Leitsatz (redaktionell)

Zu der Frage des Ruhens der Rente eines früheren Deutschen, der jetzt die polnische Staatsangehörigkeit besitzt und sich freiwillig gewöhnlich in Polen aufhält.

 

Orientierungssatz

Zur Frage, wann ein "unfreiwilliger" Auslandsaufenthalt (hier: Polen) gegeben ist (RVO § 1315 Abs 1 Nr 1).

 

Normenkette

RVO § 1315 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1960-02-25

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 6. Juli 1966 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der Kläger, der als deutscher Staatsangehöriger 1948 die polnische Staatsangehörigkeit erworben hat und seit 1947 in der Wojewodschaft P wohnt, begehrt die Auszahlung des ihm bewilligten Altersruhegeldes.

Der im Jahre 1898 in Halberstadt geborene Kläger hatte seit 1920 in Kiel gewohnt. Nach seiner Entlassung aus Wehrdienst und anschließender Kriegsgefangenschaft kam er nach H. Von dort verzog er im Jahre 1947 zusammen mit seiner Ehefrau nach D (D.) in der Wojewodschaft P, wo er sich heute noch aufhält. 1948 erwarb er die polnische Staatsangehörigkeit.

Die Beklagte bewilligte ihm das Altersruhegeld mit Bescheid vom 14. Februar 1964 für die Zeit vom 1. Oktober 1963 an, zahlte es jedoch mit der Begründung nicht aus, das Altersruhegeld ruhe gemäß § 1315 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ab Rentenbeginn, da der Kläger nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitze und sich freiwillig gewöhnlich außerhalb des Geltungsbereiches der RVO aufhalte. Klage und Berufung des Klägers blieben ohne Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Revision zugelassen.

Mit der Revision rügt der Kläger, das LSG habe die Vorschrift des § 1315 Abs. 1 Nr. 1 RVO nicht richtig angewandt; es habe zu Unrecht angenommen, daß er sich freiwillig in Polen aufhalte. Er beantragt sinngemäß, die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts Lübeck vom 6. Juli 1966 und des Sozialgerichts Lübeck vom 22. Februar 1965 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 14. Februar 1962 zu ändern sowie die Beklagte zu verurteilen, ihm das festgestellte Altersruhegeld vom 1. Oktober 1963 an auszuzahlen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Die Revision des Klägers ist unbegründet.

Der Entscheidung des LSG ist beizupflichten, daß das dem Kläger vom 1. Oktober 1963 an festgesetzte Altersruhegeld nicht auszuzahlen ist, sondern daß der Anspruch auf das Altersruhegeld gemäß § 1315 Abs. 1 Nr. 1 RVO ruht. Nach dieser Vorschrift ruht die Rente, solange der Berechtigte weder Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) noch früherer deutscher Staatsangehöriger im Sinne des Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG ist und sich freiwillig gewöhnlich außerhalb des Geltungsbereichs der RVO, d. h. der Bundesrepublik Deutschland und des Landes Berlin, aufhält.

Das LSG hat mit Recht die Vorschrift des § 1315 Abs. 1 Nr. 1 RVO angewandt, weil ein zwischenstaatliches Abkommen mit der Volksrepublik Polen über eine von der Bestimmung des § 1315 Abs. 1 Nr. 1 RVO abweichende Regelung nicht besteht.

Der Kläger ist weder Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG noch früherer deutscher Staatsangehöriger im Sinne des Art. 116 Abs. 2 Satz 1 GG. Er hat im Jahre 1948 durch den Erwerb der polnischen Staatsangehörigkeit seine deutsche Staatsangehörigkeit verloren, wie dies von den Beteiligten auch nicht in Zweifel gezogen wird.

Wie das LSG mit Recht angenommen hat, hält sich der Kläger freiwillig gewöhnlich außerhalb des Geltungsbereichs der RVO im Sinne des § 1315 Abs. 1 Nr. 1 RVO auf, weil er seit dem 1. Oktober 1963 nicht den Willen gehabt hat, in das Geltungsgebiet der RVO zurückzukehren. Die Unfreiwilligkeit eines Auslandsaufenthaltes setzt voraus, daß der Berechtigte überhaupt den Willen hat, nach Deutschland zurückzukehren und diesen Willen wegen einer Zwangslage nicht verwirklichen kann. Ein solcher Rückkehrwillen kann sich aus Äußerungen des Versicherten selbst und den äußeren Umständen des Einzelfalles ergeben; er hat sich auf die Zeit zu erstrecken, für die das Ruhen der Rente in Frage steht (vgl. Großer Senat RVA AN 1922, 444, 445). Maßgeblich ist also die Zeit vom 1. Oktober 1963 an, für die streitig ist, ob das Altersruhegeld dem Kläger auszuzahlen ist oder ruht.

Nach den von der Revision nicht angegriffenen und daher das Revisionsgericht bindenden Feststellungen (§ 163 SGG) hat der Kläger am 28. April 1965 die Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland beantragt, die verweigert worden ist. Er hat schon vorher im Laufe des sozialgerichtlichen Verfahrens mit Schreiben vom 19. Februar 1965 erklärt, er wäre bereit, in die Bundesrepublik zurückzukehren, eine Ausreisegenehmigung werde jedoch nicht erteilt. Vor Zustellung des Rentenbescheides hatte er sich zur Frage der Rückkehr nach Deutschland nicht geäußert. Außerdem hat er nach Erhalt des Bescheides der Beklagten mehr als ein Jahr verstreichen lassen, ehe er einen Antrag auf Auswanderung am 28. April 1965 in Polen gestellt hat. Diese tatsächlichen Umstände sind die einzigen äußeren Anhaltspunkte, aus denen Rückschlüsse für den Rückkehrwillen des Klägers gezogen werden können. Ob aus früheren und häufigeren Auswanderungsbemühungen eher auf einen wirklich gegebenen Willen zur Rückkehr nach Deutschland hätte geschlossen werden können, kann hier ungeprüft bleiben; denn es ist jedenfalls nicht zu beanstanden, wenn das LSG aus den von ihm festgestellten Tatsachen nicht für bewiesen angesehen hat, daß der Kläger überhaupt den Willen gehabt hat und hat, in den Geltungsbereich der RVO zurückzukehren.

Die Auffassung der Revision, der Kläger habe sich in einer Zwangslage befunden, weil Polen seine Ausreise verboten habe, wäre jedoch nur von Bedeutung, wenn er seine wirklich vorhandene Absicht, nach Deutschland zurückzukehren, durch Verweigerung der Auswanderung nicht hätte ausführen können, wenn er also ohne diese Zwangslage in das Inland umziehen wollte (vgl. hierzu BSG in SozR Nr. 1 zu § 1283 RVO). Eine solche Feststellung hat das LSG aber nicht getroffen. Im Gegenteil, es hat für bewiesen angesehen, daß besondere Umstände den Kläger bewogen haben und noch veranlassen, in Polen zu bleiben und von einer Rückkehr in das Inland abzusehen.

Die besonderen Verhältnisse, unter denen der Kläger in Polen lebt und die er bei der Rückkehr nach Deutschland zu erwarten hätte, rechtfertigen auch nicht die Annahme, der Kläger sei durch eine Zwangslage in der Freiheit seiner Willensbildung gehindert gewesen und gehindert. In dem Urteil vom 3. März 1960 - 4 RJ 186/57 - (SozR Nr. 1 zu § 1283 RVO = Breithaupt 1960, 893 = SGb 1960, 415 mit Anm. Schieckel) hat das Bundessozialgericht ausgesprochen, daß ein Aufenthalt im Ausland auch dann im Sinne des § 1282 Nr. 1 RVO aF (d. h. idF bis zum Inkrafttreten des ArVNG) nicht freiwillig ist, wenn der versicherte Ausländer seinem Wunsche, in das Ausland zurückzukehren, nur deshalb nicht folgen kann, weil er sich in einer Zwangslage befinde, durch die das Beharren auf dem Rückkehrwillen nur unter Vernachlässigung bzw. Aufgabe wesentlichster rechtsgeschützter Güter des Versicherten möglich und daher schlechthin unvernünftig wäre. Solange allerdings Vor- und Nachteile des In- und Auslandsaufenthaltes noch sinnvoll gegeneinander abgewogen werden könnten, und der Versicherte sich dann für die ihm aus seiner Sicht vorzuziehende Lösung entscheide, liege immer noch eine echte freiwillige Entscheidung vor. Selbst wenn man dem folgen wollte, bieten nach den Feststellungen des LSG die tatsächlichen Verhältnisse keinen Anhalt dafür, daß der Kläger nicht in der Lage gewesen ist und auch heute nicht ist, die Gründe für ein Leben im Geltungsbereich der RVO und die dagegenstehenden Gründe gegeneinander abzuwägen und nach der Erkenntnis dieser Überzeugung zu handeln. Selbst bei Berücksichtigung der familiären Bindungen und der wirtschaftlichen Belange des Klägers spricht nichts dafür, daß er eine Gefährdung oder Verletzung wesentlichster rechtsgeschützter Güter und Werte bei einer Rückkehr in das Inland zu befürchten hätte, so daß seine Rückkehr nach Deutschland schlechthin unvernünftig wäre. Es fehlt an jedem Anhaltspunkt dafür, daß der Kläger bei seinem Willensentschluß, in Polen zu bleiben und nicht nach Deutschland zurückzukehren, unter einem unabwendbaren Zwang gestanden hätte.

Da die Voraussetzungen für das Ruhen des Anspruchs auf Altersruhegeld gemäß § 1315 Abs. 1 Nr. 1 RVO sonach erfüllt sind, hat das LSG mit Recht die Auffassung der Beklagten bestätigt, daß das Altersruhegeld nicht auszuzahlen ist. Die Zurückweisung der Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts in dem angefochtenen Urteil ist somit nicht zu beanstanden.

Die Revision des Klägers muß aus diesen Gründen ebenfalls ohne Erfolg bleiben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2296934

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