Leitsatz (amtlich)
Die erweiterte Bezugsdauer des AVAVG § 87 Abs 2 setzt voraus, daß die Höchstbezugsdauer des AVAVG § 87 Abs 1 Nr 3 erreicht ist.
Normenkette
AVAVG § 87 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1957-04-03, Abs. 2 Fassung: 1957-04-03
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29. März 1960 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Kläger meldete sich am 1. Februar 1958 arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld (Alg). Er war in den letzten drei Jahren vor seiner Arbeitslosmeldung vom 1. Februar 1955 bis 31. Januar 1956 und vom 1. März 1957 bis zum 30. September bzw. 31. Oktober 1957 versicherungs- und beitragspflichtig beschäftigt; in der Zwischenzeit war seine Beschäftigung versicherungsfrei. Das Arbeitsamt (ArbA) gewährte ihm durch Bescheid vom 18. Februar 1958 Alg für 78 Tage. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger Widerspruch, mit dem er Alg für weitere 78 Tage begehrte. Das ArbA wies den Widerspruch durch Bescheid vom 11. März 1958 zurück, weil eine Verlängerung der Bezugsdauer nach § 87 Abs. 2 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) nur möglich sei, wenn der Arbeitslose innerhalb der Rahmenfrist mindestens 52 Wochen in versicherungspflichtiger Beschäftigung gestanden und damit die Höchstbezugsdauer des § 87 Abs. 2 Nr. 3 AVAVG erreicht habe.
Auf die Klage hin verurteilte das Sozialgericht (SG) die Beklagte, dem Kläger einen neuen Bescheid über die Gewährung von Alg für die Dauer von insgesamt 156 Wochentagen zu erteilen; es ließ die Berufung zu (Urteil vom 25. September 1958). Auf die Berufung der Beklagten wies das Landessozialgericht (LSG) die Klage ab (Urteil vom 29. März 1960). Zur Begründung führte es aus, der Kläger habe innerhalb der zweijährigen Rahmenfrist vor der Arbeitslosmeldung keine versicherungspflichtige, anwartschaftsbegründende Beschäftigung von mindestens 52 Wochen nachweisen können. Daher dürfe eine Erhöhung der Bezugsdauer nach § 87 Abs. 2 AVAVG nicht stattfinden, auch wenn der Kläger in den letzten drei Jahren vor seiner Arbeitslosmeldung außer der für den Erwerb der Bezugsdauer von 13 Wochen erforderlichen 26-wöchigen versicherungspflichtigen Beschäftigung noch mehr als 52 Wochen versicherungs- und beitragspflichtig beschäftigt gewesen sei. Denn eine Erhöhung der Bezugsdauer nach § 87 Abs. 2 AVAVG setze voraus, daß der Versicherte gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 3 AVAVG einen Anspruch auf Alg für die Dauer von 26 Wochen erworben habe, da § 87 Abs. 2 AVAVG in seiner Wortfassung ausschließlich an Abs. 1 Nr. 3 anknüpfe und nicht auch an Abs. 1 Nr. 1 und 2. Das LSG ließ die Revision zu.
Gegen das am 18. Mai 1960 zugestellte Urteil legte der Kläger am 1. Juni 1960 Revision ein und begründete sie am 29. Juni 1960.
Er trägt vor, die Wortinterpretation des § 87 AVAVG lasse keinen eindeutigen Schluß darüber zu, wie das Verhältnis der Absätze 2 und 1 zueinander sei. Deshalb hätte das LSG den Willen des Gesetzgebers erforschen müssen. Auch wenn dieser fünf Stufen für die Anspruchsdauer habe festlegen wollen, so beziehe sich dies nur auf den Aufbau innerhalb der einzelnen Normen. Es könne aber bei Verbindung einzelner Stufen zu Zwischenstufen kommen. Das LSG habe daher seine Entscheidung am Wert des Ergebnisses ausrichten und eine soziale und wirtschaftlich befriedigende Lösung anstreben müssen. Da § 87 AVAVG langjährigen Beitragszahlern eine längere Bezugsdauer des Alg zubilligen wolle, müsse dies auch dann gelten, wenn nicht die Höchstbezugsdauer des Abs. 1 erreicht sei.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 29. März 1960 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Münster vom 25. September 1958 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II.
Die durch die Zulassung statthafte, auch form- und fristgerecht eingelegte Revision ist nicht begründet.
Nach § 87 Abs. 1 AVAVG besteht Anspruch auf Alg nach einer versicherungspflichtigen Beschäftigung innerhalb der Rahmenfrist des § 85 von insgesamt mindestens 26 Wochen für 78 Tage, von insgesamt mindestens 39 Wochen für 120 Tage und von insgesamt mindestens 52 Wochen für 156 Tage. Da der Kläger innerhalb der Rahmenfrist (1. Februar 1956 bis 31. Januar 1958) zwar mehr als 26 Wochen, aber weniger als 39 Wochen in versicherungspflichtiger Beschäftigung gestanden hat, steht ihm nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 AVAVG Alg nur für 78 Tage zu; hierüber sind sich die Beteiligten einig. Ihr Streit geht darum, ob der Kläger nach § 87 Abs. 2 AVAVG noch für weitere 78 Tage Alg beanspruchen kann. Nach dieser Vorschrift besteht für "je weitere 52 Wochen versicherungs- und beitragspflichtiger Beschäftigung im Geltungsbereich des Gesetzes innerhalb der letzten drei Jahre vor der Arbeitslosmeldung ein Anspruch für je weitere 78 Tage". Es ist darüber zu entscheiden, ob eine Verlängerung der Bezugsdauer nach Abs. 2 schon dann eintritt, wenn die Anspruchsdauer nach Abs. 1 Nr. 1 erreicht ist, wie der Kläger meint, oder ob Abs. 2 voraussetzt, daß bereits die Höchstdauer des Abs. 1 Nr. 3 erfüllt ist, wie die Beklagte annimmt. Diese Streitfrage wird fast übereinstimmend dahin beantwortet, daß Abs. 2 nur dann angewendet werden darf, wenn der Arbeitslose eine Anspruchsdauer von 26 Wochen nach Abs. 1 Nr. 3 nachgewiesen hat (Urteil des LSG Niedersachsen vom 3. November 1959 - Dienstblatt C der Bundesanstalt Nr. 540 zu § 87; Brodhun/Strippel, AVAVG § 87 Anm. 1; Schieckel, AVAVG § 87 Anm. 1; Grünewald, "Arbeit, Beruf und Arbeitslosenhilfe", 1957, 139; Bedenken hiergegen: Schroeter, "Arbeit, Beruf und Arbeitslosenhilfe", 1957, 137).
Der Senat ist der Auffassung, daß nach dem Aufbau des § 87 AVAVG, seiner Entstehungsgeschichte und dem Willen des Gesetzgebers nur diese Auslegung zutrifft. § 87 Abs. 2 AVAVG gibt keinen selbständigen Anspruch auf Alg, sondern setzt einen nach Abs. 1 erfüllten Anspruch voraus. § 87 AVAVG kennt zwei Rahmenfristen, nämlich die des Abs. 1 (versicherungspflichtige Beschäftigung innerhalb von zwei Jahren vor der Arbeitslosmeldung) und die des Abs. 2 (versicherungs- und beitragspflichtige Beschäftigung im Geltungsbereich des Gesetzes innerhalb der letzten drei Jahre vor der Arbeitslosmeldung). Die eine Rahmenfrist knüpft an die andere in der Form an, daß sich die des Abs. 2 an die des Abs. 1 Nr. 3 anschließt und nicht etwa schon an Nr. 1 oder Nr. 2 des Abs. 1. Dies hat der Senat bereits zu § 99 Abs. 1 AVAVG aF (BSG 8, 88, 91) ausgesprochen. Hier hat er ausgeführt, die Unterstützungsdauer von 13 Wochen des § 99 Abs. 1 Satz 1 AVAVG aF erhöhe sich bei Arbeitslosen, die während der Rahmenfrist des § 95 aF mindestens 39 bis 52 Wochen versicherungspflichtig beschäftigt gewesen seien, gestaffelt auf insgesamt 26 Wochen. Die Ausnahmevorschrift des § 99 Abs. 1 Satz 3 aF erweitere die Unterstützungsdauer über 26 Wochen hinaus, gestaffelt bis auf höchstens 52 Wochen, unter bestimmten positiven und negativen Voraussetzungen. In diesem Zustand ist keine Änderung eingetreten, auch wenn § 87 nF nicht mehr eine ununterbrochene versicherungspflichtige Beschäftigung wie § 99 aF verlangt. Aus der Bundestagsdrucksache Nr. 1274 des Deutschen Bundestages (2. Wahlperiode 1953) ergibt sich vielmehr, daß man nur von dem Erfordernis der ununterbrochenen versicherungspflichtigen Beschäftigung abgehen, aber im übrigen die bisherige Regelung beibehalten wollte. Die Bundestagsdrucksache Nr. 2714 läßt erkennen, daß man die in der Bundestagsdrucksache Nr. 1274 geplante Regelung als Gesetz übernehmen, jedoch nur im Interesse einer Verwaltungsvereinfachung die vorgesehene Zahl der Stufen der Leistungsdauer von sieben auf fünf vermindern wollte. Es muß deshalb auch für § 87 nF als Ergebnis festgehalten werden, daß die erweiterte Bezugsdauer des Abs. 2 nur zum Zuge kommen kann, wenn die Höchstbezugsdauer des Abs. 1 Nr. 3 erreicht ist.
Hierfür sprechen auch folgende Erwägungen: In Abs. 2 sind genau wie in Abs. 1 "52 Wochen" genannt. Der Abs. 2 knüpft also an die 52 Wochen des Abs. 1 Nr. 3 unmittelbar an, so daß die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sein müssen, damit der Arbeitslose in den Genuß der erweiterten Bezugsdauer kommen kann. Aufbau, Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Vorschrift zeigen mithin, daß das AVAVG nur solchen Bezugsberechtigten die Vergünstigungen des Abs. 2 gewähren will, die die Unterstützungsdauer des Abs. 1 Nr. 3 erlangt haben.
Eine andere Auslegung würde die zweijährige Rahmenfrist der §§ 87 Abs. 1, 85 AVAVG entwerten und praktisch eine Rahmenfrist von drei Jahren schaffen. Auch würde diese Auslegung zu widerspruchsvollen Ergebnissen führen: Ein Arbeitsloser, der die Beschäftigungszeit des Abs. 1 Nr. 1 oder 2 und nicht die des Abs. 1 Nr. 3 erfüllt hätte, wohl aber die des Abs. 2, hätte eine längere Bezugsdauer für Alg als ein Arbeitsloser, der die Höchstbezugsdauer des Abs. 1 erreicht, aber Abs. 2 nicht mehr erfüllt hätte. Eine versicherungspflichtige Beschäftigung von 103 Wochen, davon 52 Wochen in der Rahmenfrist des Abs. 1, ergibt eine Bezugsdauer von 156 Tagen, weil die restlichen 51 Wochen innerhalb der Frist des Abs. 2 nicht für eine Erweiterung ausreichen. Dagegen würde ein Arbeitsloser mit einer Beschäftigungszeit von 91 Wochen, davon 39 Wochen im Rahmen des Abs. 1 und 52 Wochen im Rahmen des Abs. 2, insgesamt für 198 Tage Alg erhalten, also mehr als der Arbeitslose im erstgenannten Beispiel, obwohl er eine geringere versicherungspflichtige Zeit zurückgelegt hat. Dies kann aber nicht der Wille des Gesetzgebers gewesen sein.
Schließlich ergibt sich auch aus der Amtlichen Begründung (vgl. die Bundestagsdrucksachen Nr. 1274 und 2714), daß der Gesetzgeber insgesamt nur fünf Stufen der Bezugsdauer einführen wollte, während bei einer anderweitigen Anwendung des § 87 Zwischenstufen entstünden, die offenbar nicht vorgesehen sind.
Das LSG hat daher dem Kläger mit Recht nur eine Anspruchsdauer von 78 Tagen zugebilligt.
Die Revision war deshalb zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen