu verdienen in der Lage ist. Gleichgültig ist, um welche Art von Arbeit es sich hierbei handelt. Sicherlich kann, wie auch das LSG. nicht verkennt, die Tatsache, daß der Kläger die gesetzliche Lohnhälfte tatsächlich verdient, nicht allein entscheidend sein. Wenn auch vieles dafür spricht, daß ein Versicherter, welcher durch Verwertung seiner Arbeitskraft die gesetzliche Lohnhälfte verdient, hierzu auch in der Lage ist, so bedarf es doch in Zweifelsfällen einer besonderen Prüfung, ob die erbrachte Leistung auch wirklich dem gezahlten Lohn oder Gehalt entspricht, ob der Versicherte also seine Stelle tatsächlich vollwertig ausfüllt oder ob nicht andere Gründe, insbesondere fürsorgerischer Art, für die Beschäftigung überhaupt oder zumindest doch für die volle Entlohnung ausschlaggebend sind. Das LSG. hat dies geprüft und hat festgestellt, daß der Kläger seinen Dienst im wesentlichen vollwertig versieht; es hat nur darauf hingewiesen, daß die dem Kläger - wie jedem anderen Sachbearbeiter seiner Dienststelle - zugeteilte Schreibkraft zusätzlich noch die von ihm zu bearbeitenden Vorgänge vorliest. An diese Feststellung ist der erkennende Senat nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gebunden, da der Kläger diese Feststellung innerhalb der Revisionsbegründungsfrist nicht angegriffen, sie sogar als zutreffend bezeichnet hat. Wenn das LSG. aus der Tatsache, daß die Schreibkraft die zu bearbeitenden Vorgänge vorlesen muß, keine entgegenstehenden Schlüsse gezogen hat, so ist dies nicht zu beanstanden. Die Tätigkeit des Klägers ist in ihrem Kern geistiger Art, mit der Besonderheit, daß neben dem Lesen der Eingänge das Studium der Akten, der in Frage kommenden Vorschriften und der Literatur nur in einem beschränkten Umfang erforderlich ist. Wie das LSG. ohne Rechtsirrtum angenommen hat, tritt in einem solchen Falle das Vorlesen gegenüber der eigentlichen geistigen Tätigkeit in seiner Bedeutung weitgehend zurück. Wie es dann wäre, wenn es sich um eine geistige Tätigkeit handelte, bei welcher in einem stärker ins Gewicht fallenden Umfang Akten, Vorschriften und Literatur zu lesen wären, bedarf keiner Untersuchung, da dies bei einer Tätigkeit von der Art der vom Kläger verrichteten nicht der Fall ist. Der von dem erkennenden Senat durch Urteil vom 13. Dezember 1956 (R. ./. LVA. Hannover - 4 RJ 24/56 -) entschiedene Fall lag insofern anders als der hier zu entscheidende, als der blinde Telefonist einen Teil der zu dem Kern seiner Tätigkeit selbst gehörenden Arbeit, insbesondere das Vermitteln der nach außerhalb gehenden Telefongespräche, nicht ohne fremde Mithilfe verrichten konnte.
Es genügt allerdings nicht, daß der Versicherte nur eine besonders günstige Gelegenheit gefunden hat, seine neuen Kenntnisse und Fähigkeiten auszunutzen, vielmehr muß er diese auch ohne solche besonders günstigen Umstände erfolgreich zu verwerten in der Lage sein. Dies aber ist hier der Fall. Es muß angenommen werden, daß der Kläger jedenfalls eine Anzahl ähnlicher Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst - nur diese kommen hier nach seiner Ausbildung und Prüfung in Betracht - nach einer entsprechenden Einarbeitungszeit ebenfalls im wesentlichen ausfüllen kann, da er die Ausbildung für den gehobenen Verwaltungsdienst erfolgreich abgeschlossen hat und nichts dafür spricht, daß er sich dort nicht ebenso bewähren wird, wie bei seiner jetzigen Tätigkeit. Insbesondere war in diesem Zusammenhang noch zu prüfen, ob der Kläger seine Beschäftigung erst aus dem durch das Schwerbeschädigtengesetz (SchwBG) gewährten Schutz verdankt. Dies ist jedoch nicht der Fall. Wenn auch nicht verkannt werden soll, daß für die Einstellung des Klägers die sich aus dem SchwBG ergebenden oder sonstige Überlegungen fürsorgerischer Art mitbestimmend gewesen sein mögen, so sind diese Gründe doch keinesfalls dafür maßgebend, daß er die von ihm besetzte Stelle weiterhin innehat. Einmal füllt er seinen Arbeitsplatz im wesentlichen vollwertig aus und zum anderen unterscheidet sich seine Rechtsstellung praktisch nicht von der eines anderen vergleichbaren Beamten; er ist also unabhängig von dem vom SchwBG gewährten Schutz und unabhängig von der sozialen Einstellung seiner Verwaltung in seiner beamtenrechtlichen Stellung geschützt.
Das LSG. hat nach alledem ohne Rechtsirrtum die Entziehung der Invalidenrente bestätigt.
Der erkennende Senat hatte seiner Prüfung noch den Invaliditätsbegriff des § 1254 RVO a. F. zugrunde zu legen. Nach Art. 2 § 6 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG - vom 23. Februar 1957 (BGBl. I S. 45) ist zwar auch bei Versicherungsfällen, die vor dem 1. Januar 1957 eingetreten sind, von dem Berufsunfähigkeitsbegriff des § 1246 Abs. 2 RVO n. F. auszugehen, wenn - wie hier - ein bindender oder rechtskräftiger Bescheid nicht vorliegt. Dies gilt allerdings nach Art. 2 § 44 a. a. O. nicht in den vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit schwebenden Verfahren. Die Bedeutung des Art. 2 § 6 a. a. O. beschränkt sich also auf die Anwendung durch die Versicherungsträger. Art. 2 § 44 Satz 1 a. a. O. schreibt zwar ausdrücklich nur vor, daß in schwebenden Verfahren die §§ 8 und 17 bis 19 anzuwenden sind. Da dies aber ohnehin rechtens wäre, kann diese Vorschrift nur die Bedeutung haben, daß die nicht aufgezählten Übergangsvorschriften in den vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit schwebenden Verfahren nicht anwendbar sein sollen. Diese Auffassung findet ihre Stütze auch darin, daß aus der Gesetzesüberschrift zu Art. 2 § 44 a. a. O. zu entnehmen ist, daß in dieser Vorschrift die Nachprüfung der ergangenen Bescheide geregelt, d. h. nach Ansicht des erkennenden Senats erschöpfend geregelt werden soll. Während in Satz 1 die Fälle geregelt sind, in welchen eine rechtskräftige oder bindende Entscheidung noch nicht vorliegt, sind in den Sätzen 2-4 die Fälle geregelt, in denen eine bindende oder rechtskräftige Entscheidung vorliegt. Da bei dieser letzten Gruppe von Fällen ausdrücklich nur dann eine Nachprüfung vorgesehen ist, wenn einer der in Satz 1 genannten Versicherungsfälle vorliegt, muß auch aus diesem Grunde angenommen werden, daß auch bei der ersteren Gruppe von Fällen nur bei diesen in Satz 1 angeführten Versicherungsfällen das Übergangsrecht anzuwenden ist. Der Gesetzgeber wollte offensichtlich beide Gruppen von Fällen gleichbehandeln. da eine unterschiedliche Regelung nicht recht verständlich gewesen sein würde.
Es war allerdings noch zu prüfen, ob nicht seit dem Inkrafttreten des ArVNG Berufsunfähigkeit nach § 1246 RVO n. F. eingetreten ist. Auch wenn die Entziehung zu Recht erfolgt ist, muß von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit bei Leistungsklagen nach § 54 Abs. 4 SGG noch geprüft werden, ob nicht zwischen dem Zeitpunkt der Rentenentziehung und dem Schluß der letzten mündlichen (Tatsachen-) Verhandlung die Voraussetzungen der Rentengewährung erneut eingetreten sind; denn neben der Aufhebung des Entziehungsbescheides begehrt der Kläger die Entscheidung über seinen Anspruch auf Weitergewährung der Rente. Diese Prüfung hat jedoch auf Grund der vom LSG. getroffenen Feststellungen auch zu dem Ergebnis geführt, daß Berufsunfähigkeit im Sinne des § 1246 RVO n. F. nicht vorliegt.
Danach mußte die Revision als unbegründet zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Fundstellen