Entscheidungsstichwort (Thema)
Leistungsabgrenzung zwischen RV und KV bei stationärer Heilbehandlung wegen Tuberkulose
Leitsatz (redaktionell)
Für die Feststellung der Leistungszuständigkeit des Rentenversicherungsträgers nach RVO § 1244a, AVG § 21a ist eine Erkrankung an aktiver behandlungsbedürftiger Tuberkulose schon dann anzunehmen, wenn der Träger der RV diese Diagnose vor Beginn der Heilbehandlung aufgrund eigener Prüfung bestätigt hat; seine Leistungsverpflichtung endet erst, wenn feststeht, daß keine aktive behandlungsbedürftige Tuberkulose vorliegt, so daß er bis dahin die Heilbehandlung als eigene Aufgabe und nicht für einen anderen Versicherungsträger erbringt.
Normenkette
RVO § 1244a Abs. 1 Fassung: 1959-07-23
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 30.07.1969) |
SG Landshut (Entscheidung vom 05.06.1968) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 30. Juli 1969 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Klägerin - die Landesversicherungsanstalt Niederbayern-Oberpfalz - gewährte der Versicherten in Anwendung des § 1244 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) in der Zeit vom 26. Juni bis 31. Juli 1963 stationäre Heilbehandlung. Die Diagnose, daß eine aktive behandlungsbedürftige Tuberkulose vorliege, war sowohl vom zuständigen Amtsarzt als auch vom ärztlichen Dienst der Klägerin gestellt worden. Am 31. Juli 1963 wurde die Versicherte in eine andere Klinik verlegt, weil in der vorbezeichneten Heilstätte das Vorliegen einer Tuberkuloseerkrankung verneint worden war. Die Kosten der weiteren Behandlung übernahm die Beklagte. Den von der Klägerin für die Zeit vom 26. Juni bis 31. Juli 1963 geltend gemachten Erstattungsanspruch lehnte sie ab. Unter Bezugnahme auf ein Gutachten der medizinischen Universitätsklinik E vertritt sie auch weiterhin die Auffassung, daß die Versicherte an einer Tuberkuloseerkrankung leide, daß zumindest der Verdacht auf das Vorliegen einer solchen Erkrankung jedenfalls nicht ausgeräumt sei.
Das Sozialgericht (SG) Landshut hat die Klage durch Urteil vom 5. Juni 1968 abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg (Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts - LSG - vom 30. Juli 1969). In den Gründen des angefochtenen Urteils ist u. a. ausgeführt: Der Klägerin stehe ein Erstattungsanspruch deshalb nicht zu, weil sie nach § 1244 a RVO zur Gewährung der stationären Heilbehandlung verpflichtet gewesen sei. Aber selbst wenn man das Vorliegen eines solchen Anspruchs bejahen wolle, so sei er jedenfalls verjährt.
Gegen diese Entscheidung wendet sich die Klägerin mit der Revision. Sie ist der Auffassung, daß bei der Versicherten zu keiner Zeit eine Tuberkuloseerkrankung vorgelegen und daß sie deshalb irrtümlich Heilbehandlung gewährt habe. Es sei Aufgabe der Beklagten gewesen, die Leistung zu erbringen. Sie habe daher die Kosten der Behandlung zu erstatten.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr die Kosten der Heilbehandlung zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision hat keinen Erfolg. Die Klägerin war nach § 1244 a RVO verpflichtet, der Versicherten stationäre Heilbehandlung zu gewähren. An dieser Verpflichtung wird dadurch, daß die ursprünglich gestellte Diagnose möglicherweise in Zweifel gezogen werden kann, nichts geändert. Dies hat der erkennende Senat in einem ähnlich liegenden Fall (vgl. das zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil vom 24. November 1971 - 4 RJ 275/71 -) bereits entschieden. Auf die Gründe dieser Entscheidung wird Bezug genommen. Hiernach liegt eine aktive behandlungsbedürftige Tuberkulose im Sinne des § 1244 a RVO schon dann vor, wenn von dem zuständigen Amtsarzt eine entsprechende Diagnose gestellt worden ist und der Träger der Rentenversicherung diese nach eigener Prüfung bestätigt hat. Die Verpflichtung des Trägers der Rentenversicherung, in Fällen der vorliegenden Art Heilbehandlung zu gewähren, ergibt sich aus dem der Vorschrift des § 1244 a RVO - jedenfalls auch - innewohnenden Sinn der Tuberkulosebekämpfung. Die Träger der Rentenversicherung gehören zu den Stellen, denen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) die vorbezeichnete Aufgabe - vgl. hierzu § 48 BSHG - übertragen ist (vgl. § 132 BSHG). Sie kann nur erfüllt werden, wenn die zur Bekämpfung der Tuberkulose notwendigen Maßnahmen unverzüglich und nicht erst dann eingeleitet werden, wenn jeder Zweifel hinsichtlich der Richtigkeit der Diagnose ausgeräumt ist. Für eine solche Auslegung spricht auch die Vorschrift des § 135 BSHG, in der nicht auf das Vorliegen, sondern auf die Diagnostizierung der Tuberkulose durch einen amtlich bestellten Arzt abgestellt ist.
An der Verpflichtung der Klägerin, die Kosten der Heilbehandlung zu tragen, hat sich bis zum 31. Juli 1967 - von diesem Tage an wurde die Versicherte auf Kosten der Beklagten in einem anderen Krankenhaus behandelt - nichts geändert. Nach § 135 BSHG bleibt die Zuständigkeit des in § 132 genannten Leistungsträgers auch dann bis zur Beendigung der Heilbehandlung bestehen, wenn sich nach der Feststellung der Behandlungsbedürftigkeit durch einen amtlich bestellten Arzt die Umstände, welche die sachliche Zuständigkeit begründet haben, ändern. Die Anwendung des § 135 BSHG auf Fälle der vorliegenden Art führt nicht zu einem für den Träger der Rentenversicherung unzumutbaren Ergebnis. Es ist seine Aufgabe, die Heilbehandlung zu überwachen und ggf. ihre Beendigung durch eigene Entscheidung herbeizuführen. Daran ist er auch für den Fall, daß die Leistungszusage für eine festumrissene Zeitspanne erteilt worden ist, nicht gehindert. Sie enthält - auch wenn es an einem ausdrücklichen Vorbehalt fehlt - regelmäßig einen Widerrufsvorbehalt, der es gestattet, die Bindungswirkung des § 77 SGG zu durchbrechen. Auch darauf hat der Senat in dem vorbezeichneten Urteil mit eingehender Begründung hingewiesen. Er hat dort weiter entschieden, daß die zwischen den Trägern der Rentenversicherung und den Trägern der Krankenversicherung in Anwendung des § 1244 RVO abgeschlossene Vereinbarung vom 15. September 1958 (veröffentlicht ua in BKK 1958, 659; ErsK 1959, 15) an diesem Ergebnis nichts zu ändern vermag. Die - entgegenstehende - Kostenerstattungsregelung des § 2 der Vereinbarung ist durch die dargelegte, nunmehr im Gesetz enthaltene Neuregelung überholt, so daß es keiner Entscheidung darüber bedarf, von welchem Zeitpunkt an die - inzwischen gekündigte (vgl. SozVers 1966,75) - Vereinbarung in ihrer Gesamtheit nicht mehr anzuwenden ist.
Da hiernach ein Anspruch der Klägerin auf Kostenerstattung nicht besteht, muß die Revision zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 4 SGG.
Fundstellen