Leitsatz (redaktionell)
Bei einem blinden Versicherten wird die Grenze zur Invalidität und Berufsunfähigkeit regelmäßig überschritten, wenn zu der Blindheit ein weiteres Leiden hinzutritt, das nicht ganz unbedeutend ist und auch bei einem nicht behinderten Versicherten eine nennenswerte Minderung der Erwerbsfähigkeit hervorzurufen vermag.
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 23 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1254 Fassung: 1949-06-17; AVG § 27 Fassung: 1934-05-17
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 17. Februar 1959 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Beteiligten streiten noch darüber, ob dem Kläger eine Rente aus der Rentenversicherung der Arbeiter (ArV) zu gewähren ist. Der Kläger (geb. 1906) war seit 1933 Laboratoriumsgehilfe bei den Stadtwerken M. Infolge einer Verwundung, die er im August 1941 als Soldat erlitt, erblindete er. Nach einer blindentechnischen Ausbildung im Lazarett arbeitete er seit Juli 1944 als Telefonist bei den Stadtwerken M. Bei Kriegsende verlor er diesen Arbeitsplatz aus politischen Gründen. Von 1946 bis 1948 war er als Gummischneider in einem Privatbetrieb tätig. Im August 1948 wurde er wieder bei den Stadtwerken M eingestellt und dort als Stenotypist mit Vergütung nach TO A IX, später VIII beschäftigt. Seit Ende des Jahres 1948 wurden für ihn Beiträge zur Rentenversicherung der Angestellten (AnV) abgeführt.
Die Invalidenrente, die der Kläger von September 1941 an bezogen hatte, wurde ihm im November 1948 entzogen. Berufung und Revision des Klägers waren ohne Erfolg; das Landesversicherungsamt Württemberg-Baden stellte in seiner Entscheidung vom 13. Dezember 1950 fest, bei der Prüfung der Invalidität des Klägers sei vom Beruf des Stenotypisten auszugehen; der in diesem Beruf erzielte Brutto-Arbeitsverdienst übersteige das für den Kläger maßgebliche Lohndrittel; der Kläger sei nicht mehr invalide im Sinne des § 1254 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF.
Der Kläger beantragte am 9. September 1953 erneut die Gewährung einer Rente mit der Begründung, er sei seit April 1951 zuckerkrank. Die Landesversicherungsanstalt Baden lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 8. Januar 1954). Das Sozialgericht Mannheim wies die Klage ab (Urteil vom 30. Januar 1956). Das Landessozialgericht Baden-Württemberg verurteilte die Beklagte, dem Kläger einen Bescheid über die Gewährung von Rente aus den zur ArV entrichteten Beiträgen für die Zeit vom 1. Oktober 1953 an zu erteilen; im übrigen wies es die Klage ab: Der Kläger sei zwar nicht wegen seiner Zuckerkrankheit, wohl aber wegen seiner Blindheit berufsunfähig; ohne die Schutzbestimmungen des Schwerbeschädigtengesetzes (SchwBG) sei er nicht wettbewerbsfähig, er habe wegen seiner beschränkten Einsatzfähigkeit keine reale Chance, einen gleichartigen Arbeitsplatz auf dem freien, allgemeinen Arbeitsmarkt zu erhalten; er führe zwar die ihm übertragenen Arbeiten zur vollen Zufriedenheit seines Arbeitgebers aus, doch sei er in seiner Leistungsfähigkeit mit einem sehenden Stenotypisten nicht zu vergleichen; trotz Berufsunfähigkeit stünde ihm indes Ruhegeld aus der AnV nicht zu, weil er bei Eintritt in diesen Versicherungszweig bereits blind gewesen sei und niemand Leistungen aus der Versicherung wegen eines Leidens erlangen könne, das bei deren Beginn schon vorhanden gewesen sei. Dagegen habe er für die Zeit seit Antragstellung Anspruch auf Invalidenrente, der Anspruch richte sich gegen die Beklagte, weil zu ihr der letzte Beitrag entrichtet worden sei; dem Anspruch stünde der frühere Entziehungsbescheid nicht entgegen (Urteil vom 17. Februar 1959).
Das Landessozialgericht ließ die Revision zu. Die Beklagte legte gegen das ihr am 23. März 1959 zugestellte Urteil am 13. April 1959 Revision ein mit dem Antrag,
dieses Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.
Sie begründete die Revision (nach Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 23. Juni 1959) am 18. Juni 1959: Gerügt werde die Verletzung der §§ 1254 RVO aF, 1246 RVO nF. Von der Tatsache der Blindheit allein könne noch nicht auf eine Berufsunfähigkeit geschlossen werden; ob diese gegeben sei, müsse in jedem Einzelfall auf Grund der medizinischen Befunde und der tatsächlichen Ermittlungen festgestellt werden; der Kläger arbeite seit zehn Jahren zufriedenstellend und erhalte den vollen Tariflohn, damit beweise er, daß seine Erwerbsfähigkeit nicht auf weniger als die Hälfte derjenigen einer Vergleichsperson herabgesunken sei; auf seine Wettbewerbsfähigkeit komme es nicht an; im übrigen sei der Kläger auf den Beruf des Blindenstenotypisten erfolgreich umgeschult worden, diese Tätigkeit sei ihm auch zuzumuten, aus diesem Grunde aber sei er nicht berufsunfähig.
Der Kläger beantragte,
die Revision zurückzuweisen.
Das Landessozialgericht hat die Revision zugelassen; nach seiner Ansicht handelt es sich um eine grundsätzliche Entscheidung bei der Frage, ob nach dem Inkrafttreten des Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes (SVAG) noch eine Bindung an die Rechtskraft früherer Urteile besteht, durch die das Vorliegen von Invalidität im Sinne von § 1254 RVO in der Fassung vor dem SVAG verneint wurde. Es ist nicht recht verständlich, warum das Landessozialgericht diese Frage aufgeworfen hat. Im Rahmen eines Rentenstreitverfahrens wird über die Invalidität (oder Berufsunfähigkeit) eines Versicherten im allgemeinen nur nach Maßgabe der Verhältnisse bis zu dem Zeitpunkt entschieden, in dem das gerichtliche Urteil ergeht. Der Versicherte kann auch nach einer bindend gewordenen Rentenentziehung die Rente erneut beantragen, ohne daß er eine Änderung der Verhältnisse darzulegen braucht; eine Einschränkung besteht insoweit nur dann, wenn seit der Zustellung der bindend gewordenen Entziehung noch nicht ein Jahr verstrichen ist; in diesem Falle muß er eine glaubhafte Bescheinigung darüber beibringen, daß inzwischen Umstände eingetreten sind, die den Nachweis der Invalidität (oder Berufsunfähigkeit) liefern (§ 1635 RVO, § 204 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -); hiervon abgesehen steht aber eine vorausgegangene Rentenentziehung der sachlichen Nachprüfung des neuen Rentenantrags nicht entgegen (vgl. SozR Aa 1 Nr. 1 zu § 1635 RVO). Das Landessozialgericht war schon aus diesem Grunde durch die Feststellungen im Urteil des Landesversicherungsamts Württemberg-Baden vom 13. Dezember 1950 nicht gehindert, die Invalidität des Klägers auf dessen neuen Rentenantrag vom 9. September 1953 hin erneut zu prüfen. Darauf, ob auch die Änderung des Invaliditätsbegriffs durch das SVAG - mit den für den Kläger wichtigen Auswirkungen des Zweiten Änderungsgesetzes vom 4. August 1953 (BGBl I S. 846) - die neue Prüfung der Invalidität zuließ, kommt es danach nicht an; obwohl hiernach die Annahme des Landessozialgerichts, es sei über eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden, insoweit nicht zutrifft, bestehen gegen die Statthaftigkeit der Revision keine Bedenken, weil das Landessozialgericht die Zulassung der Revision überhaupt nicht zu begründen brauchte (BSG 1 S. 260).
Die hiernach zulässige Revision ist aber im Ergebnis unbegründet.
Da nur die Beklagte das Urteil des Landessozialgerichts angefochten hat, ist allein zu prüfen, ob der Kläger auf Grund des im September 1953 gestellten Rentenantrags eine Leistung aus der ArV beanspruchen kann. Diese Frage ist zunächst nach dem bis zum 31. Dezember 1956 geltenden Recht zu beurteilen. Dies bedeutet, daß der Prüfung des Rentenanspruchs noch der Invaliditätsbegriff des § 1254 RVO in der Fassung des SVAG zugrunde zu legen ist. Nur wenn hiernach ein Rentenanspruch zu verneinen ist, muß geprüft werden, ob vom 1. Januar 1957 an Berufsunfähigkeit nach § 1246 Abs. 2 RVO nF gegeben ist (vgl. SozR Aa 2 Nr. 4 zu § 1293 RVO aF, ferner für das Gebiet der AnV: BSG 8, 31; 9, 208).
Das Landessozialgericht begründet seine Annahme, der Kläger sei mindestens seit der Antragstellung invalide, allein mit der Blindheit des Klägers. Schon wegen dieses Gebrechens sei seine Arbeitsfähigkeit auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichartigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken (§ 1254 RVO aF). Die tatsächlichen Feststellungen, die das Landessozialgericht insoweit getroffen hat, reichen aber nicht aus, um die Annahme einer Invalidität zu rechtfertigen.
Zwar ist das Landessozialgericht bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen der Invalidität gegeben sind, zutreffend von der Tätigkeit des Klägers als Stenotypist ausgegangen. Diese Tätigkeit verrichtet er ununterbrochen seit dem Jahre 1948; die Ausübung dieses Berufs, auf den er nach seiner Kriegsverwundung umgeschult wurde und auf den er sich seither völlig umgestellt hat, kann ihm - gegenüber der früher ausgeübten Laborantentätigkeit - auch zugemutet werden. Jedoch bestehen gegen die weitere Annahme des Landessozialgerichts, der Kläger sei in diesem ihm zumutbaren Beruf allein wegen der Behinderungen durch seine Blindheit nicht "wettbewerbsfähig" und deshalb invalide, Bedenken.
Wie der Senat zu § 27 AVG aF entschieden hat, sind im Gesetz die Ursachen erschöpfend aufgeführt, die zur Einschränkung der Arbeitsfähigkeit und einer sich hieraus ergebenden Berufsunfähigkeit im Sinne des AVG führen können; die Arbeitsunfähigkeit muß auf einer Krankheit, einem Gebrechen oder einer Schwäche der körperlichen oder geistigen Kräfte beruhen. Andere als diese Ursachen, insbesondere solcher wirtschaftlicher Art, kommen nicht in Betracht. Deshalb führen mangelnde "Wettbewerbsfähigkeit" oder Schwierigkeiten bei der Arbeitsvermittlung nicht zur Berufsunfähigkeit (BSG 10, 33). Entsprechendes gilt bei der Prüfung, ob Invalidität nach § 1254 RVO aF gegeben ist. Auch nach dieser Vorschrift ist allein zu prüfen, ob Krankheit, Gebrechen oder Schwächeerscheinungen die Erwerbsfähigkeit des Klägers in dem ihm zumutbaren Beruf um mehr als die Hälfte im Vergleich zu einem gesunden und nicht behinderten Versicherten einschränken. Im Rahmen dieser Prüfung ist allerdings auch zu berücksichtigen, ob Arbeitsplätze, die für den Kläger in Betracht kommen, unabhängig von der jeweiligen Beschäftigungslage in ausreichender Zahl vorhanden sind, ob also für den Kläger eine Möglichkeit der Beschäftigung gleicher Art auch außerhalb des gewohnten Arbeitsplatzes an anderen Arbeitsstellen besteht. Hierüber enthält das angefochtene Urteil keine Feststellungen; es sagt nur, daß der Kläger wegen seiner beschränkten Einsatzfähigkeit und wegen der Notwendigkeit einer dauernden Hilfeleistung keine reale Chance habe, einen gleichartigen Arbeitsplatz zu erhalten. Diese Annahme des Landessozialgerichts ist aber nicht ausreichend begründet.
Wie der Senat schon früher ausgeführt hat (Urteil vom 28. April 1959 - 1 RA 157/57 -), können Blinde annähernd vollwertige Arbeitskräfte sein, wenn sie auf einen geeigneten Arbeitsplatz vermittelt werden und ihnen die Gelegenheit geboten wird, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten in der ihnen möglichen Form einzusetzen und weiterzuentwickeln. Ob dies der Fall ist, muß jeweils geprüft und festgestellt werden; es gibt keinen allgemeinen Erfahrungssatz, wonach Blinde schlechthin invalide (oder berufsunfähig) sind, ebensowenig können sie generell als berufsfähig angesehen werden (so auch Urteil des 3. Senats vom 19. Juni 1959 - 3 RJ 119/56 -). Ob es, wie das Landessozialgericht meint, einer allgemeinen Erfahrung entspricht, daß Blinde nur mit Hilfe der Bestimmungen des SchwBG an geeignete Arbeitsstellen vermittelt werden können, braucht hier nicht entschieden zu werden; soweit das angefochtene Urteil von dieser Annahme ausgeht, trifft sie jedenfalls für die Beschäftigung des Klägers bei seiner derzeitigen Arbeitgeberin nicht zu. Wie das Landessozialgericht an anderer Stelle seines Urteils ausdrücklich festgestellt hat, sind die Bestimmungen des genannten Gesetzes nicht der Grund für die Einstellung des Klägers im Jahre 1948 gewesen. Es braucht daher nicht geprüft zu werden, ob und welche Folgerungen für die Invalidität (Berufsunfähigkeit) daraus gezogen werden können, daß jemand den Schutz des SchwBG genießt oder auf Grund dieses Gesetzes einen Arbeitsplatz erhalten hat.
Das Landessozialgericht hat im angefochtenen Urteil nur die allgemeine Beurteilung des Arbeitgebers wiedergegeben, der Kläger führe die ihm übertragenen Arbeiten ohne Tadel aus. Im einzelnen hat es keine Feststellungen darüber getroffen, welche Kenntnisse und Fähigkeiten der Kläger in seinem bisherigen Berufsleben erworben hat, welche Arbeiten er an seiner derzeitigen Arbeitsstelle verrichtet und welchen Wert diese Arbeiten für den Arbeitgeber haben. Es fehlen im angefochtenen Urteil alle Angaben darüber, ob der Kläger besondere Kenntnisse in den für blinde Stenotypisten bestehenden Hilfen, also etwa in der Blindenschrift, Blindenkurzschrift und Blindenstenographie besitzt und über welches Maß an Gewandtheit er im Bedienen der Schreibmaschine verfügt. Das angefochtene Urteil beschränkt sich im wesentlichen auf die Aufzählung derjenigen Tätigkeiten und Arbeitsvorgänge, die der Kläger als blinder Stenotypist nicht zu verrichten vermag, und zieht hieraus allein Schlüsse auf den Umfang seiner Erwerbsfähigkeit. Danach kann aber nicht zuverlässig geprüft werden, in welchem Verhältnis der Teil der Stenotypistentätigkeit, die der Kläger allein erledigen kann, nach Umfang und Bedeutung zu demjenigen Teil steht, den er wegen seiner Blindheit nicht oder nicht ohne Hilfeleistung anderer Personen leisten kann, insbesondere ob der Kläger in so großem Ausmaß auf fremde Hilfen angewiesen ist, daß seine eigene Tätigkeit demgegenüber praktisch in den Hintergrund tritt und keinen ausreichenden wirtschaftlichen Wert besitzt. Wenn das Landessozialgericht ausführt, der Kläger sei bei der Anordnung des zu schreibenden Textes, bei der Korrektur von Fehlern und bei Veränderungen auf der Maschine auf fremde Hilfe angewiesen, es müsse ihm alles (einschließlich der Anschrift, Betreff, Bezug usw) diktiert werden und er könne auch zu keinen sonstigen Arbeiten herangezogen werden, so handelt es sich dabei um Funktionen, die von blinden Stenotypisten im allgemeinen nicht ausgeübt werden können. Diese Einschränkungen in der Arbeitsleistung müßten, wenn die Auffassung des Landessozialgerichts zuträfe, zur Invalidität und Berufsunfähigkeit nicht nur des Klägers, sondern aller blinden Stenotypisten führen. Dem steht aber schon entgegen, daß der Stenotypistenberuf als Ausbildungsberuf für Blinde gilt und als solcher staatlich anerkannt ist (vgl. "Der blinde Stenotypist", Richtlinien für die Ausbildung, Prüfung und Beschäftigung blinder Stenotypisten, Sonderbeilage zur Berufskunde Nr. 10/1955, herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit) und daß in dieser Eigenschaft heute zahlreiche Blinde bei Behörden und privaten Arbeitgebern erfolgreich tätig sind. Es kann daher nicht allgemein gesagt werden, daß blinde Stenotypisten wegen der sich aus der Blindheit ergebenden Beschränkungen ihrer Verwendungsfähigkeit stets invalide (berufsunfähig) sind. Vielmehr muß dies in jedem einzelnen Fall sorgfältig geprüft werden.
Fehlt es hiernach aber an ausreichenden tatsächlichen Feststellungen, die die Annahme einer allein auf der Blindheit beruhenden Invalidität oder Berufsunfähigkeit des Klägers rechtfertigen, so erweist sich das angefochtene Urteil doch aus anderen Gründen im Ergebnis als richtig. Wenn auch blinde Erwerbstätige nicht schlechthin als invalide oder berufsunfähig angesehen werden können, so liegt ihre Erwerbsfähigkeit infolge des Gebrechens doch regelmäßig nahe an der Grenze zur Invalidität. Dies muß auch beim Kläger angenommen werden, obwohl er schon über zehn Jahre lang seinem Beruf als Blindenstenotypist nachgeht. Die Grenze wird aber regelmäßig überschritten, wenn zu dem Gebrechen der Blindheit - namentlich bei einem sogenannten Späterblindeten - noch ein weiteres Gebrechen oder ein Leiden hinzukommt, das nicht ganz unbedeutend ist und auch bei einem unbehinderten Versicherten eine nennenswerte Minderung der Erwerbsfähigkeit hervorzurufen geeignet ist. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts leidet der Kläger seit 1951 an einem mittelschweren Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit); die ärztlichen Sachverständigen schätzen die allein hierdurch bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit auf etwa 20 v. H. Das Landessozialgericht hat dieser Erkrankung keine Bedeutung für die Frage der Invalidität des Klägers beigemessen, weil die ärztlichen Sachverständigen einen ungünstigen Einfluß der Zuckerkrankheit auf die Berufsarbeit verneint hatten. Es trifft allerdings zu, daß die Zuckerkrankheit als solche durch geeignete Vorkehrungen ausgeglichen werden kann und daß die Blindheit und die Zuckerkrankheit auf die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht in der gleichen Richtung einwirken. Indessen dürfen die beiden Beeinträchtigungen nicht nur für sich betrachtet und beurteilt werden; es ist vielmehr zu berücksichtigen, daß das Hinzutreten der Zuckerkrankheit, die erfahrungsgemäß dauernder Beobachtung, Behandlung und laufender Maßnahmen bedarf und auch auf das Arbeitsvermögen eines nichtbehinderten Versicherten nachteilig einwirkt, für einen Blinden eine weitaus schwerere Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit bedeutet. Wenn ein Blinder, der - wie der Kläger - Späterblindeter ist und in höherem Lebensalter steht, trotz der durch die Erkrankung hinzutretenden Beschwernisse weiterhin seiner Erwerbstätigkeit am bisherigen Arbeitsplatz nachgeht, so kann nach allgemeiner Lebenserfahrung angenommen werden, daß diese Tätigkeit seine Kräfte an sich übersteigt, nur unter außergewöhnlicher Anspannung des Willens überhaupt möglich ist und wesentlich davon abhängt, daß er in schon vertrauter Umgebung arbeiten und auf das Entgegenkommen der Mitarbeiter und das Wohlwollen des Arbeitgebers rechnen kann. Aus der tatsächlichen Beschäftigung des Klägers kann unter diesen Umständen nicht geschlossen werden, daß er in der Lage ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt die für ihn maßgebliche Lohnhälfte zu verdienen. Der Kläger ist demnach, weil außer der Blindheit noch eine mittelschwere Zuckerkrankheit vorliegt, invalide im Sinne von § 1254 RVO aF und berufsunfähig im Sinne von § 1246 Abs. 2 RVO nF. Da dieser Zustand bei ihm schon seit der Antragstellung im September 1953 besteht, ist es auch nicht möglich, einen anderen Zeitpunkt für den Rentenbeginn festzusetzen; das Landessozialgericht hat dem Kläger vielmehr im Ergebnis zu Recht die Rente vom 1. Oktober 1953 an zugesprochen (§ 1286 Abs. 1 RVO aF).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen