Entscheidungsstichwort (Thema)

Anwendung neuen oder alten Rechts

 

Leitsatz (amtlich)

Versicherungspflichtige Beschäftigungen vor dem 1957-04-01, für die die Arbeitnehmeranteile des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung nicht erhoben wurden, sowie versicherungsfreie Beschäftigungen nach dem 1957-03-31 dienen nicht zur Erfüllung der Anwartschaft, bewirken keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung oder Arbeitslosengeld und sind auch nicht verwertbar, um einen Anspruch auf erhöhte Unterstützungsdauer zu begründen.

 

Leitsatz (redaktionell)

Hat ein Tatbestand bereits vollständig vor dem Inkrafttreten einer Neuregelung vorgelegen, so sind die aus ihm erwachsenen Ansprüche nach dem alten Recht zu beurteilen. Diese Grundsätze galten uneingeschränkt jedenfalls dann, wenn der Gesetzgeber keine abweichenden Bestimmungen vorgesehen hat. Dem Inhalt des AVAVGÄndG 1956-12 Art 9 § 20 Abs 1 vom 1956-12-23 (BGBl I 1956, 1018) nach wird die Geltungsdauer von Vorschriften des alten Rechts über den 1957-04-01 hinaus erstreckt; die rückwirkende Anwendung des neuen Rechts wird jedoch nicht angeordnet.

 

Normenkette

AVAVG § 57 Fassung: 1957-04-03, § 74 Fassung: 1957-04-03, § 85 Fassung: 1957-04-03, § 87 Fassung: 1957-04-03, §§ 96, 99 Fassung: 1956-12-23; AVAVGÄndG Art. 9 § 20 Abs. 1 Fassung: 1956-12

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 3. November 1959 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I. Der am 31. März 1891 geborene Kläger bezieht seit dem 1. April 1956 Invalidenrente aus der Arbeiterrentenversicherung. Zuletzt war er vom 15. August 1947 bis zum 31. August 1957 als Arbeiter in der Gummi-Industrie zu den üblichen Arbeits- und Lohnbedingungen beschäftigt. Auf seinen Antrag vom 2. September 1957 bewilligte die Beklagte dem Kläger Arbeitslosengeld (Alg) für 78 Tage, das ihm vom 4. September bis Anfang Dezember 1957 laufend gezahlt wurde. Das schriftliche Begehren des Klägers vom 6. Dezember 1957, ihm weiterhin bis zum 156. Unterstützungstage Alg zu gewähren und darüber einen "entscheidungsfähigen Bescheid" zu erteilen, beantwortete die Beklagte mit Bescheid vom 18. Dezember 1957 dahin, daß er nur Anspruch auf Alg für 78 Tage erworben habe. Seit 1. April 1956 sei er als Rentner "versicherungsfrei zur Arbeitslosenversicherung" gewesen; innerhalb der Rahmenfrist von zwei Jahren habe er nur 30,3 Wochen versicherungspflichtiger Beschäftigung nachgewiesen. Der Widerspruch des Klägers hiergegen blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 10. Februar 1958).

Auf seine Klage hin hob das Sozialgericht (SG) durch Urteil vom 22. Mai 1958 die Bescheide der Beklagten vom 18. Dezember 1957 und 10. Februar 1958 auf und verurteilte sie, dem Kläger vom 4. Dezember 1957 ab für weitere 13 Wochen Alg zu zahlen. Dieser sei innerhalb der Rahmenfrist vom 2. September 1955 bis zum 31. März 1957 versicherungspflichtig beschäftigt gewesen, wenngleich er als Rentner keine Arbeitnehmeranteile zur Arbeitslosenversicherung entrichtete. Somit habe der Kläger einen Anspruch auf Alg für 26 Wochen erworben. Berufung wurde zugelassen.

II. Der Berufung der Beklagten gab das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 3. November 1959 statt; das Urteil des SG wurde aufgehoben und die Klage abgewiesen. Dem Kläger stehe ein Anspruch auf Alg über 78 Tage hinaus nicht zu. Da er bereits vor dem 1. April 1957 das 65. Lebensjahr vollendet habe und alsdann versicherungsfrei gewesen sei, könne sein Anspruch allenfalls auf eine vor diesem Zeitpunkt erfüllte Anwartschaft gestützt werden. Anwartschaftsbegründend sei innerhalb der Rahmenfrist aber nur die Beschäftigungszeit vom 2. September 1955 bis zum 31. März 1956, die jedoch nur 30 Wochen und 2 Tage umfasse und daher lediglich einen Anspruch auf 78 Tage Alg bewirke. Zwar sei der Kläger auch über den 31. März 1956 hinaus versicherungspflichtig beschäftigt gewesen; seit der Rentenbewilligung (1. April 1956) habe er aber nach der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 20 keine Arbeitnehmeranteile zur Arbeitslosenversicherung mehr entrichten müssen. Nach § 96 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) aF könne die Beschäftigung seit dem 1. April 1956 daher nicht mehr dem Erwerb einer Anwartschaft dienen. Revision wurde zugelassen.

Der Kläger legte gegen das am 19. November 1959 zugestellte Urteil des LSG Revision ein und begründete sie am 10. Dezember 1959. Der Zeitraum vom 1. April bis zum 31. März 1957 müsse für die Bemessung der Alu-Bezugsdauer berücksichtigt werden. Damals habe der Kläger in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden. Zwar habe diese Zeit wegen der Befreiung von den Arbeitnehmerbeiträgen nicht zum Erwerb der Anwartschaft dienen können, indessen doch zur Herbeiführung einer längeren Alu-Bezugsdauer, da die Anwartschaft bereits anderweit vor Rentenbeginn erfüllt gewesen sei. Dem Anspruch auf die erweiterte Bezugsdauer nach § 99 AVAVG aF stehe die allein die Anwartschaft betreffende Vorschrift des § 96 AVAVG aF nicht entgegen.

Der Kläger beantragte,

unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts vom 22. Mai 1958 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragte,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Unter Hinweis auf die ihrer Meinung nach zutreffenden Entscheidungsgründe im Urteil des LSG vertritt sie die Auffassung, daß § 96 AVAVG aF sich nicht allein auf die Anwartschaft, sondern ebenfalls auf die verlängerte Bezugsdauer beziehe, weil dessen entsprechende Geltung durch § 99 Abs. 1 Satz 4 aaO hierfür vorgeschrieben sei. Vor dem 1. April 1957 ausgeübte Beschäftigungen, für die Arbeitnehmeranteile des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung nicht erhoben wurden, könnten deswegen auch bei Arbeitslosmeldung nach dem 31. März 1957 weder zum Erwerb einer Anwartschaft noch zur Verlängerung der Bezugsdauer dienen.

III. Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie ist auch in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt sowie begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und demgemäß zulässig.

Die Zulässigkeit der Berufung, die das Bundessozialgericht (BSG) auch bei einer zugelassenen Revision von Amts wegen zu prüfen hat (vgl. BSG 2, 226; 9, 248), war vom LSG zutreffend bejaht worden; das SG hatte dieses Rechtsmittel ausdrücklich zugelassen (§ 150 Nr. 1 SGG).

Die Revision ist jedoch nicht begründet.

Da sich der Kläger am 2. September 1957 arbeitslos gemeldet hat, ist sein Anspruch auf Alg nach der seit dem 1. April 1957 geltenden Fassung des AVAVG vom 23. Dezember 1956 (BGBl I 1018) zu beurteilen (vgl. BSG 9, 240 ff; 12, 96 ff; SozR AVAVG § 85 Bl. Ba 2 Nr. 2). Nach § 74 AVAVG nF hat Anspruch auf Alg, wer - neben anderen, hier nicht streitigen, gesetzlichen Bedingungen - die Anwartschaftszeit erfüllt hat. Diese hat erfüllt, wer in der dem Tag der Arbeitslosmeldung, an dem die sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind, unmittelbar vorausgehenden zweijährigen Rahmenfrist 26 Wochen oder 6 Monate in versicherungspflichtiger Beschäftigung gestanden hat (§ 85 AVAVG nF). Im Fall des Klägers läuft die Rahmenfrist vom 2. September 1995 bis zum 1. September 1957; sie fällt also teilweise unter die Geltungsdauer des neuen, teilweise unter die des alten Rechts.

Da der Kläger bei Inkrafttreten des AVAVG nF das 65. Lebensjahr bereits vollendet hatte, überdies seit dem l. April 1956 Invalidenrente aus der Rentenversicherung der Arbeiter bezieht, war seine Beschäftigung vom 1. April 1957 an bis zur Arbeitslosmeldung (2. September 1957) versicherungsfrei nach § 57 AVAVG nF. Jener Beschäftigungsabschnitt konnte deshalb, weil nicht versicherungspflichtig, die Anwartschaftszeit nicht erfüllen (§ 85 Abs. 1 Satz 1 aaO). Dies hat das LSG zutreffend ausgeführt. Ergänzend ist darauf zu verweisen, daß § 87 AVAVG nF auch die Dauer (Staffelung) der Ansprüche auf Alg von Zeiten versicherungspflichtiger Beschäftigung abhängig macht.

IV. Ob der Kläger auf Grund seiner vor dem 1. April 1957 liegenden Arbeitnehmertätigkeiten eine Anwartschaft erworben hat, ist nach den zu jener Zeit geltenden Vorschriften zu prüfen. Neues Recht ergreift regelmäßig nur diejenigen Ansprüche, die auf Tatbeständen beruhen, welche nach seinem Inkrafttreten geschaffen wurden. Hat dagegen ein Tatbestand bereits vollständig vor dem Inkrafttreten einer Neuregelung vorgelegen, so sind die aus ihr erwachsenden Ansprüche nach dem alten Recht zu beurteilen. Diese Grundsätze gelten uneingeschränkt jedenfalls dann, wenn der Gesetzgeber keine abweichenden Bestimmungen (Übergangsregelung o.ä.) vorgesehen hat (vgl. BSG 7, 282 ff).

In Art. IX - Übergangsvorschriften - § 20 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des AVAVG vom 23. Dezember 1956 (BGBl I 1018) sind Normen für den Fall enthalten, daß "ein Anspruch auf Arbeitslosengeld auf einer vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes erfüllten Anwartschaftszeit beruht". Dem Inhalt des § 20 Abs. 1 aaO nach wird die Geltungsdauer von Vorschriften des alten Rechts über den 1. April 1957 hinaus erstreckt; die rückwirkende Anwendung des neuen Rechts wird jedoch nicht angeordnet. Mithin ist die Entscheidung darüber, ob aus einer vor dem 1. April 1957 ausgeübten Beschäftigung eine Anwartschaft entstanden ist, nach dem AVAVG aF zu treffen (vgl. BSG 12, 96 ff).

Die Beschäftigungen des Klägers in der Rahmenfrist - bis zum 31. März 1957 - waren versicherungspflichtig. Er war seit dem 2. September 1955 auch mehr als 26 Wochen in dieser Weise beschäftigt. Nach Maßgabe des § 95 AVAVG aF hatte er infolgedessen die Anwartschaft erfüllt. Deswegen hat die Beklagte ihm auch Alg für 78 Tage bewilligt und ausgezahlt. Jedoch war durch § 96 AVAVG aF weiterhin bestimmt, daß - abgesehen von den Versicherten der knappschaftlichen Rentenversicherung - versicherungspflichtige Beschäftigungen, für die Arbeitnehmeranteile des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung nicht erhoben wurden, nicht zum Erwerb der Anwartschaft dienen. Der Kläger hatte wegen des Bezugs von Invalidenrente aus der Arbeiterrentenversicherung gemäß Nr. 2 der SVD Nr. 20 (ArbBl für die Brit. Zone 1957, 19), die von dem Ersten Gesetz zur Aufhebung des Besatzungsrechts vom 30. Mai 1956 (BGBl I 437) unberührt geblieben war, die auf ihn entfallenden Beitragsanteile zur Arbeitslosenversicherung vom 1. April 1956 an nicht mehr zu entrichten. Deswegen konnten auch seine Beschäftigungen in der Zeit vom 1. April 1956 bis zum 31. März 1957 eine Anwartschaft nicht bewirken. § 96 AVAVG aF wurde nicht, wie der Kläger offenbar meint (Revisionsbegründungsschrift vom 9. Dezember 1959), "mit dem Inkrafttreten des neuen AVAVG aufgehoben". Wenn durch Art. IX § 20 des Änderungsgesetzes vom 23. Dezember 1956 auf die Anwartschaftserfüllung nach altem Recht ausdrücklich Bezug genommen wird, dann gelten - wie vorstehend ausgeführt - für diese Anwartschaft eben die Voraussetzungen und Bedingungen des alten Rechts.

Die für die Anwartschaft gesetzlich festgelegte Regelung ist auch für die Unterstützungsdauer anzuwenden; denn § 99 Abs. 1 Satz 4 AVAVG aF bestimmt ausdrücklich, daß § 96 aaO entsprechend gilt. Dies bedeutet, daß im Falle des Klägers - nach Erfüllung der Anwartschaft auf 78 Unterstützungstage - für einen darüber hinausgehenden Leistungsanspruch (erhöhte oder erweiterte Bezugsdauer) eine versicherungs- und beitragspflichtige Beschäftigung entsprechenden Ausmaßes vom Gesetz gefordert wird. Nur für die Zeitdauer vom 2. September 1955 bis zum 31. März 1956, also für 30 Wochen und 2 Tage, vermag der Kläger indessen versicherungs- und beitragspflichtige Beschäftigungen nachzuweisen. Demzufolge steht ihm ein über 78 Tage hinausgehender Alg-Anspruch nicht zu.

Nach alledem hat das LSG zu Recht das sozialgerichtliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen; seine Entscheidung war zu bestätigen.

Die Revision muß daher zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2304688

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