Leitsatz (redaktionell)
1. Bei Prüfung der Frage der Berufsunfähigkeit eines Sowjetzonenflüchtlings ist von den Verhältnissen in der Bundesrepublik auszugehen.
2. Die Berufsunfähigkeit und die Invalidität alten Rechts decken sich begrifflich nicht. Sie stimmten darin überein, daß die Erwerbsunfähigkeit infolge von Krankheit usw geringer sein muß als die vergleichbarer Personen und daß Verweisungen in bestimmten Grenzen auf andere als die ausgeübten Berufe und Tätigkeiten zulässig sind.
Vor jeder Verweisung ist zu prüfen, ob geeignete, dem freien Wettbewerb zugängliche Arbeitsstellen in ausreichender Zahl vorhanden sind; dabei ist von Verhältnissen in der Bundesrepublik auszugehen.
Normenkette
AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1254 Fassung: 1949-06-17
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. Oktober 1958 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger erstrebt eine Rente wegen Berufsunfähigkeit, und zwar sowohl aus seinen zur Rentenversicherung der Arbeiter (ArV) als auch aus seinen zur Rentenversicherung der Angestellten (AnV) entrichteten Beiträgen. Den Rentenantrag stellte er im Oktober 1954. Er ist gelernter Maler und Dekorateur und war zunächst nur in diesem Beruf tätig, Nach der Amputation seines rechten Arms infolge einer Kriegsverwundung 1944 wurde er als Fernschreiber an Morseapparaten ausgebildet und seit 1945 als solcher in der sowjetischen Besatzungszone bei der dortigen Reichsbahn beschäftigt. Bei dieser Verwaltung nahm er auch an einer Ausbildung für den mittleren Dienst teil, bestand die Fahrdienstleiterprüfung, kam aber wegen seiner Flucht in die Bundesrepublik im August 1954 nicht zur Abschlußprüfung. Seit 1956 ist er als Pförtner beschäftigt. Abgesehen von dem Verlust des rechten Arms und den damit zusammenhängenden Beschwerden ist der Kläger, wie die Vorinstanzen aufgrund medizinischer Gutachten ermittelt haben, im wesentlichen gesund.
Die Beklagte lehnte den Rentenantrag ab; sie hält den Kläger noch für berufsfähig (Bescheid vom 10.3.1955). Das Sozialgericht (SG) Freiburg hörte - neben einem ärztlichen Gutachter - zur Frage der Einsatzfähigkeit des Klägers im Fernmeldewesen der Bundesbahn als Sachverständigen einen technischen Bundesbahn-Oberinspektor. Dieser führte aus, die Bundesbahn benutze - im Gegensatz zur sowjetzonalen Reichsbahn - keine Morseapparate mehr; die bei der Bundesbahn gebräuchlichen Fernschreibgeräte könnten von Einhändern nicht bedient werden. Daraufhin wurde die Beklagte zur Gewährung der beantragten Rente verurteilt (Urteil vom 22.2.1956). Auf die Berufung der Beklagten hin schränkte das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg dieses Urteil dahin ein, daß lediglich die Verpflichtung zur Rentengewährung aus der ArV und auch diese nur für die Zeit vom 1. Januar 1957 an aufrechterhalten blieb. Zur Begründung seiner Entscheidung führte das LSG aus, der Kläger könne als Angestellter deshalb nicht berufsunfähig sein, weil sich sein Gesundheitszustand seit der Aufnahme der angestelltenversicherungspflichtigen Tätigkeit als Morseschreiber nicht verschlechtert habe; auch aus der ArV könne er für Zeiten vor dem 1. Januar 1957 (Tag des Inkrafttretens der Neuregelungsgesetze für die Rentenversicherungen der Arbeiter - ArVNG - und der Angestellten - AnVNG -) keine Rente erhalten, weil das damalige Recht der ArV (§ 1254 Reichsversicherungsordnung - RVO - aF) eine Verweisung auch auf ungelernte Tätigkeiten zugelassen habe und der Kläger trotz des Armverlustes in der Lage sei, einfache Büroarbeiten auszuführen; vom 1. Januar 1957 an dürften jedoch einem Facharbeiter keine un- oder angelernten Tätigkeiten mehr zugemutet werden, so daß von diesem Tage an Berufsunfähigkeit in der ArV vorliege (§ 1246 RVO nF). Das LSG ließ die Revision zu (Urteil vom 28.10.1958).
Beide Beteiligten legten Revision ein, und zwar der Kläger am 14. Januar 1959 gegen das ihm am 15. Dezember 1958 zugestellte Urteil und die Beklagte, der das Urteil am 18. Dezember 1958 zugestellt worden ist, am 9. Januar 1959. Der Kläger beantragte, die Revision der Beklagten zurückzuweisen, das Urteil des LSG. aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen, hilfsweise, das angefochtene Urteil, soweit nicht die Beklagte zur Leistung verpflichtet worden ist, aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Die Beklagte beantragte, die Revision des Klägers zurückzuweisen, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen. Der Kläger begründete seine Revision - nach Verlängerung der Begründungsfrist bis zu diesem Tage - am 16. März 1959, die Beklagte die ihre - ebenfalls nach Verlängerung der Begründungsfrist - am 9. März 1959. Die Beteiligten halten die Auslegung der Vorschriften über die Berufsunfähigkeit durch das LSG für unrichtig. Der Kläger ist außerdem der Meinung, das Berufungsgericht habe den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt und die Grenzen seines Rechts zur freien Beweiswürdigung überschritten.
Beide Revisionen sind zulässig und begründet; die bisherigen Ermittlungen reichen weder zur Abweisung der Klage noch zu einer Verurteilung der Beklagten aus.
Der Antrag des Klägers, ihm als Wanderversicherten der ArV und AnV von November 1954 an eine Gesamtrente zu gewähren, wäre, weil seine Versicherung hinsichtlich der Wartezeit und der Anwartschaft geordnet ist, begründet, wenn er damals berufsunfähig i. S. des § 27 Angestelltenversicherungsgesetz (AnVG) aF und invalide im Sinne des § 1254 RVO aF gewesen wäre (Art. 2 § 5 ArVNG, Art. 2 § 6 AnVNG). Erst wenn dies verneint werden müßte, wäre zu prüfen, ob etwa Berufsunfähigkeit nach neuem Recht (§ 1246 Abs. 2 RVO nF, § 23 Abs. 2 AnVG nF) vorliegt und die Gewährung einer Rente vom 1. Januar 1957 an in Betracht kommt (BSG 8 S. 31, 33).
Die Berufsunfähigkeit und die Invalidität alten Rechts decken sich begrifflich nicht. Auf die Unterschiede kommt es jedoch für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits nicht an, hierfür genügt bereits ein Eingehen auf das, was beiden Begriffen gemeinsam ist. Sie stimmen - wie übrigens auch die Berufsunfähigkeit neuen Rechts - darin überein, daß die Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit, Gebrechen oder Schwäche geringer sein muß als die vergleichbarer Personen und daß vor der Anerkennung von Berufsunfähigkeit oder Invalidität in bestimmten Grenzen Verweisungen auf andere als die ausgeübten Berufe und Tätigkeiten zulässig sind. Bei der Beurteilung müssen in jedem Fall, wie der Wortlaut der gesetzlichen Vorschriften ergibt, die Ausbildung, der bisherige Beruf sowie die Kräfte und Fähigkeiten des Versicherten ermittelt und berücksichtigt werden (BSG 9 S. 206). Vor jeder Verweisung ist auch zu prüfen, ob geeignete, dem freien Wettbewerb zugängliche Arbeitsstellen in ausreichender Zahl vorhanden sind (BSG 8 S. 31). Dabei ist von den Verhältnissen in der Bundesrepublik auszugehen. Deshalb kommt es darauf an, daß es in der Bundesrepublik eine nennenswerte Anzahl entsprechender Arbeitsplätze gibt. Sind hier nur Arbeitsstellen vorhanden, die der Antragsteller wegen seiner durch Krankheit, Gebrechen oder Schwäche herabgesetzten Erwerbsfähigkeit nicht ausfüllen kann, so darf Berufsunfähigkeit oder Invalidität nicht verneint werden. Die abweichende Meinung des LSG wird vom Senat nicht geteilt. Aus der Tatsache, daß der Kläger seine Versicherungspflicht in der AnV erst durch die Tätigkeit als Morseschreiber bei der sowjetzonalen Reichsbahn begründet hat, kann nicht schlechthin gefolgert werden, daß Berufsunfähigkeit erst nach Eintritt einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustandes anerkannt werden dürfe. Die Beschäftigung in der sowjetischen Besatzungszone hat aufgrund der besonderen Regelung in der Fremdrenten-Gesetzgebung des Bundes (§ 4 Fremdrentengesetz aF) die Folge, daß dem Kläger diese Beschäftigungszeiten, die er außerhalb der Bundesrepublik zurückgelegt hat, als bundesdeutsche Versicherungszeiten, und zwar in der AnV angerechnet werden und er deshalb Versicherter auch dieses Versicherungszweigs geworden ist. Die tatsächlichen Verhältnisse, unter denen solche Versicherungszeiten begründet oder fortgesetzt wurden, lassen sich jedoch bei der Prüfung von Verweisungsmöglichkeiten nicht zum Vergleich heranziehen. Auf einen Beruf, für den es in der Bundesrepublik keine Arbeitsplätze gibt, darf nicht verwiesen werden. Die Rechtsauffassung des LSG ist unter den besonderen Gegebenheiten dieses Falles nicht haltbar; sie würde vom Kläger Unmögliches verlangen. Das Berufungsgericht durfte deshalb mit der von ihm gegebenen Begründung allein das Vorliegen von Berufsunfähigkeit nicht verneinen. Es hätte sich vielmehr zu weiteren Sachaufklärungen veranlaßt sehen und von deren Ausgang die Entscheidung über die Berufsunfähigkeit abhängig machen müssen.
Das LSG hat bisher nur festgestellt, daß der Kläger nach abgeschlossener Handwerkslehre zunächst als Facharbeiter und später als Morseschreiber gearbeitet sowie an einem Ausbildungslehrgang für den mittleren Verwaltungsdienst - mit Fahrdienstleiter -, aber ohne Abschlußprüfung - teilgenommen hat; es hat ferner ermittelt, daß die Bundesbahn keine Morseapparate, die von Einhändern bedient werden können, benutzt. Es hat nicht aufgeklärt, welche Kenntnisse und Fähigkeiten der Kläger bei seinem Werdegang erworben hat und welche Berufe und Tätigkeiten es außerhalb des technischen Dienstes der Bundesbahn gibt, in denen er sein berufliches Wissen und können wirtschaftlich verwerten kann. Daß die Schlußprüfung in dem Verwaltungslehrgang fehlt, ist in diesem Zusammenhang ohne Belang; dieser Umstand wäre möglicherweise für eine etwaige Übernahme in das Beamtenverhältnis von Bedeutung, für die Beurteilung von Invalidität und Berufsunfähigkeit kommt es allein auf die tatsächlich vorhandenen Kenntnisse an und solche können durchaus ohne Prüfung erworben sein. Eine etwaige Beherrschung der Kenntnisse und Fähigkeiten, die im mittleren Verwaltungsdienst gefordert werden, dürften den Kläger zur Übernahme zumindest von solchen Büroarbeiten befähigen, die üblicherweise als angelernte bezeichnet werden. Auf sog. angelernte Tätigkeiten mit einer den Lehrberufen gleichen sozialen Wertung muß sich in der Regel auch ein ausgebildeter Facharbeiter verweisen lassen (BSG 11 S 123). Nach dem Stand der bisher durchgeführten Ermittlungen ist es jedoch noch offen, in welchen Berufen und Tätigkeiten dieser Art Einhänder eingesetzt werden können. Festgestellt ist nur, daß der Fernschreibdienst bei der Bundesbahn als Verweisungsberuf ausscheidet. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß Morseapparate noch bei anderen Verkehrs- und Nachrichtenbetrieben (z. B. Bundespost, Schiffahrt, Wetterdienst, Flugsicherungsdienst, Polizei, Nachrichtenagenturen, Zeitungen) verwendet werden. Ferner ist es wahrscheinlich, daß bei der Vielfalt von Arbeitsstellen, die die Bundesbahn bietet, sich auch im nichttechnischen Dienst für den Kläger eine seinem Werdegang angemessene Tätigkeit findet (z. B. im Fahrkarten- oder Auskunftsdienst). Schließlich muß nach der Sachlage dieses Rechtsstreits der Bürodienst in anderen Verwaltungen sowie in kaufmännischen und Industriebetrieben (u. a. in Reisebüros) ebenfalls mit in den Kreis der Überlegungen einbezogen werden. Auskünfte oder gutachtliche Äußerungen der betreffenden Dienststellen (etwa des jeweiligen Personaldezernenten) und des Fachberaters eines großen Arbeitsamts können zur weiteren Klärung beitragen.
Aus alledem folgt, daß die Verurteilung der Beklagten von den bisherigen tatsächlichen Feststellungen nicht getragen wird; es ist durchaus möglich, daß es Tätigkeiten gibt, auf die der Kläger zulässigerweise verwiesen werden kann. Die Revision der Beklagten muß daher Erfolg haben. Ebenso reichen die Feststellungen nicht aus, um die Invalidität des Klägers für die Zeit vor 1957 zu verneinen. Ohne eine Ermittlung der konkreten Verwendungsmöglichkeit kann nicht gesagt werden, daß er befähigt sei, einfache Bürotätigkeiten auszuüben. Der Umstand, daß der Kläger bisher nur eine Stellung als Pförtner gefunden hat, hätte das Gericht veranlassen müssen zu prüfen, warum er zumutbare Tätigkeiten nicht erhalten hat. Die Revision des Klägers ist daher ebenfalls begründet; sie ist es hinsichtlich des Anspruchs aus der AnV auch deshalb, weil die Ablehnung dieses Anspruchs auf einer irrigen Rechtsansicht beruht. Der Rechtsstreit muß daher noch einmal vollen Umfangs vor dem LSG verhandelt werden (§ 170 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz). Dabei wird auch mit über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden sein.
Fundstellen