Orientierungssatz

1. Zur Vereinbarkeit der Regelungen in AnVNG Art 2 § 15 Abs 2 (= ArVNG Art 2 § 15 Abs 2) und in AVG § 49 Abs 3 (= RVO § 1272 Abs 3) mit GG Art 3 und 20 (Anschluß an BSG 1970-12-08 11 RA 160/68 = BSGE 32, 136).

2. Es ist nicht möglich, daß ein Versicherter auf die Rechte aus der Ersatzzeit verzichtet, um eine Berechnung seiner Rente allein unter Berücksichtigung der während der Ersatzzeit entrichteten freiwilligen Beiträge zu erreichen (Anschluß an BSG 1970-12-08 11 RA 160/68 = BSGE 32, 136, 139). Es kann keinem Versicherten gestattet sein, sich die für ihn jeweils günstigsten Berechnungsfaktoren herauszusuchen.

 

Normenkette

AnVNG Art. 2 § 15 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 15 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 49 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1272 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23; GG Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Art. 20 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 26. Juni 1975 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des dem Kläger zustehenden Altersruhegeldes.

Der Kläger hatte als selbständiger Unternehmer vom Januar 1939 an freiwillige Beiträge zur Angestelltenversicherung (AnV) geleistet (Selbstversicherung). Von Januar 1939 bis Mai 1940 entrichtete er fünfzehn Beiträge der Klasse 6 und zuletzt zwei Beiträge der Klasse 8. Vom 10. Juni 1940 bis zum 3. Mai 1945 war er im Krieg. Er zahlte auch für diese Zeit freiwillig AnV-Beiträge in den Klassen 6, 7, 8 und 10. Die freiwillige Versicherung setzte er nach dem Kriegszeitweise in geringeren Beitragsklassen fort.

Die Beklagte hatte in ihrem Bescheid vom 28. August 1972, mit dem sie Altersruhegeld vom 1. Oktober 1972 an bewilligte, die Kriegsdienstzeit als Ersatzzeit und daneben die in dieser Zeit geleisteten freiwilligen Beiträge nach Art. 2 § 15 Abs. 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) als Beiträge der Höherversicherung (HV) angerechnet. Der Kläger hat daraufhin Klage zum Sozialgericht (SG) Speyer erhoben und geltend gemacht, bei Berechnung allein der während der Kriegsdienstzeit geleisteten freiwilligen Beiträge ohne Anrechnung der Ersatzzeit sei sein Altersruhegeld höher; er verzichte auf die Ersatzzeiten und begehre die sich nur bei Berücksichtigung der freiwilligen Beiträge ergebende höhere Rente.

Die Klage blieb erfolglos - Urteil des SG Speyer vom 17. Dezember 1974 -; auch die Berufung des Klägers wurde zurückgewiesen - Urteil des Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz vom 26. Juni 1975 -. Mit der vom LSG zugelassenen Revision beantragt der Kläger

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG Speyer vom 17. Dezember 1974 sowie in Abänderung des angefochtenen Bescheides vom vom 28. August 1972 die Beklagte zu verurteilen, bei der Berechnung seines Altersruhegeldes die von ihm während der Kriegsdienstzeit vom 10. Juni 1940 bis zum 3. Mai 1945 geleisteten Beiträge nicht als Beiträge der HV, sondern als freiwillige Beiträge ohne Anrechnung der Kriegsdienstzeit als Ersatzzeit zu berücksichtigen,

hilfsweise,

die Beklagte zu verurteilen, seine Rente, soweit sie auf Beiträgen zur HV beruht, nach Maßgabe der Verteuerung der Lebenshaltungskosten anzuheben, notfalls nach den vom Gericht festzusetzenden Grundsätzen.

Der Kläger wiederholt sein bisheriges Vorbringen. Die in Art. 2 § 15 AnVNG getroffene Regelung wirke sich für ihn sehr ungünstig aus. Hier sei eine Gesetzeslücke vorhanden, die von der Rechtsprechung geschlossen werden müsse. Bei einer anderen Auffassung ergebe sich ein Verstoß gegen das Rechts- und Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) sowie gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 und schließlich gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, weil seine auf den HV-Beiträgen beruhenden Rentenanteile von einer Rentenanpassung ausgeschlossen seien und demzufolge einen prozentual immer niedriger werdenden Anteil an der Gesamtrente darstellten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für richtig. Der Hilfsantrag stelle eine in der Revisionsinstanz unzulässige Klageänderung dar und sei im übrigen unbegründet.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Der Kläger kann weder mit seinem Hauptantrag noch mit seinem gemäß § 99 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässigen Hilfsantrag Erfolg haben.

Art. 2 § 15 Abs. 2 Satz 1 AnVNG bestimmt: sind in der Zeit vor dem 1. Januar 1957 neben Pflichtbeiträgen oder in Ersatzzeiten freiwillige Beiträge entrichtet, so gelten die freiwilligen Beiträge als Beiträge der HV. Diese Vorschrift gilt nur für Renten aus Versicherungsfällen, die - wie beim Kläger - nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten sind und die nach neuem Recht berechnet werden müssen.

Hierzu hat der 11. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in seinem Urteil vom 8. Dezember 1970 (BSGE 32, 136) bereits entschieden, daß die Regelung, wonach die in Ersatzzeiten vor 1957 entrichteten freiwilligen Beiträge als Beiträge der HV gelten, auch dann anzuwenden ist, wenn sich der Versicherte ohne Ersatzzeiten bei alleiniger Berücksichtigung der freiwilligen Beiträge mit Werteinheiten besser stehen würde. Das LSG ist dieser Auffassung im Ergebnis gefolgt, wenn auch mit anderer Begründung. Ein Eingehen hierauf im einzelnen erübrigt sich jedoch. Jedenfalls ist die gesetzliche Regelung eindeutig. Sie läßt eine Vergleichsberechnung einmal auf der Grundlage des Art. 2 § 15 Abs. 2 Satz 1 AnVNG und sodann ohne Berücksichtigung von Ersatzzeiten, aber mit freiwilligen Beiträgen, nicht zu. Dieses Ergebnis kann nicht einmal durch einen "Verzicht" auf die Ersatzzeit oder die Rechte aus dieser erreicht werden, da das Gesetz einen solchen Verzicht nicht vorsieht (BSGE 32, 136, 139). Hieran sind die Gerichte gebunden.

Diese Regelung ist weder ergänzungsbedürftig noch so ungünstig wie es der Kläger meint. Auch heute genießen die Beiträge der HV noch gewisse Vorteile. So wurden aus ihnen Renten ohne Erfüllung der gesetzlichen Wartezeit gezahlt (§ 23 Abs. 4, § 24 Abs. 4 und § 25 Abs. 5 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - i. d. F. des AnVNG). Erst das Rentenreformgesetz (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965) hat hier eine Änderung gebracht - Neufassung des § 72 AVG (= § 1295 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) -, die ab 1. Januar 1973 in Kraft getreten ist. Es bleiben aber immer noch die Vorteile, die sich aus § 62 AVG ergeben. Danach werden die Ruhensvorschriften beim Zusammentreffen von Renten aus den gesetzlichen Rentenversicherungen mit Renten aus der gesetzlichen Unfallversicherung oder wegen Aufenthalts im Ausland auf die Steigerungsbeträge der HV nicht angewendet. Eine weitere Vergünstigung ergibt sich bei der Beitragserstattung (§ 82 Abs. 1 Satz 2 AVG).

Daß die grundsätzliche Regelung in Art. 2 § 15 Abs. 2 Satz 1 AnVNG nicht gegen Art. 14 und 20 GG verstößt, ist denn auch bereits in BSGE 32, 136 dargetan. Außerdem kann insoweit auf die eingehenden und nach Auffassung des erkennenden Senats zutreffenden Ausführungen im Urteil des LSG verwiesen werden. Schließlich wäre in diesem Zusammenhang noch auf das Urteil des Senats vom 30. April 1971 in SozR § 1260 a RVO Nr. 1 zu der vergleichbaren Vorschrift über die Bewertung von Beiträgen, die während einer anzurechnenden Ausfall- oder Zurechnungszeit entrichtet sind, zu verweisen.

Die im Jahre 1957 getroffene Regelung des Art. 2 § 15 Abs. 2 Satz 1 AnVNG war damals bei Erlaß der Rentenreformgesetze sachgemäß und vernünftig. Daß die genannte Regelung den Kläger jetzt benachteiligt, liegt weniger an den hier erlassenen Vorschriften als vielmehr an den allgemeinen Vorschriften über die HV überhaupt. Nach § 49 Abs. 3 AVG sind die Renten oder Rententeile, die aus Steigerungsbeträgen für Beiträge der HV bestehen, von der jährlichen Rentenanpassung ausgenommen. Das Ausmaß des hierdurch bedingten Wertverlustes aus Beiträgen der HV infolge des Geldwertschwundes, insbesondere der letzten Jahre, war vom Gesetzgeber im Jahre 1957 sicherlich nicht im vollen Umfang vorausgesehen worden. Die derzeitige Regelung wird deshalb allgemein als unbillig angesehen (vgl. ua Gaber, Ist die Regelung der Höherversicherung von Pflichtversicherten noch sozial gerecht? Der Betriebsberater 1973, 1075 ff). Dementsprechend ist auch der Gesetzgeber bereits wiederholt aufgefordert worden, hier eine Änderung herbeizuführen. Diese Anpassung der HV an die veränderten wirtschaftlichen Gegebenheiten der Gegenwart dürfen jedoch die Gerichte nicht vornehmen, solange die derzeitige Regelung nicht als verfassungswidrig angesehen werden kann. Nach Ansicht des Senats verstößt der in den §§ 38 und 49 Abs. 3 AVG getroffene Ausschluß der Steigerungsbeträge für Beiträge der HV von den jährlichen Rentenanpassungen wegen der ständig sinkenden Kaufkraft zur Zeit nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG i. V. mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), weil die Beiträge der HV mit den - was hier allein in Betracht kommt - freiwilligen Beiträgen nicht verglichen werden können.

Die HV soll es dem Versicherten ermöglichen, höhere Leistungen zu erwerben als sie im Gesetz im allgemeinen vorgesehen sind. Dafür sollen aber öffentliche Mittel nicht verwandt werden. Die Beiträge sind deshalb nach versicherungsmathematischen Grundsätzen so berechnet, daß sich die HV selbst trägt. Deshalb muß bei steigendem Lebensalter für dieselbe Leistung ein höherer Betrag gezahlt werden. Die Leistungen nehmen aus dem genannten Grunde auch nicht an der allgemeinen Anpassung der Renten an die jährliche Lohnentwicklung teil (vgl. Elsholz/Theile, Die gesetzliche Rentenversicherung, Synoptischer Kommentar, Nr. 15 Note 1 mit Nachweisen über die Entstehungsgeschichte; Söchting, Die Sozialversicherung 1974, 67 ff; Tietz in Bundesarbeitsblatt 1951, 166 und die Anweisung des Bundesministers für Arbeit ebenda 1952, 86, in der es noch einmal heißt, die HV "muß sich finanziell selbst tragen"). Dieser Grundsatz würde verlassen, wenn Rententeile aus Steigerungsbeträgen für Beiträge der HV im Hinblick auf die gesunkene Kaufkraft des Geldes und das gestiegene Lohn- und Gehaltsniveau irgendwie an diese Entwicklung angepaßt würden. Die Mittel dafür könnten nur aus dem gegenwärtigen Beitragsaufkommen genommen werden. Das aber hat der Gesetzgeber gerade nicht gewollt. Er war auch zu einer dahingehenden Regelung befugt. Zu berücksichtigen ist aber auch, daß nach Art 2 § 15 Abs. 2 Satz 3 AnVNG in Mark oder Reichsmark entrichtete Beiträge trotz zweimaligen völligen Währungsverfalls zu ihrem vollen Nennwert in Deutsche Mark übernommen werden. In dem Genuss dieser Vergünstigung gelangt auch der Kläger, der seine freiwilligen Beiträge während des Krieges mit praktisch bereits weitgehend wertloser Reichsmark bezahlt hat.

Somit ist weder der Hauptantrag des Klägers noch sein Hilfsantrag begründet. Insbesondere ist es dem Senat nicht möglich, die Teile der Rente des Klägers, die auf fiktiven Beiträgen der HV beruhen, den veränderten Verhältnissen anzupassen. Dem steht die Regelung des § 49 Abs. 3 AVG entgegen, welche die Rententeile, die aus Steigerungsbeträgen für Beiträge der HV bestehen, ausdrücklich von jeder Rentenanpassung ausnimmt.

Somit war die Revision mit der aus der Urteilsformel ersichtlichen Maßgabe zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649876

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