Leitsatz (amtlich)
Hat der Träger der Rentenversicherung wegen einer - sowohl von ihm selbst als auch vom zuständigen Amtsarzt diagnostizierten - aktiven behandlungsbedürftigen Tuberkulose Heilbehandlung gewährt, so kann er vom Träger der Krankenversicherung nicht schon deshalb Erstattung seiner Aufwendungen verlangen, weil sich die Diagnose später als unrichtig erweist.
In einem solchen Fall kann der Träger der Rentenversicherung die Behandlung wegen Tuberkulose vorzeitig beenden, auch wenn er sich dies bei seiner Leistungszusage nicht ausdrücklich vorbehalten hat.
Normenkette
RVO § 1244a Fassung: 1959-07-23; SGG § 77 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28. Mai 1969 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin - die Landesversicherungsanstalt (LVA) N - von der beklagten Ortskrankenkasse M Ersatz der Aufwendungen verlangen kann, die ihr anläßlich der Durchführung einer stationären Heilbehandlung nach § 1244 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) entstanden sind.
Die Klägerin bewilligte der Ehefrau eines Pflichtversicherten im August 1962 stationäre Heilbehandlung wegen einer aktiven behandlungsbedürftigen Lungentuberkulose. Die vorbezeichnete Diagnose war sowohl vom zuständigen Amtsarzt als auch vom ärztlichen Dienst der Klägerin gestellt worden. In der Zeit vom 5. September bis 12. Dezember 1962 wurde die Heilbehandlung in einer Heilstätte der Klägerin durchgeführt. Nach dem Entlassungsbericht der Heilstätte handelte es sich indessen nicht um eine Tbc-Erkrankung, sondern um eine doppelseitige, schwere Pneumokokken-Bronchopneumonie. Daraufhin verlangte die Klägerin von der Beklagten die Erstattung der Kosten der Heilstättenbehandlung. Die Beklagte lehnte den Anspruch ab.
Das Sozialgericht (SG) hat die im Dezember 1966 erhobene Klage durch Urteil vom 5. Juni 1968 abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg (Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts - LSG - vom 28. Mai 1969). Das LSG hat unentschieden gelassen, ob der Klägerin ein Ersatzanspruch zustehe. Ein eventuell zur Entstehung gelangter Anspruch sei in entsprechender Anwendung des § 223 Abs. 1 RVO verjährt. Der Einwand der Klägerin, die Beklagte habe rechtsmißbräuchlich die Einrede der Verjährung erhoben, dringe nicht durch.
Gegen diese Entscheidung wendet sich die Klägerin mit der Revision. Sie weist darauf hin, daß sie irrtümlich Heilbehandlung gewährt habe. Die ursprünglich gestellte Diagnose habe sich nachträglich zweifelsfrei als unrichtig erwiesen. Deshalb habe von Anfang an eine Leistungspflicht der Beklagten bestanden. Hieraus ergebe sich ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch, den die Beklagte befriedigen müsse. Der Anspruch sei nicht verjährt. In Fällen der vorliegenden Art komme die 30-jährige Verjährungsfrist des § 195 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -, allenfalls die 4-jährige Verjährungsfrist des § 29 Abs. 3 RVO in Betracht.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung der ihr durch die Heilbehandlung entstandenen Kosten in Höhe von 2131,35 DM zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, daß der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch nicht entstanden sei. Wenn man aber insoweit von der Auffassung der Klägerin ausgehe, so sei der Anspruch verjährt.
Die Revision hat keinen Erfolg. Die Vorinstanzen haben zu Recht entschieden, daß die Beklagte nicht verpflichtet ist, die der Klägerin entstandenen Kosten zu erstatten. Mit der Bewilligung der Heilbehandlung hat die Klägerin eine ihr nach § 1244 a RVO obliegende Aufgabe erfüllt. An ihrer Zuständigkeit hat sich bis zur Beendigung der stationären Behandlung im Dezember 1962 nichts geändert. Es fehlt an der Verpflichtung einer anderen Stelle, etwa der Beklagten.
Nach § 1244 a Abs. 1 RVO haben Versicherte für sich, ihren Ehegatten und die Kinder Anspruch auf die Maßnahmen nach den §§ 1236 bis 1244 RVO - also auch auf stationäre Heilbehandlung -, wenn eine aktive behandlungsbedürftige Tuberkulose vorliegt. Entgegen der Auffassung der Klägerin muß schon dann vom Vorliegen einer Tuberkulose in dem vorbezeichneten Sinne ausgegangen werden, wenn der Amtsarzt eine entsprechende Diagnose gestellt und der Träger der Rentenversicherung diese Diagnose nach eigener Prüfung bestätigt hat. Das Gesetz stellt allein auf einen solchen, vor der Behandlung erhobenen Befund ab, es läßt zunächst unberücksichtigt, ob dieser Befund später in Zweifel gezogen werden kann oder sich als unrichtig erweist. Der Klägerin ist allerdings einzuräumen, daß der Wortlaut des § 1244 a RVO eine solche Auslegung nicht zwingend gebietet. Er steht ihr jedoch auch nicht im Wege. Die Auslegung des Gesetzes hat sich daher an dem vom Gesetzgeber angestrebten Zweck zu orientieren. Dieser ist - zumindest auch - auf die Bekämpfung der Tuberkulose als Volksseuche gerichtet. Die durch § 1244 a RVO begründeten Pflichten des Trägers der Rentenversicherung gehen weit über das hinaus, was von ihm im Rahmen der Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit (vgl. §§ 1236 ff RVO) zu erbringen ist. Es besteht ein Rechtsanspruch auf die in § 1244 a RVO bezeichneten Leistungen, er steht nicht nur Versicherten und Rentnern, sondern - mittelbar - auch ihren Familienangehörigen zu. Diese Regelung trägt dem Umstand Rechnung, daß die Träger der Rentenversicherung zu den sonstigen zur Tuberkulosebekämpfung verpflichteten Stellen im Sinne des Bundessozialhilfegesetzes vom 30. Juni 1961 - BSHG - gehören (vgl. § 32 BSHG). Ihre Aufgabe erstreckt sich demgemäß auch darauf, die Heilung Tuberkulosekranker zu fördern und zu sichern, sowie die Umgebung der Kranken gegen die Übertragung der Tuberkulose zu schützen (vgl. § 48 BSHG). Die Maßnahmen, die im Rahmen dieser Aufgabe notwendig sind - sie müssen nach dem Willen des Gesetzgebers auf die Eindämmung der Tuberkuloseerkrankungen in ihrer Gesamtheit gerichtet sein -, können nur sinnvoll angewandt werden, wenn die in Betracht kommenden Stellen unverzüglich und nicht erst dann eingreifen, wenn - möglicherweise erst nach langer Zeit der Ungewißheit - jeder Zweifel hinsichtlich der Diagnose ausgeschlossen ist. Nur so kann gegen die Ausbreitung der Tuberkulose wirksam eingeschritten werden. Daß ein schnelles Eingreifen vom Gesetzgeber gewollt ist, folgt schließlich daraus, daß nicht nur der Erkrankte selbst, sondern auch das Gesundheitsamt berechtigt ist, bei dem Träger der Rentenversicherung einen Antrag auf Heilbehandlung wegen einer Tuberkuloseerkrankung zu stellen (§ 133 iVm § 63 BSHG). Diesen Erwägungen gegenüber kann nicht eingewandt werden, daß in Fällen, in denen Zweifel hinsichtlich der Diagnose bestehen, der Sozialhilfeträger die notwendigen Maßnahmen einleiten könne. Gerade dies sollte für den Personenkreis des § 1244 a RVO durch die dort getroffenen Regelungen vermieden werden. Die von den Rentenversicherungsträgern geschaffenen, in besonderem Maße für die Tuberkulosebekämpfung geeigneten Heilstätten sollen beschleunigt genutzt werden, um günstige Ergebnisse zu gewinnen. Im übrigen soll die Tuberkulosebehandlung nach der Vorstellung des Gesetzgebers von Anfang an nach Möglichkeit in einer Hand bleiben (vgl. §§ 60, 135 BSHG). Diese Überlegungen machen deutlich, daß es im Rahmen der Tuberkulosebekämpfung nicht auf das zweifelsfreie Vorliegen einer Tuberkuloseerkrankung ankommen kann, sondern daß vielmehr die hinreichend gesicherte Diagnose einer aktiven behandlungsbedürftigen Tuberkulose genügen muß, um die Zuständigkeit des Rentenversicherungsträgers für die Einleitung der Heilbehandlung zu begründen. Sie finden ihre Bestätigung in der Vorschrift des § 135 BSHG, die nach § 132 BSHG auf die Träger der Rentenversicherung Anwendung findet. Dort ist in erster Linie zwar eine Regelung über das Weiterbestehen der Zuständigkeit bei Änderung der Zuständigkeitsvoraussetzungen getroffen. Sie macht darüber hinaus aber deutlich, daß der Diagnosestellung die entscheidende Bedeutung zukommt. Dort ist nicht auf das Vorliegen einer Tuberkuloseerkrankung, sondern ausdrücklich auf die "Feststellung der Behandlungsbedürftigkeit (der Tuberkulose) durch einen amtlich bestellten Arzt" abgestellt. Ob hiernach bereits die von einem Amtsarzt gestellte Diagnose ausreicht, den Rentenversicherungsträger zur Einleitung der Heilbehandlung zu veranlassen, kann hier offen bleiben. Sie wird im Hinblick auf die Berechtigung des Gesundheitsamtes zur Antragstellung jedenfalls dazu führen, daß der Rentenversicherungsträger - wie es hier geschehen ist - auf eigene Kosten eine Überprüfung der Diagnose vornimmt. Er ist dann, wenn die Diagnose bestätigt wird, verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen durchzuführen. Die Klägerin ist in dem zu entscheidenden Fall nach eigener Prüfung zu dem Ergebnis gelangt, daß eine aktive behandlungsbedürftige Tuberkulose vorliege. Sie mußte daraufhin nach § 1244 a RVO stationäre Heilbehandlung gewähren.
An der Zuständigkeit der Beklagten hat sich während der Dauer der Heilbehandlung nichts geändert. Es ist bei einer so schweren Erkrankung Pflicht, in der Klinik neben der Behandlung ständig Untersuchungen und Beobachtungen zur Überprüfung der ursprünglich gestellten Diagnose durchzuführen. Beides geht im allgemeinen Hand in Hand. Gerade die gezielte Tuberkulosebehandlung, die bei unrichtiger Diagnose in der Regel nicht zu dem gewünschten Erfolg führen kann, wird häufig erste Zweifel an der Richtigkeit der Einweisungsdiagnose hervorrufen. Diese werden zuweilen erst beseitigt sein, wenn tatsächlich eine Heilung eingetreten ist oder der Verlauf der Erkrankung darauf hindeutet, daß es sich nicht um eine Tuberkulose gehandelt hat. Daneben sind Fälle denkbar, in denen trotz eines Heilerfolges auch weiterhin Ungewißheit über die Art der Erkrankung bestehen bleibt. Es würde dem Sinn des Gesetzes widersprechen, wenn der Rentenversicherungsträger schon beim Auftreten von Zweifeln hinsichtlich der Richtigkeit der Diagnose berechtigt wäre, die Heilbehandlung zu beenden. Er kann aus seiner Verpflichtung erst entlassen werden, wenn feststeht, daß es sich nicht um eine aktive behandlungsbedürftige Tuberkulose gehandelt hat. Diesem Erfordernis trägt die Vorschrift des § 135 BSHG Rechnung. Dort heißt es in Absatz 1 Satz 1: "Ändern sich nach der Feststellung der Behandlungsbedürftigkeit (der Tuberkuloseerkrankung) durch einen amtlich bestellten Arzt die Umstände, welche die sachliche Zuständigkeit eines in § 132 genannten Leistungsträgers begründet haben, so bleibt seine Zuständigkeit bis zur Beendigung der Heilbehandlung bestehen". Es mag sein, daß diese Regelung sich in erster Linie auf andere Fälle bezieht. Gleichwohl ist ihre Anwendung auf Fälle der vorliegenden Art sowohl ihrem Wortlaut als auch ihrem Sinngehalt nach nicht ausgeschlossen. Die hieraus resultierende Verpflichtung des Trägers der Rentenversicherung, die Kosten der Heilbehandlung bis zu ihrer "Beendigung" zu tragen, stellt für ihn keine unzumutbare Belastung dar. Die Entscheidung über die Beendigung hat er - wenn die aufgezeigten Voraussetzungen erfüllt sind - selbst zu treffen. Es ist nicht zweifelhaft, daß er an einer solchen Entscheidung dann nicht gehindert ist, wenn die Behandlung für eine unbestimmte Zeit gewährt wurde. Im Falle der Leistungszusage für eine fest umrissene Zeitspanne ist es in der Regel - trotz der Bindungswirkung des § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) - nicht anders. Die Leistung nach § 1244 a RVO wird wegen einer Tuberkuloseerkrankung gewährt. Sie beinhaltet eine gezielte Behandlung nur wegen dieser Krankheit. Aus diesem Grunde steht die Diagnose erkennbar mit der Leistungszusage in einem so engen Zusammenhang, daß sich daraus regelmäßig der Vorbehalt des Widerrufs herleiten läßt für den Fall, daß sich die Diagnose als unrichtig erweist. Ein hiervon abweichendes Ergebnis würde dem Interesse des Erkrankten widerstreiten, das in der Regel auf eine sinnvolle Behandlung der tatsächlich vorliegenden Krankheit gerichtet sein wird. Ob dieses Interesse nicht sogar die Verpflichtung des Versicherungsträgers zur Beendigung der Heilbehandlung begründet, kann hier offen bleiben. - Hiernach liegt es bei dem Träger der Rentenversicherung, den Verlauf der Behandlung zu überwachen und gegebenenfalls eine Entscheidung über die Beendigung der Behandlung zu treffen. Solange dies nicht geschehen ist, erfüllt er eine eigene Aufgabe, er wird nicht für einen anderen Versicherungsträger tätig. In dieser Zeit handelt es sich trotz unrichtiger Diagnose um die Bekämpfung einer aktiven behandlungsbedürftigen Tuberkulose im Sinne des § 1244 a RVO. So liegt der Fall hier, die Klägerin hat daher die Kosten der von ihr gewährten Heilbehandlung zu tragen.
Diesem Ergebnis steht die in Anwendung des § 1244 RVO zwischen den Trägern der Rentenversicherung und den Trägern der Krankenversicherung getroffene Vereinbarung vom 15. September 1958 - veröffentlicht u. a. in BKK 1958, 659; ErsK 1959, 15 - nicht im Wege. Dort heißt es zwar in § 2, daß der Träger der Krankenversicherung für den Fall, daß der Träger der Rentenversicherung irrtümlich Heilbehandlung wegen einer Tuberkulose gewährt hat, diesem Ersatz zu leisten habe. Insoweit ist die Vereinbarung, die die erst später in Kraft getretenen Vorschriften des § 1244 a RVO sowie des BSHG nicht berücksichtigen konnte, aufgrund der im einzelnen dargelegten, nunmehr kraft Gesetzes bestehenden Kostenregelung jedenfalls seit Inkrafttreten des BSHG überholt. Ihr kommt insoweit keine Bedeutung mehr zu (vgl. hierzu auch BSG in SozR Nr. 5 zu § 1244 a RVO). Es kann daher offen bleiben, zu welchem Zeitpunkt die von den Trägern der Rentenversicherung inzwischen ausgesprochene Kündigung der Vereinbarung wirksam geworden ist (vgl. hierzu Soz. Vers. 1966, 75). Eine neue Vereinbarung der vorbezeichneten Art mit Wirkung für den zu entscheidenden Fall besteht zwischen den Beteiligten nicht. Eine Entscheidung darüber, ob einer solchen Vereinbarung im Hinblick auf die gesetzliche Regelung Bedeutung zukommen könnte, ist hier nicht zu treffen.
Die Revision muß hiernach zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 4 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1669634 |
BSGE, 225 |