Leitsatz (amtlich)

Kommt in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung in einem Verfahren gegen das Land bei Ablehnung des Versorgungsanspruchs ein Versicherungsträger als Leistungspflichtig in Betracht, muß dieser nach SGG § 75 Abs 2 Halbs 2 beigeladen werden.

 

Normenkette

SGG § 75 Abs. 2 Hs. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 20. Dezember 1963 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Sohn R (R.) der Klägerin ist am 11. Januar 1947 in W/Pommern an den Folgen eines Unfalls verstorben. Er war das jüngste von vier Kindern der Klägerin. Er wurde im Dezember 1944 zum Wehrdienst einberufen und nach Einstellung der Kampfhandlungen aus einem Lazarett in Süddeutschland entlassen. Auf dem Wege zu seiner Familie in Pommern mußte er sich bei der Arbeitsverwaltung zum Arbeitseinsatz melden, um Lebensmittelkarten zu erhalten, und wurde bei der Firma W, die Demontagearbeiten in P a. U ausführte, gegen den üblichen Lohn zur Arbeit verpflichtet. Am 30. Dezember 1946 wurde er bei Demontagearbeiten durch einen herabfallenden Eisenträger schwer verletzt. Er verstarb an den Folgen dieser Verletzung am 11. Januar 1947.

1961 beantragte die Klägerin bei der Nordwestlichen Eisen- und Stahl-Berufsgenossenschaft Sektion I in H Elternrente aus der Unfallversicherung. Ohne Erteilung eines Bescheides wurde ihr mitgeteilt, daß auch ohne Prüfung der Bedürftigkeit und der Frage der zuständigen Berufsgenossenschaft (BG) keine Möglichkeit für die Gewährung von Elternrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung bestehe, weil ihr Sohn sie vor seinem Tode nicht wesentlich unterstützt habe.

1962 beantragte die Klägerin Elternrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Mit Bescheid vom 13. Juni 1962 wurde der Antrag abgelehnt, weil R. nicht an einem schädigenden Vorgang im Sinne des § 1 BVG gestorben sei. Der Widerspruch war erfolglos. Durch Urteil vom 24. Juni 1963 wies das Sozialgericht (SG) die Klage ab. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung der Klägerin durch Urteil vom 20. Dezember 1963 zurück. Die Arbeitsleistung bei der privaten Demontagefirma sei kein militärischer oder militärähnlicher Dienst i. S. der §§ 2, 3 BVG gewesen; es habe sich um ein bürgerlich-rechtliches Arbeitsverhältnis gehandelt, das möglicherweise unter dem faktischen Zwang, Lebensmittelkarten zu erhalten, zustande gekommen sei. Die Ermittlungen gäben auch keinen Anhalt dafür, daß der Arbeitsunfall etwa auf nachträglichen Auswirkungen kriegerischer Vorgänge beruhte, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben (§ 5 Abs. 1 Buchstabe e BVG). Nach Mitteilung des Bürgermeisters in Wolgast sei R. bei der Demontage dadurch verunglückt, daß ihm ein Eisenträger auf das Bein fiel. Soweit eine Einsturzgefahr infolge kriegerischer Vorgänge, z. B. durch Luftangriffe, bestanden haben sollte, konnte auf Grund der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) das Vorliegen unmittelbarer Kriegseinwirkungen nicht bejaht werden. Es müsse davon ausgegangen werden, daß R. vor dem Unfall aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden war, oder sich aus militärischer Befehlsgewalt gelöst habe. Dass R. möglicherweise ohne seine Einberufung zum Heeresdienst nicht in P. eingesetzt worden wäre, könne einen ursächlichen Zusammenhang des Unfalls mit dem militärischen Dienst nicht begründen. Das Merkmal der besonderen Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG sei nicht dadurch erfüllt worden, daß Demontagearbeiten auf Veranlassung oder unter Aufsicht der russischen Besatzungsmacht ausgeführt werden mußten. Der Unfall stelle sich deshalb als ein Arbeitsunfall im Sinne der §§ 547 ff der Reichsversicherungsordnung (RVO) dar, was auch die Nordwestliche Eisen- und Stahl-Berufsgenossenschaft nicht verneint habe; sie habe die Klägerin nur dahin belehrt, daß die gemäß § 593 RVO aF erforderliche Voraussetzung wesentlicher Unterhaltsleistungen des Verunglückten nicht erfüllt sei. Demnach liege kein Streit zwischen der Versorgungsverwaltung und einer Berufsgenossenschaft über die Leistungspflicht vor, so daß eine Beiladung der zuständigen Berufsgenossenschaft nach § 75 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) im anhängigen Rechtsstreit nicht geboten sei. Ob eine BG gemäß § 596 RVO in der seit dem 1. Juli 1963 geltenden Fassung leistungspflichtig wäre und angenommen werden könne, daß R. der Ernährer der Klägerin geworden wäre, sei nicht zu entscheiden gewesen.

Mit der nicht zugelassenen Revision rügt die Klägerin als Verfahrensmangel Verletzung des § 75 Abs. 2, 2. Halbsatz SGG. Das LSG hätte die zuständige BG beiladen müssen, weil sich bei Ablehnung des Anspruchs aus der Kriegsopferversorgung ergeben habe, daß die BG als leistungspflichtig für den Anspruch auf Elternrente aus der Unfallversicherung in Betracht komme. Daß die BG mit Wahrscheinlichkeit in Anspruch genommen werden könne, hätte das LSG schon deshalb annehmen müssen, weil nach § 596 RVO in der Fassung des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung vom 30. April 1963 der Anspruch auf Elternrente auch für die vor dem 1. Juli 1963 eingetretenen Arbeitsunfälle schon darauf gestützt werden könne, daß der Getötete ohne den Arbeitsunfall die Eltern wesentlich unterhalten würde. Die Klägerin beantragt, nachdem ihr für das Revisionsverfahren das Armenrecht bewilligt worden ist,

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Revision zu gewähren und unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin die Elternrente in gesetzlicher Höhe seit dem 1. Februar 1962 zu gewähren,

hilfsweise,

die Sache zur anderweitigen Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen.

Die Revision ist mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Bewilligung des Armenrechts formgerecht eingelegt worden. Innerhalb eines weiteren Monats seit Einlegung der Revision ist die Revision begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Der Klägerin war daher auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Revisions- und Revisionsbegründungsfrist zu gewähren (§ 67 Abs. 1 und 2 SGG; ESG 8, 207). Die Revision ist auch statthaft, da die Klägerin mit Recht rügt, das Verfahren des LSG leide an einem wesentlichen Mangel, weil es die nach § 75 Abs. 2 SGG notwendige Beiladung der zuständigen Unfall-BG unterlassen habe.

Ergibt sich im Verfahren, daß bei der Ablehnung des Anspruchs ein anderer Versicherungsträger oder in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung ein Land als leistungspflichtig in Betracht kommt, so sind diese nach § 75 Abs. 2, 2. Halbsatz SGG beizuladen. Diese Vorschrift und die nach § 75 Abs. 5 SGG zugelassene Verurteilung des Beigeladenen eröffnen den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit aus prozeßökonomischen Gründen die Möglichkeit, in Fällen, in denen die Klage gegen einen nicht zur Sache legitimierten Beklagten erhoben ist, den in Wirklichkeit legitimierten, aber nicht verklagten Leistungsträger zu verurteilen, um damit einen neuen Rechtsstreit und die Möglichkeit sich widersprechende Urteile verschieden besetzter Spruchkörper zu vermeiden (vgl. BSG 9, 69). Auf Grund der Beiladung tritt der Versicherungsträger oder in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung das beigeladene Land als weiterer Beteiligter neben dem seitherigen Beklagten in das Streitverhältnis ein. Der Rechtsstreit wird mit Rechtskraftwirkung für und gegen den Beigeladenen entschieden. Zu der Feststellungswirkung, die ein zwischen dem Kläger und dem Beklagten ergehendes Urteil regelmäßig für und gegen den Beigeladenen nach § 141 SGG äußert, tritt die Verurteilungswirkung hinzu.

In § 75 Abs. 2, 2. Halbsatz SGG ist ausdrücklich nur der Fall geregelt, daß statt des beklagten Versicherungsträgers ein anderer Versicherungsträger oder in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung ein Land als leistungspflichtig in Betracht kommt. Der letzte Halbsatz regelt nicht nur die Fälle, in denen anstelle des verklagten Landes möglicherweise ein anderes Land leistungspflichtig ist; er bezieht sich auch auf Fälle, in denen ein Land überhaupt als leistungspflichtig anstelle des verklagten Versicherungsträgers in Betracht kommt. Der umgekehrte Fall, daß ein Anspruch aus dem Recht der Kriegsopferversorgung (KOV) gegen ein Land erhoben wird, aber die Leistungspflicht eines Versicherungsträgers in Betracht kommt, ist im Gesetz nicht genannt. Daraus kann nicht geschlossen werden, daß in diesem Fall die Beiladung des Versicherungsträgers mit den sich aus §§ 75 Abs. 2, 5 SGG ergebenden Wirkungen ausgeschlossen wäre. Der Gedanke, daß die Ablehnung des Anspruchs aus dem Recht der KOV zu der Beiladung eines Sozialversicherungsträgers führen muß, der aus einem anderen Rechtsgrund als Leistungspflichtiger in Betracht kommt, ist der gleiche, der im umgekehrten Fall, wenn ein Versicherungsträger verklagt wurde, aber ein Anspruch aus der Kriegsopferversorgung in Betracht kommt, zu der Folgerung geführt hat, daß das Land beizuladen ist. Es handelt sich um artgleiche, korrespondierende Fälle, die nicht unterschiedlich behandelt werden können. Entscheidend ist nur, daß bei Ablehnung des geltend gemachten Anspruchs die Leistungspflicht eines anderen Leistungsträgers in Betracht kommt, sofern es sich um einen der in § 75 Abs. 2 SGG genannten Leistungsträger handelt (im Ergebnis ebenso Peters/Sautter-Wolff Komm. zur SGb § 75 Anm. 5 b S. 258/8-29; Rohwer-Kahlmann Aufbau und Verfahren der SGb Komm. § 75 Anm. 3 b cc). Nur diese Auslegung des § 75 Abs. 2 SGG wird dem Zweck der Vorschrift, weitere Rechtsstreitigkeiten zu vermeiden und abschließende Entscheidungen auf dem Gebiet der Sozialversicherung und der KOV zu ermöglichen, gerecht. Die Beiladung ist zwingend vorgeschrieben; es kommt deshalb nicht darauf an, ob, wie das LSG meint, Streit zwischen der Versorgungsverwaltung und einer BG über die Leistungspflicht besteht. Die Beiladung könnte nur dann unterbleiben, wenn die BG den Anspruch bereits anerkannt hätte. Ebensowenig ist erforderlich, daß sich die Leistungspflicht des Beigeladenen auf denselben Zeitraum bezieht, für den der Anspruch gegen den Beklagten geltend gemacht wurde (Peters/Sautter/Wolff aaO § 75 Anm. 5 b S. 258/8-29/30).

Nach § 596 RVO i. d. F. des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl. I, 241) haben die Eltern (bzw. ein Elternteil) des durch Arbeitsunfall verstorbenen Kindes nicht nur Anspruch auf Elternrente, wenn es seine Eltern (bzw. einen Elternteil) aus seinem Arbeitsverdienst wesentlich unterhalten hat, sondern auch dann, wenn es sie ohne den Arbeitsunfall wesentlich unterhalten würde; der Anspruch besteht, solange die Eltern ohne den Arbeitsunfall einen Anspruch gegen den Verstorbenen auf Unterhalt hätten geltend machen können. Diese Vorschrift gilt nach dem Wortlaut des Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG auch für Arbeitsunfälle, die vor dem 1. Juli 1963, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neufassung des § 596 RVO (Art. 4 § 16 Abs. 1 UVNG), eingetreten sind. Die Frage, welche Tragweite die neuen Vorschriften für den vorliegenden Fall im einzelnen haben, war vom Senat nicht zu entscheiden (vgl. Urteile des BSG vom 30. Juni 1965 - 2 RU 175/63 - und vom 5. November 1965 - 5 RKn 87/61 -, die allerdings andere Fälle betrafen).

Das LSG hat festgestellt, daß der Unfall des R. ein Arbeitsunfall im Sinne der §§ 547 ff RVO ist. Auf Grund dieser Feststellung kam ein Anspruch der Klägerin auf Elternrente gegen die zuständige BG in Betracht. Nach § 75 Abs. 2, Halbsatz 2 SGG hätte deshalb das LSG die BG beiladen müssen, um nach § 75 Abs. 5 SGG auch über den Anspruch gegen sie entscheiden zu können. Die Unterlassung der Beiladung ist ein wesentlicher Verfahrensmangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, der, da er von der Revision ordnungsgemäß gerügt worden ist, die Revision statthaft macht (vgl. BSG 1, 158).

Die Revision ist auch begründet, da nicht auszuschließen ist, daß das LSG ohne den Verfahrensverstoß zu einem anderen Urteil gelangt wäre. Der Senat konnte in der Sache nicht selbst entscheiden, weil die Beiladung im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden kann (§ 168 SGG) und es auch im übrigen an der Feststellung der für den versicherungsrechtlichen Anspruch erforderlichen Tatsachen fehlt. Daher war die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 103

NJW 1966, 615

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