Leitsatz (redaktionell)
Auch vor dem 1955-04-01 (Inkrafttreten des KOV-VfG) erlassene Bescheide können nach dem 1955-04-01 zurückgenommen werden.
Nur die Rückgängigmachung der Auswirkungen des aufgehobenen Bescheides, dh die Beseitigung der Folgen des rechtswidrigen Verwaltungsakts, insbesondere die Rückforderung gewährter Leistungen, kann für die Zeit vor dem 1955-04-01 nicht nach den Vorschriften des KOV-VfG erfolgen. Hierfür sind vielmehr die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts anzuwenden. Einer Heranziehung dieser Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts bedarf es deshalb nicht, wenn (nach dem 1955-04-01) zwar vor dem 1955-04-01 erlassene Bescheide wegen von Anfang an bestehender Unrichtigkeit aufgehoben werden, die Wirkung dieser Aufhebung aber nach dem Willen der Verwaltung erst nach diesem Zeitpunkt, und zwar ex nunc eintreten soll. Dann sind ausschließlich die Grundsätze des KOV-VfG § 41 maßgebend.
Normenkette
KOVVfG § 41 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27
Tenor
Auf die Revision des Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 17. Oktober 1963 und des Sozialgerichts Hannover vom 24. November 1960 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Mit Bescheid vom 29. Juni 1951 wurden die dem Kläger auf Grund des Bescheides vom 31. Januar 1948 bewilligten Versorgungsbezüge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) umanerkannt . Am 27. Januar 1959 erließ das Versorgungsamt einen Teilberichtigungsbescheid, mit dem es die Bescheide vom 31. Januar 1948 und 26. September, richtig 29. Juni 1951, aufhob, soweit Herzmuskelschaden, Blutdrucksteigerung und Schlagaderverhärtung als Gesundheitsschädigungen im Sinne der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 und des BVG anerkannt worden waren. Insoweit wurden die Versorgungsanträge abgelehnt. Die Zahlung der Rente wurde mit Ablauf des Monats Februar 1959 eingestellt. Der Widerspruch blieb erfolglos. Das Sozialgericht (SG) hob mit Urteil vom 24. November 1960 den Berichtigungsbescheid auf, da der Beklagte das Recht auf Anwendung des § 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) verwirkt habe. Die Berufung des Beklagten wurde vom Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 17. Oktober 1963 zurückgewiesen. Die strittigen Leiden (Herzmuskelschaden, Blutdruckerhöhung und Schlagaderverhärtung) hätten zwar 1948 vorgelegen, ihre Anerkennung als Schädigungsfolgen im Sinne der Entstehung sei aber zweifelsfrei falsch gewesen. Auch die Annahme einer Verschlimmerung dieser Gesundheitsstörungen durch schädigende Einwirkungen sei zweifelsfrei unrichtig gewesen. Demnach sei der Bescheid vom 31. Januar 1948 in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zweifelsfrei falsch. Der Umanerkennungsbescheid vom 29. Juni 1951 sei zwar in tatsächlicher Beziehung ebenfalls zweifelsfrei falsch, jedoch sei er nicht auch rechtlich falsch, was § 41 VerwVG voraussetze. Da § 41 VerwVG nicht über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des VerwVG (1. April 1955) zurückwirke, sei der Bescheid vom 31. Januar 1948 durch den Berichtigungsbescheid vom 27. Januar 1959 in seiner Rechtswirksamkeit nicht berührt worden; nach dem Inkrafttreten des BVG sei durch § 85 BVG die frühere fälschliche Bejahung des ursächlichen Zusammenhangs mit schädigenden Ereignissen sanktioniert und die Entscheidung auch für das BVG für verbindlich erklärt worden. Da der Umanerkennungsbescheid den ursächlichen Zusammenhang ebenfalls bejaht habe, sei er mindestens rechtlich nicht unrichtig gewesen. Auch die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts rechtfertigten nicht die Rücknahme der Bescheide, da die Ursache für die Fehlerhaftigkeit des Bescheides von 1948 allein in den Verantwortungsbereich der Behörde falle, diese außerdem den Fall nahezu 10 Jahre nicht überprüft habe. Der Kläger stehe im 68. Lebensjahr, seine Existenzgrundlage würde durch die Einstellung der Zahlungen erschüttert.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Beklagte Verletzung des § 85 BVG. Eine nach bisherigen versorgungsrechtlichen Bestimmungen ergangene Entscheidung sei für die Beurteilung nach dem BVG nur insoweit rechtsverbindlich, als sie den ursächlichen Zusammenhang bejahe. Durch § 85 BVG sei die frühere Bejahung des ursächlichen Zusammenhangs nicht sanktioniert, der frühere Bescheid damit nicht bestätigt worden. Die tatsächliche und rechtliche Unrichtigkeit des Bescheides von 1948 hafte auch dem von 1951 an. Nach § 26 der Sozialversicherungsanordnung (SVA) Nr. 11, der vom 1. August 1947 bis 31. Dezember 1952 gegolten habe, habe ein rechtskräftiger Bescheid aufgehoben werden können, wenn sich die Voraussetzungen der Bescheiderteilung als unzutreffend erwiesen haben; dies sei bei dem Bescheid von 1948 der Fall. Auch nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts sei eine Rücknahme zulässig; die Aufrechterhaltung der berichtigten Bescheide sei im Interesse der Allgemeinheit nicht vertretbar.
Der Beklagte beantragt, die Entscheidungen des SG Hannover und des LSG Niedersachsen aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, unter Aufhebung des LSG-Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Dem Urteil sei zuzustimmen.
Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und daher zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist auch sachlich begründet.
Das LSG hat festgestellt, daß die Anerkennung von Herzmuskelschaden, Blutdrucksteigerung und Schlagaderverhärtung, da sie durch schädigende Einwirkungen weder hervorgerufen noch verschlimmert worden sind, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht zweifelsfrei falsch war und daß deshalb der Bescheid vom 31. Januar 1948 tatsächlich und rechtlich zweifelsfrei unrichtig gewesen ist. Es hat auch festgestellt, daß der Bescheid vom 29. Juni 1951 in tatsächlicher Beziehung zweifelsfrei falsch ist. Das LSG hat ferner festgestellt, daß nach dem Berichtigungsbescheid vom 27. Januar 1959 die weiterhin anerkannt gebliebenen Schädigungsfolgen (Narben über dem linken Knie und leichte Verbildung der linken Kniescheibe) nur eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 10 v. H. bedingen; es ist demgemäß davon ausgegangen, daß bei einer Wirksamkeit des Berichtigungsbescheides die Versorgungsbezüge eingestellt werden müßten. Insoweit besteht offensichtlich auch kein Streit. Da der Kläger keine Revision eingelegt hat, ist der Senat an diese Feststellungen, soweit sie tatsächlicher Natur sind, gebunden (§ 163 SGG). Wenn das LSG den Berichtigungsbescheid vom 27. Januar 1959 trotzdem als rechtswidrig angesehen hat, weil der zweifelsfrei falsche Bescheid vom 31. Januar 1948 von der erst ab 1. April 1955 geltenden Vorschrift des § 41 VerwVG nicht berührt werde, durch den Umanerkennungsbescheid gemäß § 85 BVG sanktioniert und nach dem BVG für verbindlich erklärt worden sei, kann ihm nicht zugestimmt werden. Der Beklagte hat insoweit zutreffend eine Verletzung des § 85 BVG gerügt.
Das LSG hat die Bedeutung der Bindungswirkung nach § 85 BVG im Rahmen einer Berichtigung früher erlassener Bescheide verkannt; es ist außerdem zu Unrecht davon ausgegangen, daß § 41 VerwVG die Berichtigung von Bescheiden, die vor dem Inkrafttreten des VerwVG (1. April 1955) erlassen wurden, für die Zeit bis zum 31. März 1955 ausschließe. Der erkennende Senat hat schon durch Urteil vom 19. September 1958 (BVBl 59, S. 46) entschieden, daß § 85 BVG der Aufhebung früher ergangener, zweifelsfrei unrichtiger Bescheide nicht entgegensteht. Er hat hierzu ausgeführt, die Existenz einer derartigen früheren Entscheidung sei nach § 85 BVG (nur) ein Tatbestandsmerkmal für die materiell-rechtliche Entscheidung nach dem BVG und beeinflusse daher nicht die Wirksamkeit anderer gesetzlicher Vorschriften, die die frühere Entscheidung unmittelbar betreffen können, wie Aufhebung, Wiederaufnahme des Verfahrens. Die Tatbestandswirkung, die § 85 Satz 1 BVG Bescheiden nach bisherigem Versorgungsrecht gewähre, könne nicht stärker sein als die bindende Wirkung des früheren Bescheides selbst, die eine Aufhebung wegen Unrichtigkeit nicht ausschloß. Bei dieser Entscheidung handelte es sich um die Berichtigung eines dem Umanerkennungsbescheid vorangegangenen Bescheides gemäß § 26 SVA Nr. 11. Der 10. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) ist im Urteil vom 6. Oktober 1964 - 10 RV 867/62 - bei Anwendung des § 41 VerwVG zu demselben Ergebnis gelangt. Unter Bezugnahme auf das zitierte Urteil des erkennenden Senats hat er festgestellt, daß mit Aufhebung des nach früheren versorgungsrechtlichen Vorschriften ergangenen Bescheides gemäß § 41 VerwVG auch der Umanerkennungsbescheid, in den das anerkannte Leiden gemäß § 85 BVG übernommen wurde, aufgehoben werden kann (vgl. im übrigen auch schon BSG 13, 235).
Die in § 85 BVG bestimmte Bindungswirkung stand somit auch hier der Rücknahme des Umanerkennungsbescheides von 1951 nicht entgegen, soweit der Bescheid von 1948 wegen Unrichtigkeit teilweise zurückgenommen werden konnte. Die Berichtigung nach § 41 VerwVG war auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil diese Vorschrift nicht über den Zeitpunkt des Inkrafttretens des VerwVG (1. April 1955) zurückwirkt (BSG in SozR VerwVG § 41 Nr. 9). Die Auffassung, daß frühere Bescheide durch einen nach dem 1. April 1955 erlassenen Berichtigungsbescheid für die Zeit davor nicht zurückgenommen werden könnten, läßt sich aus dem in SozR VerwVG § 41 Nr. 9 veröffentlichten Urteil nicht entnehmen. Hier ist vielmehr ausgesprochen, daß ein Bescheid aus 1952 nach § 41 VerwVG hat zurückgenommen werden können und daß lediglich die Folgen des rechtswidrigen Verwaltungsakts für die Zeit vor dem 1. April 1955 nicht nach § 41 VerwVG beseitigt werden durften. Die auf die Zeit seit dem 1. April 1955 beschränkte Anwendung des § 41 VerwVG beruht nur darauf, daß ein Gesetz erst von seinem Inkrafttreten an Wirkungen äußern kann. Das bedeutet aber nicht, daß Bescheide, die vor dem 1. April 1955 erlassen wurden, nach dem 1. April 1955 nicht rückwirkend zurückgenommen werden könnten. Das Gegenteil ergibt sich vielmehr aus dem Gedanken der Rechtskontinuität. Nur die Rückgängigmachung der Auswirkungen des aufgehobenen Bescheides, d. h. die Beseitigung der Folgen des rechtswidrigen Verwaltungsakts (vgl. SozR VerwVG § 41 Nr. 9), insbesondere die Rückforderung gewährter Leistungen, kann für die Zeit vor dem 1. April 1955 nicht nach den Vorschriften des VerwVG erfolgen. Als eine andere Rechtsgrundlage kommt hier die vom Beklagten erwähnte Ziffer 26 SVA Nr. 11 nicht in Betracht, da die Geltungsdauer dieser Vorschrift bis 31. Dezember 1952 befristet und somit bei Erlaß des Berichtigungsbescheides vom 27. Januar 1959 nicht mehr anwendbar war (vgl. BSG 8, 13). Für die Zeit vor dem 1. April 1955 sind vielmehr die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts anzuwenden (BSG 8, 11, 14; 10, 72, 74; 15, 81 und 21, 38 f). Lediglich für die Frage, ob die vor dem 1. April 1955 erlassenen Bescheide zweifelsfrei unrichtig waren, also für die Beurteilung einer von Anfang an bestehenden Unrichtigkeit, nicht auch der Rücknahme, kommt es auf das vor diesem Zeitpunkt geltende Recht auch dann an, wenn es inzwischen aufgehoben wurde.
Das LSG hätte sonach, wenn es die vorstehend dargelegte Rechtsauffassung zugrunde gelegt hätte, feststellen müssen, daß die Bescheide vom 31. Januar 1948 und 29. Juni 1951 in dem vom Beklagten ausgesprochenen und vom LSG in tatsächlicher Hinsicht bestätigten Umfang unrichtig waren. Es hätte somit den Berichtigungsbescheid vom 27. Januar 1959, in dem diese Feststellungen getroffen waren, nicht als rechtswidrig ansehen und insoweit das SG-Urteil bestätigen dürfen.
Der Beklagte hat im Berichtigungsbescheid vom 27. Januar 1959 die Versorgungsbezüge nur für die Zukunft, nämlich mit Ablauf des Monats Februar 1959 entzogen. Er hat damit zum Ausdruck gebracht, daß es bei den bisher gezahlten Bezügen sein Bewenden haben soll und daß eine Rückforderung nicht geltend gemacht wird. Der Satz im Berichtigungsbescheid, daß die Anträge auf Versorgung "insoweit" (d. h. im Umfange der erfolgten Berichtigung) "abgelehnt" werden, ist in dem Sinne zu verstehen, daß die frühere Bewilligung der Leistungen rechtswidrig war und solche für die Zukunft abgelehnt werden.
Durch den Berichtigungsbescheid sind die vor dem 1. April 1955 erlassenen Bescheide wegen von Anfang an bestehender Unrichtigkeit teilweise aufgehoben worden; die Wirkung dieser Aufhebung sollte aber erst ab 1. März 1959 eintreten. In einem solchen Fall bedarf es nicht der Heranziehung der Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts. Denn wenn die Wirkung der Berichtigung erst ab 1. März 1959 eintreten soll, so sind ausschließlich die seit dem 1. April 1955 geltenden Grundsätze des § 41 VerwVG maßgebend. Hiernach ist die Berichtigung früherer Bescheide zuungunsten des Versorgungsberechtigten zulässig, wenn ihre tatsächliche und rechtliche Unrichtigkeit im Zeitpunkt ihres Erlasses außer Zweifel steht. Diese Voraussetzung ist nach den bindenden Feststellungen des LSG für den Bescheid vom 31. Januar 1948 erfüllt. Auch der Bescheid vom 29. Juni 1951 ist nach diesen Feststellungen in tatsächlicher Beziehung zweifelsfrei falsch. Wie oben dargelegt, ist die Auffassung des LSG, dieser Bescheid sei nur tatsächlich, nicht auch rechtlich zweifelsfrei unrichtig, rechtsirrig; sonach sind auch insoweit die Voraussetzungen des § 41 VerwVG gegeben.
Da nach alledem der Berichtigungsbescheid vom 27. Januar 1959, der sich Wirkung erst ab 1. März 1959 zulegte, nicht zu beanstanden war, mußte die Klage, die auf Weitergewährung von Rente nach einer MdE von 70 v. H. über Februar 1959 hinaus gerichtet war, unter Aufhebung der Urteile des LSG und des SG abgewiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen